II – Spitzbergen 1981 – 1.Lager und Flussüberquerung

Mein erster Schlafplatz auf Spitzbergen -- Bild: Wolfgang Siebert (C)

3.7. Erstes Lager auf Spitzbergen (2.Teil)

Bei der Ankunft am Flughafen muss ein Formular ausgefüllt werden: es werden Fragen nach der geplanten Route auf Spitzbergen, dem Leiter, dem Arzt der Expedition, sowie der Anschrift der in einem Notfall zu benachrichtigenden Angehörigen gestellt. Weitere Fragen betreffen die Ausrüstung und Sicherheitsvorkehrungen. Da ich eine Ein-Mann-Expedition darstelle, lasse ich die meisten Fragen offen. – Am meisten Beachtung findet die Tatsache, dass ich kein Gewehr dabei habe: „No gun?“

Man lässt mich jedoch anstandslos passieren, insbesondere wohl deshalb, weil ich in der näheren Umgebung (bis 50 km) zu bleiben gedenke (Adventdalen, evtl. Sassendalen).

Zunächst stehe ich mit einigen anderen Ankömmlingen vor dem Flughafengebäude (eine eingerichtete Flugzeughalle) wie bestellt und nicht abgeholt. Was nun? Da kommt der Bus aus der ca. 5 km entfernten Siedlung. Er ist kostenlos. Bald fahren wir los Richtung Siedlung Longyearbyen.

– Hier sieht alles wenig einladend aus: alles steht verstreut herum: hier ein paar Reihenhäuser, da ein Esso-Tank, dort die Kirche, drüben ein paar Hallen und überall rostiges Gerät. Die Straße ist eine Piste, die das großflächige Gebiet „Longyearbyen“ kreuz und quer durchzieht. Immer mehr Leute steigen aus. Wo soll ich aussteigen? Ich könnte ja auf der Karte nachschauen. Aber ich bin müde; es ist mir zu umständlich, sie herauszuholen oder jemanden zu fragen. Außerdem käme mir das zu ‚touristisch‘ vor. Als der Bus im Begriffe ist, die Richtung zu ändern, und ich mich darum am äußeren Ende, auf den Weg zum Adventdalen wähne, steige ich aus und steige weiter bergauf – noch auf einem Weg. Nach ein paar Schritten gelange ich an einen Graben: ein Bach hat den Weg weggeschwemmt. Gut, dass ich Stiefel anhabe… Doch dann mache ich sogleich mit dem lockeren Eisschlamm Bekanntschaft: hier hat man nicht überall festen Boden unter den Füßen… Das Gepäck ist viel zu schwer. Der Affe ist für solche Lasten auch nicht ausgelegt. Ich setze ab, um mich zunächst einmal auf der Karte zu orientieren. Da kommt plötzlich ein Mann daher und ich finde heraus, dass ich nicht das Adventdalen entlang gehe, sondern mich in einem kleinen Seitental befinde.

Ohje! – Eigentlich hätte ich das sofort sehen müssen! „Ok, tak“ – Jetzt muss ich den ganzen Weg wieder zurück. Wenn ich nur nicht so müde wäre! Aber das Zelt darf ich hier nicht aufschlagen. Das ist in einem Umkreis von 10 km um Longyearbyen herum verboten. Vielleicht treffe ich ja ein Auto, oder das Taxi, das hier zu existieren scheint…

Als ich den Affen schultere, reißt obendrein noch einer der Tragriemen! Langsam will mich eine leichte Panik ergreifen: Bin ich denn hirnverbrannt, mit so morschem Zeug hierher zu kommen? Ein Wunder, dass die mich nicht sofort wieder zurückgeschickt haben!…

– Aber was hilft’s: es gibt immer einen Weg und mit einem Stückchen Zeltschnur und einigen Handgriffen gelingt eine ganz ordentliche Reparatur; „Nr 1“ also geschafft. „Nr 2“ heißt: „Zurück gehen!“.

Blick die Straße zurück, Richtung Longyearbyen.

Alles ist weit hier. Schnurgerade verläuft die kilometerlange Straße vor meinen Augen. Das Gepäck drückt… – Da kommt das Taxi mir entgegen! Aber der Fahrer will mich nicht weiter ins Tal hinein bringen. Warum ist mir mittlerweile ganz egal. Schließlich bin ich ja nicht zum Taxifahren hergekommen… Also latschen! Diesen Kerl werde ich nie an einer Fahrt verdienen lassen! – Das Flugzeug nach Tromsö erhebt sich weiter unten in die Luft…

Immer wieder führen Abzweigungen rechts ab zu den Kohlebergwerken. Es ist doch taghell, warum ist nicht eine einziges von ihnen in Betrieb, warum stehen die Förderbänder alle still? Geht es den Norwegern am Ende nur um die Präsenz gegenüber Russland?

Ich gehe an einem noch fast zugefrorenen Süßwassersee entlang, einem „Drinkvatenreservat“. Das Eis darauf knirscht und taut. Kleine Eisstücke lösen sich und werden vom Wind fort getrieben. Ein Miniaturmodell des Packeises, das fast jedes Jahr die Nordküste Spitzbergens umklammert…

Nach ein paar Kilometern höre ich Motorengeräusch: ein Auto von hinten. Ich beschließe, mich nicht umzudrehen. Der Wagen hält trotzdem. Es ist ein klappriger VW-Transporter mit drei jungen Leuten, einem Norweger, einem Schweden und einem Engländer, sowie einem Hund der aussieht wie ein Eisbär, auf der kleinen Ladefläche. Die Leute nehmen mich mit und fahren bis ans Ende der Straße zu einem kleinen Camp, einer Rentierstation, von der aus sie Streifzüge in die Umgebung machen und Tiere beobachten und registrieren. Sie sind Studenten und nehmen an einem Arbeitsprogramm teil, das ihnen mehr Erlebnis als Geld einbringt.-

Die Rentierstation, im Vordergrund ein Gerät zur Messung der Windgeschwindigkeit, dahinter ein Schneescooter.

Die drei verabschieden mich mit freundlichen Worten: „Hier beginnt die Wildnis, wir sind der letzte Vorposten! Du musst immer in diese Richtung gehen, dann wirst du das Sassendalen erreichen. Vielleicht wird es schwierig für dich sein, die Flüsse zu überqueren. Aber es wird gehen. Dein Zelt kannst du hier überall aufstellen.“

– Gegen die tiefstehende Sonne sehe ich eigentlich nur Wasser vor mir: ein Sumpfgebiet, Wasser und Grasbüschel. Ich will noch fragen, wo genau man denn hier am besten entlang geht. Aber ich halte die Frage zurück: lächerlich! Hier ist eben die Wildnis; es gibt keine Pfade mehr. Ich gehe ein paar Schritte vorwärts. Der Boden ist mit Moos und niedrigem Gras bedeckt. Das Wasser steht nur einige Zentimeter hoch; unter der Oberfläche ist der Boden gefroren.

– Beim ersten Schritt in diese wasserbedeckte Ungewissheit hinein überkommt mich ein unbeschreibliches Glücksgefühl: die Wildnis! Alle Beklemmungen fallen von mir ab. Termine und Kontrollen der Anreise haben jetzt alle Bedeutung verloren. Jetzt zählt nur immer der nächste Schritt. Ich laufe noch etwa zwei Kilometer. Eigentlich will ich noch auf die andere Seite des Tales. Aber es will mir nicht gelingen, eine geeignete Stelle für die Überquerung der vielfach zerteilten Flussläufe zu finden. Es soll genug sein für heute! Um 6.30 Uhr baue ich das Zelt auf.

– Ende der Niederschrift: 3.7. 18.15 Uhr. Werde nun etwas essen und das Zelt abbauen. –

4.7. (Samstag)

Habe soeben Grünkernsuppe mit Speck gegessen. Man muss schnell essen, sonst wird alles sofort wieder kalt. Nun liege ich wieder dick vermummt im Schlafsack. Die Beine sind kalt. Aber beginnen wir von vorne:

Lange dauerte es gestern, bis das Zelt abgebaut war. Bin um ca. 23 Uhr weiter gegangen:

Der Himmel ist bewölkt. Es gilt nun, die Wasserläufe zu durchqueren… Hier wären Hüftstiefel genau das Richtige. Bis zur Mitte des Tales komme ich noch trockenen Fußes. Dann läuft Wasser in einen Stiefel: Wie wird das jemals trocknen? Schnell den Stiefel ausgezogen! – So ernst nimmt man das nur beim ersten Mal. Die Wasserläufe werden breiter und tiefer. Nun, wo die Füße schon einmal nass sind, nehme ich keine Rücksicht mehr. – Es hilft, wenn man sich ein wenig auskennt mit der Theorie vom Strömungsverlauf in Flüssen, denn bei dem schlammigen Schmelzwasser ist der Grund nirgends zu sehen. Doch was hilft es, wenn man sich nur ausrechnen kann, wo Wasser am tiefsten, wo es am flachsten ist, wenn man doch nicht ahnt, wie tief es wirklich ist…

Inzwischen ist fast alles egal; mitten zwischen den vielen Flussarmen gibt es kein Umkehren mehr: das Ziel ist die andere Seite des Adventdalen!

Als ich schließlich auf der anderen Talseite angekommen bin, setze ich mich hin und strecke die Beine in die Luft: das Wasser läuft nur so aus den Stiefeln. – Na jedenfalls sind sie wohl dicht…

Nun nichts als laufen, damit die Füße wieder warm werden. Ich beschließe, noch ein gehöriges Stück zu gehen, dann aber einen Lagerplatz zu suchen, der mir für längere Zeit dienen kann.

– Es zeigt sich, dass es schwer ist, irgendwo ein windgeschütztes, nicht sumpfiges Plätzchen zu finden. Der nasse Talboden zwingt mich, ein wenig am Rand des Tales hinaufzusteigen. Doch hier hat der Wind alles rund geschliffen; einen schützenden Hang suche ich vergebens.

Doch endlich: Angelockt von einer ganzen Reihe abgestoßener Rentiergeweihe finde ich ein kleines Plateau und an dessen Bergrand ein paar größere herumliegende Steine und zwischen ihnen einen kleinen Einbruch, der eine enge Mulde bildet. Irgendwo gluckst in der Tiefe zwischen den Steinbrocken ein Rinnsal…

Hier und da fülle ich die Mulde mit Steinen auf und polstere ein wenig mit Moos. Wo ich das Moos vom Stein trenne, habe ich ein schlechtes Gewissen: wie lange mag es gedauert haben, bis dass es hier Fuß fassen konnte?

Auf der Windseite baue ich zum Schutze eine kleine Steinmauer. Lange dauert es, bis das Zelt endlich steht. – Ob für den Fall einer extremen Witterung hier etwas gewonnen ist, bezweifele ich noch.

Das Wetter ist inzwischen schlechter geworden: Starker Wind ist aufgekommen und ab und zu fällt kalter Nieselregen. Aber vielleicht trocknen die nassen Socken trotzdem…

Es ist kalt. Die ganze Sache ist ein Überlebenskampf. Es ist jetzt Samstag, 6.30 Uhr. Gute Nacht!

15.3o Uhr: „Frühstück“: Ein Stück Brot, halbe Tafel Schokolade, ein Stück im Schlafsack erwärmte Gurke.

 

Weiter geht es am kommenden Freitag, 4.6.2021 ab 15:30 Uhr!

Wem es inzwischen zu kalt geworden ist, begebe sich in Regionen, in denen es zu dieser Jahreszeit wärmer ist.

 

Inhalt aller Folgen:

  1. Anreise
  2. Erstes Lager und Flussüberquerung
  3. Ich richte mich ein
  4. Kalter Regentag: Körperpflege…
  5. Hüttensuche & Die Zeit geht verloren
  6. Zeit & Steine. Beginn eines längeren Ausflugs
  7. Rentiere besichtigen mich
  8. Essen, Spielen, zurück zum Lager
  9. Die neu bestimmte Zeit
  10. Eine Reflexion am Ende der Fahrt
  11. Rückweg durch die Läufe des Adventelva
  12. Übergang zurück in die Zivilisation – Spitzbergen heute