V – Spitzbergen 1981 – Hüttensuche & Die Zeit geht verloren

Montag, 6.7.1981 auf Spitzbergen.

Um 2.30 Uhr bin ich von meinem Erkundungsgang völlig durchnässt und durchgefroren zurück. Nach einigen Versuchen mich etwas aufzuwärmen, lege ich mich um 4.15 Uhr schlafen und erwache um 5.30 Uhr. Ich bin nach kaum mehr als einer Stunde Schlaf noch ziemlich erschlagen.

Aber andererseits: Die vorhin noch triefnassen Klamotten sind trocken! Der Wind hat gedreht, er kommt nun nicht mehr heftig aus Osten, sondern leicht aus West. Die Wetterlage hat sich auch völlig verändert. Ob es etwa schon 17.30 Uhr ist und ich statt einer einzigen ganze 13 Stunden geschlafen habe?! – Ich kann das nicht entscheiden! – Die Sonne ist nicht zu sehen, sie ist von einer hohen Wolkenschicht verdeckt. Mir ist die Uhrzeit abhanden gekommen! Es bleibt nur abzuwarten bis die Sonne am Himmel steht und ich entscheiden kann, ob es morgens, mittags, abends oder nachts ist.

Hier erst einmal der Bericht vom Ausflug: Der Aufbruch zu Hütte ist eilig; ich möchte nicht, dass meine vage Hoffnung auf schöneres Wetter vorzeitig durch neuen Regen zunichte gemacht wird. Doch alles nur Wunschdenken: Unmerklich zunächst wird der Regen unterwegs dann doch immer stärker.

Es geht durch kleine Wasserläufe hindurch und über Schneefelder und überflutete Wiesen hinweg: immer gegen den stärker und stärker werdenden Wind an, der mir den Regen und mehr und mehr auch eisigen Schnee ins Gesicht bläst.

Hier zeigt sich, dass auch der gefütterte Plastikmantel nicht unbegrenzt dicht hält: die vermummte Haut bekommt einen Eindruck von eiskaltem Wind und Regen… – Ein Tier hätte sich bei solchem Wetter verkrochen und wäre in seinem sicheren Versteck geblieben! – Noch ist der Rhythmus Spitzbergens nicht der meine: nicht die Uhr, nicht das „Programm“ haben hier Lebensäußerungen und Aktivität zu bestimmen, sondern das Wetter!

Da oben – dicht vor mir, etwas oberhalb eines Schneefeldes taucht plötzlich die Hütte vor mir auf. Bei besserer Sicht hätte ich sie schon lange zuvor sehen müssen. Die Hoffnung auf ein trockenes Plätzchen beflügelt die Schritte und – wird jäh enttäuscht: die Hütte ist verschlossen, niemand zu Hause und kein Schlüssel zu finden. – Damit hätte ich nie gerechnet!

Dabei macht die Hütte einen sehr bewohnten Eindruck: Am Fenster ist eine Flasche mit Spülmittel u.ä. zu erblicken. Mir bietet die Hütte nichts: kein Windfang, kein Regenschutz – dicht an eine Wand gepresst verzehre ich enttäuscht und frierend etwas Brot und ein Stück Schokolade, mache ein paar Fotos und trete den Heimweg an.

Die Hosen kleben mir triefnass an den Beinen. Nun kommt der Wind von hinten und kühlt den feuchten Rücken. Mit langen Schritten geht’s heim. Der Regen ist nicht mehr ganz so heftig und der Wind lässt auch nach. Dafür rieselt der Schnee… Ab und zu finde ich sogar noch einen Blick für die Schönheit der verwandelten Landschaft. – Nun gelange ich an den Wasserlauf, der mir die Nähe des Lagers ankündigt. Hier habe ich an einem markanten Stein die bereits wieder gefüllte Wasserflasche deponiert, um mir bei der Heimkehr sofort etwas Warmes bereiten zu können.

Da – ein Stückchen des Bodens vor mir scheint sich zu bewegen! Es ist wirklich nicht leicht, etwas zu erkennen, aber es sind wieder die beiden Eiderenten. Ich kann mich dem Weibchen bis auf vier oder fünf Schritte nähern und ein paar Fotos machen (siehe letzte Folge). Doch das ist gar nicht so einfach; ich muss den Vogel fortwährend anblicken, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren, so perfekt ist die Tarnung: allein durch die eigene Bewegung unterscheidet sich das Tier von seiner Umgebung. Ob es auf den Fotos nachher überhaupt zu erkennen sein wird? (Die Abbildung ist ein wenig nachbearbeitet, die Ente ist herausgearbeitet.)

Die Kälte treibt mich zum Lager. Fast hätte ich selbst das nicht wiedergefunden in der kleinen Senke, die durch den gespannten olivgrünen Poncho kaum noch zu erkennen ist.

Nun erst einmal die nassen Klamotten vom Leib! Und dann in den Schlafsack! Das kleine Zelt ist innen zweigeteilt: in ihm hängt ein niedriges, aus Baumwollstoff genähtes Innenzelt, das allein durch den Atem schnell warm wird. Von ihm aus kann ich den Kocher, der bei dem Gepäck in der anderen Zelthälfte steht, gut bedienen. Vor meinem Aufbruch hatte ich das restliche Wasser in den Topf getan; darin verbliebene Reste angetrockneten Kaffees haben sich inzwischen gelöst und die Suppe schmeckt nun ziemlich nach Kaffee, nur etwas „fetter“…

Es ist kalt und ich möchte den Kocher noch gern etwas brennen lassen. Doch die heiße Luft steigt schnell hoch und entweicht durch die dünne Zeltwand. So kann man also nicht heizen. Da lege ich einen Stein auf die Flamme; er soll die Wärme halten und abstrahlen. – Aber da ist doch Großmutters Rezept, vernommen in Erzählungen früher Kindertage! – Schon habe ich zwei heiße Steine im Schlafsack liegen. In ganz wenigen Minuten lassen sich die Steine aufheizen um dann lange noch diese Wärme abzugeben. Fantastisch! Die Laune steigt und die Lebensgeister finden sich wieder ein: Nun gibt es denn auch noch Erbswurstsuppe und Speck. Schmeckt! – Was aber jetzt mit den nassen Klamotten? Draußen ist es mittlerweile fast ganz windstill. Aber es schneit noch leise vor sich hin. Die nassen Kleider wickle ich um heiße Steine. Mühselig lässt sich so ein Kleidungsstück etwas trocknen, aber die Luftfeuchtigkeit im Zelt wird zu groß, als dass die Sache wirklich praktikabel genannt werden könnte…

Nach einiger Zeit bricht ganz plötzlich die Sonne hervor! Ich schaue aus dem Zelt. Es bietet sich mir ein grandioser Anblick! Friedlich und majestätisch liegen die weißen schneebedeckten Berge in dem plötzlich so hellen klaren Sonnenlicht. – Vergessen, weggewischt sind trübe Düsternis, Sturm und Regen.

Nur mit dem dünnen Pullover und einer Unterhose bekleidet befreie ich mich aus dem feuchten Zelt und laufe durch die kühle, klare Luft. An niedrig um das Zelt gespannten Schnüren hänge ich die nassen Kleider zum Trocknen auf. Was aber mit dem Mantel, der zu groß für jede meiner Wäscheleinen ist und doch unbedingt trocknen muss ?

Da bietet sich das rot gestrichene Metallrohr an, das irgend jemand in einiger Entfernung senkrecht im Boden verankert hat – vermutlich als Markierung einer Schneeskooterpiste, die hier im Winter (d.h. in 9-10 Monaten des Jahres) vorüber führen könnte.

Die Befestigung gelingt mit einem kleinen Rentiergeweih, das gleichzeitig als Kleiderbügel dienen kann: mein Garderobenständer ist fertig.

So, nun habe ich bald eine Stunde lang berichtet. Der vorhin noch im Osten sichtbare blaue Streifen am Himmel ist inzwischen auch verschwunden; die Sonne hat sich nicht mehr blicken lassen. Es bleibt die Frage: ist es nun noch morgens früh, 6.20 Uhr, oder schon abends, 18.20 Uhr? – Diese Frage lässt sich augenblicklich nicht entscheiden. Noch muss ich ja auch nicht an Abreise etc. denken. Immerhin. Die Klamotten sind alle wieder trocken und ein neuer „Kampf“ kann beginnen…

Habe nun doch noch ein wenig geschlafen. Dann sitze ich in den Schlafsack eingewickelt draußen, trinke Kaffee und rauche Zigarillos. Ich genieße die eisige Stille. Eigentlich herrscht eine Starre. Zeit ist etwas völlig Theoretisches, ein Messgegenstand, wie z.B. Temperatur oder so. Um 15 Uhr (oder – unwahrscheinlich – Dienstag, 3 Uhr) breche ich wieder auf.

 

– Wohin und wozu, erfahren Sie in einer Woche, nämlich am Freitag, dem 25.6.2021 ab 15:30 Uhr

 

Inhalt aller Folgen:

  1. Anreise
  2. Erstes Lager und Flussüberquerung
  3. Ich richte mich ein
  4. Kalter Regentag: Körperpflege…
  5. Hüttensuche & Die Zeit geht verloren
  6. Zeit & Steine. Beginn eines längeren Ausflugs
  7. Rentiere besichtigen mich
  8. Essen, Spielen, zurück zum Lager
  9. Die neu bestimmte Zeit
  10. Eine Reflexion am Ende der Fahrt
  11. Rückweg durch die Läufe des Adventelva
  12. Übergang zurück in die Zivilisation – Spitzbergen heute