
Nachmittags, am 9.7.1981 im Zelt am Flughafen:
Aber nun schildere ich erst einmal meinen Aufbruch vom Lager und die Überquerung des Flusses:
Beim Abbauen des Zeltes fällt mein Blick noch einmal auf die vielen Steine, die es hier gibt; ich sehe inzwischen mehr als zuvor, es fasziniert die scheue Schönheit, die überall verborgen liegt, in Formen, Farben und Flechten…
Dann aber bin ich fertig mit Packen und meine Aufmerksamkeit wird wieder absichtsvoll und zielgerichtet: Ich muss zurück über den Fluss.
Von hier oben, der Höhe meines Lagerplatzes, kann ich mir einen günstigen Weg über all die vor mir liegenden Wasserläufe vorstellen. So laufe ich hinab, zunächst an der Stelle vorbei, wo die vielen Rentiergeweihe liegen, nehme eines davon mit, und begebe mich dann zum Fluss.
Unten angekommen ziehe ich die kurzen Hosen an, die ich auch dabei habe. Einlagen und Stiefelschuhe nehme ich aus den Stiefeln und dann geht’s los in das Labyrinth der Wasserläufe.
Eine ganze Zeit lang gelingt es mir noch, die Füße trocken zu halten; aber es hilft nichts, ich kann nicht immer nur die kleinen Bäche überqueren, ich muss auf die andere Seite des Tales gelangen…
Es wird nass und eiskalt. Kann es sein, dass durch die relativ warmen Tage und den noch zunehmenden Sommer die Flüsse nun mehr Wasser führen, als vor fünf Tagen? Längst sind die Beine krebsrot, in den Füßen schwindet jedes Gefühl.
Vielleicht wäre es doch besser gewesen, die lange Hose anzubehalten. Auch nasse Kleider isolieren und halten die Wärme. Es war ein Fehler, hier mit kurzen Hosen hinein zu steigen! Es wird nun zu meinem größten Anliegen, immer sofort, wenn ich einen der Flussläufe überquert habe, das kalte Wasser wieder aus den Stiefeln herauszubekommen. Das wird zur größten Tortur: Rucksack runter, drauf gesetzt, Beine hoch und das Wasser läuft. Dann wieder hoch. Ich darf auf gar keinen Fall auf einer dieser Sandbänke sitzen bleiben! Rüber muss ich ja so oder so. Es würde nur immer kälter werden…
– Die Flussläufe nehmen kein Ende; immer wieder taucht ein neuer auf, der noch zu überqueren ist. Ich darf die Strömung nicht unterschätzen. Oft reicht mir das Wasser bis über die Oberschenkel. Man kann in dem sandigen Schmelzwasser den Grund nicht erkennen, aber an der Art der Wasseroberfläche lässt sich meist ablesen, ob das Wasser hier flacher oder tiefer ist, als in seiner Umgebung – leider erkennt man aber nicht wie tief es ist. Oft ist es auch unmöglich einen Wasserlauf direkt auf kürzester Linie zu überqueren; da wäre er zu tief, aber eine schräg auf eine Sandbank zulaufende Bodenwelle ist zu erkennen; von dort aus gibt es dann wieder eine schräg durch den Flussarm verlaufende Bodenwelle, die weiter führt.
Durch dieses Hin- und Her- und Zickzacklaufen wird der Weg immer länger und manches Mal scheint es mir, dass ich wieder zurückgehe, ohne es zu merken. Immer den Blick auf die sich bewegende Wasseroberfläche gerichtet schärfe ich mir unentwegt ein: „Das Wasser muss immer von links nach rechts fließen, dann kommst du deinem Ziel näher!“ Dann habe ich es fast geschafft, ich stehe im letzten größeren Wasserlauf, dessen anderes Ufer kaum mehr als einen Meter weit entfernt ist. Doch das Wasser reicht mir schon bis über die Ränder der Shorts hinweg. Die Strömung ist enorm. Am Grund rollen ein paar Steine. Vor mir kann das Wasser nur noch tiefer werden. „Zurück!“ befehle ich mir selbst (mein einziges Selbstgespräch in dieser Woche auf Spitzbergen). Es kostet eine fast unendliche Überwindung zurückzugehen und einen anderen Weg zu suchen, aber an dieser Entscheidung hing, glaube ich, mein Leben…

Doch nun geht alles relativ schnell; noch ein paar lästige kleinere Wasserläufe – ich reagiere fast allergisch auf sie – und dann reiße ich mir die Stiefel und Strümpfe von den Füßen, die nun schon weiß geworden und fast ganz gefühllos sind. Ich springe auf der Stelle und reibe sie mit dem bereit gehaltenen Handtuch, das schnell ganz schwarz wird vom Sand. Dann kommen trockene Socken etc. auf die Füße, die Stiefel, die ja sonst kein Wasser mehr aufgesaugt haben und die langen Hosen wieder an, ein Blick noch zurück über die eisige Hölle hinweg auf jenen Berg hin, hinter dem wieder die Sonne steht (es muss etwa Mitternacht gewesen sein), und dann geht es eiligen Schritts gen Longyearbyen. Laufen! Laufen! Nichts als Laufen! Die Überquerung hat an den Kräften gezehrt. Aber ich muss warm werden. Eine Pause findet nicht statt. Fast ohne die kleinste Unterbrechung gelange ich zur ‚Rentierstation‘.
Es ist noch mitten in der Nacht und alles schläft. Ein komisches Gefühl: man kommt zurück in die Welt und findet sie im Dornröschen-Zustand… Der VW-Transporter steht auch nicht da. Also gibt es auch keine Hoffnung von hier mit dem Auto nach Longyearbyen mitgenommen zu werden. Die Bitte des Norwegers (Harald heißt er) erfüllend notiere ich meine Tierbeobachtungen auf einen Zettel und hefte ihn gut sichtbar irgendwo an. Dass die hier ihren von der Uhr diktierten Tag -/ Nachtrhythmus einhalten: „tz, tzz“!
Wenn Sie mögen: Die letzte Folge erscheint am kommenden Freitag, dem 6.8.2021 und erzählt vom Übergang in die Zivilisation. Ein paar verlinkte Videos vermitteln ein Bild von heutigen Spitzbergen…
Inhalt aller Folgen:
- Anreise
- Erstes Lager und Flussüberquerung
- Ich richte mich ein
- Kalter Regentag: Körperpflege…
- Hüttensuche & Die Zeit geht verloren
- Zeit & Steine. Beginn eines längeren Ausflugs
- Rentiere besichtigen mich
- Essen, Spielen, zurück zum Lager
- Die neu bestimmte Zeit
- Eine Reflexion am Ende der Fahrt
- Rückweg durch die Läufe des Adventelva
- Übergang zurück in die Zivilisation – Spitzbergen heute