X – Spitzbergen 1981 – Eine Reflexion am Ende der Fahrt

Auf dem Zeltplatz am Flughafen Longyearbyen

Donnerstag, 9.7.1981, 9.15 Uhr

Vorhin, um 6.10 Uhr bin ich total erschöpft hier am Flughafen von Longyearbyen angekommen. Habe zu Hause angerufen. Es war schön, mal wieder ein paar menschliche Worte zu sprechen und zu hören (denn Selbstgespräche habe ich in all den Tagen nicht geführt). Habe gleich nach der Uhrzeit gefragt; um 6.10 Uhr in Wiesbaden zeigte meine Uhr auf 6.25 Uhr. Kann mir auf die Schulter klopfen: Meine Zeitbestimmung hatte einen Fehler von nur ca. 1%. – War das die nicht eingerechnete Missweisung?

Dicht am Flughafen ist der „Campingplatz“. Habe mein Zelt aufgebaut und werde gleich erst einmal schlafen – wenn ich das bei dem Motorengebrumm von überall her hier überhaupt kann. Habe seit meiner Ankunft hier nur einen Milchkaffee getrunken, das Zelt aufgebaut und ein paar Klamotten, d.h. Unterhose und Handtuch, ausgewaschen. Beides ist nämlich auf dem Weg von letzten Lager hierher ziemlich in Mitleidenschaft gezogen worden. Davon aber mehr in der nächsten Folge.

Nun ist es 19.25 Uhr und ich habe ausgiebigst geschlafen. Das geht bei mir jetzt auf Kommando. Sollen es noch ein, zwei Stündchen mehr sein? Bitte sehr…

Hier ist übrigens der Stein, den ich Ihnen am Ende der letzten Folge versprochen habe.

– Bevor ich mich nun aber meinen weiteren Überlegungen hingebe (wie z.B.: „Reise ich im Flugzeug mit sauberer oder schmutziger Hose?“ oder, da ich nicht mehr nach Bodö zurück will: „Buche ich um, nach Narvik oder Andenes?“), will ich zuerst einmal dieses Spitzbergen-Tagebuch beenden:

Gestern, um 13.30 Uhr, als ich mit dem Packen langsam beginnen wollte, waren es noch 34 Stunden bis zum Abflug in Longyearbyen. Immerhin musste ich mit drei Etappen rechnen: Überquerung des Flusses, Weg zum Rentierlager, vom Lager zum Flughafen – eine ziemliche Latscherei; mit einem Auto wie beim Hinweg war nicht zu rechnen.

Trotzdem habe ich mir Zeit gelassen; alles in der für diese Wildnis typischen Gangart: Die Entfernungen sind groß; zwar hat man alles stets im Blick, aber immer sind viele Schritte notwendig, um irgendwo hin zu kommen. Es ist nichts mit schnell mal hierin gehen, oder schnell mal dorthin. Es treiben einen ja auch keine Pflichten. So ist z.B. das Geschirr Spülen nicht einfach ein notwendiger Vorgang zwischen vielen anderen, der irgendwann „miterledigt“ wird, sondern der Weg zum Bach wird gegangen. Und der Topf wird im eiskalten Wasser zunächst ausgespült und mit Sand sorgfältig ausgerieben, wieder und wieder gespült und ausgerieben, bis er blitzsauber ist. Das dauert natürlich. Es dauert auch, wenn man sich die Zähne putzt, oder gar noch etwas Wäsche wäscht: die Hände müssen bei all dem zwischendurch auch immer wieder die Gelegenheit haben, etwas warm werden zu können – es jagt einen ja nichts. So hat sich mittlerweile auch meine anfängliche Hektik, die sicherlich von der erwartenden Spannung der Herfahrt noch gesteigert war, schnell gelegt: Mein anfänglicher Wunsch, unbedingt auch bei ungünstigem Wetter nichts versäumen zu dürfen, „erleben“ zu wollen, alles auszunutzen, hat sich schnell als falscher Ratgeber erwiesen: Mein Aufbruch am vergangenen Sonntag/ Montag zur verschlossenen Hütte bei schlechtem Wetter habe ich mit nassen Klamotten und sehr unangenehmer Kälte bezahlen müssen. Man muss nördlich des Polarkreises eben auch einmal 12 Stunden oder länger im Zelt liegen und abwarten können. Das Wetter schlägt hier schnell um und so wird man auch immer wieder mit besserem Wetter rechnen dürfen. Man kann ja dann auch wieder einmal einfach 24 Stunden lang wach bleiben..

Alle Zeiträume sind hier eben länger und alles geht langsamer: Die wesentlichen Bewegungen auf Spitzbergen sind nicht die der Lebewesen, sondern das ist die Bewegung der Erosion der Berge und – für mich nicht sichtbar – eben auch das Fließen der Gletscher.

Ein Tag dauert hier gewissermaßen ein ganzes Jahr lang. 182 unserer Tage ist es hell und die Dunkelheit währt ebenso lange. Es scheint, alles sei vielleicht um den Faktor 365 verlängert. Es scheint als stehe die Zeit still. Eine Uhr wird zu einem etwas drolligen Instrument.

Wenn man Geduld hat, kann man hier leben – zumindest im Sommer; es treibt einen dann ja auch nicht die Dunkelheit das begonnene Tagwerk schnell zu beenden.

– Vielleicht ist mir dieser bisher unbekannte Rhythmus erst gestern, als ich mich bei Sonnenschein und klarem Himmel zwischen den eisigen starren Bergen in den Schlafsack legte, eigentlich bewusst geworden: Die schwarz-weißen Berge, die mal ein wenig mehr im Grau verblassen, mal weniger und manchmal tiefblau erscheinen, sie strahlen eine eherne Ruhe aus.

Nichts bewegt sich, als die paar Vögel oder Rentiere, denen man begegnen kann. Aber schon Wasser und Wind strömen statisch. Veränderungen durch das Wasser werden erst sichtbar nach Jahrzehnten und Jahrhunderten. Die Wirkungen des Windes werden nicht sichtbar im nervösen Rascheln irgendwelcher Blätter oder auch im bedächtigen Wiegen eines Baumes (denn Bäume oder auch nur Sträucher gibt es hier nicht), wie wir es in unseren Breiten kennen, sondern die Wirkungen des Windes werden hier vielleicht erkennbar im Feinschliff, den wir an Zacken und Rändern der Berge zu erkennen meinen. Nicht einmal dahin jagende Wolken habe ich gesehen, sondern stets Wolkenschleier: hoch oben und zerzaust oder tief im Tal und dick. – Auch hier keine merkliche Bewegung.

Natürlich – in der längsten Zeit des Jahres, dem Winter, sieht die Landschaft sicherlich völlig anders aus, als ich sie erlebt habe: aber die Starre wird auch dann und erst recht nicht gewichen sein, wenn die Insel unter einer geschlossenen Eis- und Schneedecke liegt und eigentlich gar keine Insel mehr ist, weil sie dann vom Packeis völlig eingeschlossen ist.

Ich versuche mir mehr und mehr vorzustellen, hier zu leben. Eine realistische Vorstellung kann ich mir jedoch nur vom Leben im Sommer machen. Es ist ein Leben unentwegt in Kleidern und zwar vielfach. Ich zähle noch einmal auf: An den Füßen trage ich Baumwollsocken, darüber wollene dicke Socken, darüber Stiefelschuhe und dann die Gummistiefel. – Ganz selten bin ich auch einmal barfuß ein paar Schritte über sonnenbeschienenes Moos gegangen. Aber weiter mit der Kleidung, von unten nach oben: Unterhose und Jeans – eine lange Unterhose dazu wäre sicherlich oft angebracht gewesen, aber ich mag die Dinger nicht. Dann: Unterhemd, langärmeliges T-Shirt, Wollpullover, Sommerjuja, dünne Windbluse und ein dicker Mantel, auf den ich nur ein einziges Mal verzichten konnte und den ich nur ganz selten geöffnet trug.

Auf dem Kopf trage ich eigentlich immer eine Wollmütze, bei Wind sehr oft auch die Kapuze der Windbluse und nicht selten dazu auch die Kapuze des Mantels. Handschuhe trage ich fast immer; alles, was man anfasst, ist kalt und der Wind kühlt auch so die Hände schnell aus.

Aber dennoch, hier zu leben – im Sommer – könnte für mich den Frieden bedeuten. Ich bin zufrieden hier mit mir alleine. Keiner stellt Ansprüche an mich, ich stelle keine Ansprüche an andere. Nie habe ich hier das Alleinsein als Einsamkeit empfunden. Wie oft dagegen habe ich mich schon einsam gefühlt, obwohl ich von Menschen umgeben war. Ja, jetzt möchte ich fast sagen, dass ich mich im normalen Leben unter Menschen phasenweise einsamer gefühlt habe, als in diesen paar Tagen auf Spitzbergen. – Hm, wirklich…? … Vielleicht trifft dieser unglaublich oder auch übertrieben erscheinende Gedanke in der Tat doch ein wenig zu: Hier war ich dicht am Leben und zufrieden, unter Menschen war ich gerade in letzter Zeit häufig unzufrieden…. – Man kann natürlich von diesen sechs Tagen keine Rückschlüsse auf längere Zeiträume, wie z.B. ein ganzes Jahr ziehen, aber irgendwie charakterisierend sind diese Gedanken doch. – Ich habe auch gar keine Lust, Feriengrüße (Postkarten) zu schreiben; das erscheint mir nun, wo ich es versprochen habe, geradezu als lästige Pflicht.

Man sollte auch meinen, ich hätte nach dem Besuch des netten Norwegers aus dem Rentiercamp weitere Besuche erwartet. Es stimmt, in den ersten 24 Stunden nach dem Besuch habe ich oft gedacht, er komme wieder, wenn ich irgendein Geräusch gehört habe. Dass er dann aber doch nicht kam, war mir lieber…

Doch, man sollte jetzt noch nicht in die bekannte Welt zurück fliegen, ich sollte noch hier in dieser ganz anderen Welt, die ich sonst nirgendwo finden werde, bleiben. Es ist nicht so, wie der Spruch sagt, dass wir beim Abschiednehmen stets zu Neuem aufbrechen. Nein, das Neue wird das Alte sein. Das Alte lockt mit seinen Bequemlichkeiten und Genüssen; es ist dort weniger lang-‚weilig‘, man muss die Aktivitäten viel weniger selbst zustande bringen als hier. Das Leben in der Gesellschaft ist allerdings viel mehr bloße Reaktion, man muss da kein starker Mensch sein. Hier muss man „stark“ sein. Die eigentliche Gefahr auf Spitzbergen ist es, keine Kraft mehr zu haben, in totale Passivität zu verfallen und zu verenden…

Da ich keinen ausreichenden Proviant mehr habe, gehe ich aber zurück – fast möchte ich sagen in die Einsamkeit – unter Menschen. Ich weiß jetzt aber, dass es eine (Zu-) Flucht gibt und wo sie zu finden ist… Hier in Spitzbergen ist nichts „tragisch“, nichts ist „dramatisch“, nichts ist „bezaubernd“ oder „hässlich“ hier ist „einfach“ und hier ist „Nichts“ – jedenfalls der Rand des Seins zum Nichts.

Anmerkung etwa 2011:

Diese Charakterisierung Spitzbergens ist vor drei Jahrzehnten unter dem starken Einfluss ungewohnter Eindrücke entstanden, die mir in ihrer Wirkung auf mein Innenleben bis heute gegenwärtig sind. Allerdings wird man schon nach kurzer Recherche im Internet feststellen, dass dieses Erlebnis so heute wohl kaum noch auf Spitzbergen wiederholbar sein wird. Man hat sich in Longyearbyen längst auf Touristen eingestellt. Sicherheit wird groß geschrieben und ob man einen jungen Burschen, wie ich damals einer war, heute noch mit ausreichender aber relativ primitiver Ausrüstung und ohne Gewehr alleine in die Wildnis lassen würde, bezweifle ich sehr. – Eine „Zuflucht“ wie oben beschrieben, wäre Spitzbergen für mich heute wohl kaum noch. – Schade.

Diese Serie ist hier noch nicht am Ende: In den kommenden zwei Wochen erscheinen noch zwei Folgen: Kritisch war nämlich zunächst noch der Rückweg über den Fluss, der offensichtlich durch Schmelzwasser ziemlich angeschwollen war.

Davon mehr am Freitag, 30.7.2021, ab 15:30

 

Inhalt aller Folgen:

  1. Anreise
  2. Erstes Lager und Flussüberquerung
  3. Ich richte mich ein
  4. Kalter Regentag: Körperpflege…
  5. Hüttensuche & Die Zeit geht verloren
  6. Zeit & Steine. Beginn eines längeren Ausflugs
  7. Rentiere besichtigen mich
  8. Essen, Spielen, zurück zum Lager
  9. Die neu bestimmte Zeit
  10. Eine Reflexion am Ende der Fahrt
  11. Rückweg durch die Läufe des Adventelva
  12. Übergang zurück in die Zivilisation – Spitzbergen heute