VI – Spitzbergen 1981 – Zeit & Steine. Beginn eines längeren Ausflugs

Lesen Sie in der letzten Folge, wie mir die Zeit abhanden kam.

Dienstag, 7.7.1981 nach alter Zeitrechnung 5.00 (oder 17.00 Uhr); Rückkehr vom Ausflug

Die Uhr zeigt 5 Uhr, die Sonne steht jedoch genau im Süden; also ist es vermutlich 12 Uhr mittags. Ich habe nach meinem Regenspaziergang also weder eine noch 13, sondern wohl etwa 8 Stunden geschlafen. Die Uhr wird stehengeblieben sein, ohne, dass ich das bemerkt habe. Beim Daraufschauen wird sie sich vermutlich wieder in Bewegung gesetzt haben und ich habe sie automatisch aufgezogen…

Ich nehme also an: Es ist jetzt Dienstag, 7.7.81, 12 Uhr!

Das Wetter ist herrlich! Schon auf den letzten Kilometern hierher habe ich ein Kleidungsstück nach dem anderen ausgezogen. Zum Schluss hatte ich nur noch den Pullover über dem langärmeligen T-Shirt an. Sonst trage ich darüber noch die Sommerjuja (eine Takelbluse), meist darüber noch die Regenjacke und als oberstes Kleidungsstück immer noch den Mantel…

Ich bin jetzt todmüde; der Sonnenschein hat etwas unwirkliches an sich. Sonne erlebe ich hier auf Spitzbergen überhaupt immer als etwas Unwirkliches, weil ich, wenn die Sonne scheint, stets todmüde bin: bei der Ankunft, nach dem Regenausflug und jetzt wieder, nach dem Ausflug ins Helvetiadalen. Naja, ich war ja auch schließlich 13 Stunden unterwegs; im Einzelnen:

Wieder ging es in östlicher Richtung das Adventdalen hinauf. Diesmal aber nicht unten auf der Talsohle, sondern höher am Fuße der Berge entlang. Ganz langsam gehe ich vorwärts, den Blick immer auf den Boden gerichtet, denn viel gibt es zu sehen und zu entdecken:

zunächst einmal, wie schon im Umkreis um mein ganzes Lager herum, immer wieder ein paar Blümchen, die mit rührender Anmut dem kargen Boden, der Kälte und dem eisigen Wind trotzen. Jedesmal, wenn ich in dieser lebensfeindlichen Welt solchen Blumen begegne, kann ich nicht anders, als sie als Brüder und Schwestern zu grüßen, als „Schwestern Lebewesen“ inmitten der kalten Starre, als „Trotzdem“ im Nichts…

Es herrscht eine überraschende Artenvielfalt vor – relativ natürlich. Mir scheint, manchen von den Gewächsen bin ich schon in den Alpen begegnet, zumindest verwandten Arten von denen hier auf Spitzbergen.

Weiterhin wird das Graubraun der Steine durch die verschiedensten Flechten belebt, die zumal bei Sonnenschein, die Welt mit gelben, orangen oder auch nur silbrig weißen Farbtupfern überziehen.

Mein ganz besonderes Interesse gilt aber heute den verschiedenen Einschlüssen. Die Flüsse haben große Geröllmengen aus dem Gebirge herunter getragen. Es sind künstlerisch gestaltete Stücke dabei, hellgrau mit  roten Einlagerungen, andere ockergelb mit rot und umgekehrt. Meist scheint es Sandstein zu sein, was da in großen Mengen herumliegt. Die Steine sind nicht rund, vom Regen abgewaschen, sondern quaderförmig: flache Tafeln oft, die der Frost vom Fels gesprengt haben mag. Schade, dass ich mich so wenig auskenne – auch um den Ursprung und die Art der Einlagerungen deuten zu können.

Inzwischen hat mich meine Suche nach immer neuen Steinen mit immer andersartigen Einlagerungen immer weiter in ein Seitental hinein gelockt; es hängt als Hochtal über dem Adventdalen. Seine U-Form zeigt, dass es nicht etwa durch fließendes Wasser, sondern zumindest wesentlich durch Gletschereis entstanden ist.

Am oberen Rand auch hier die typischen Formen der Winderosion, wie sie auch im Adventdalen zu sehen sind, nur kleiner. – Die gleichen Formen sind mir schon früher in Miniatur begegnet: beim Sandburgenbau als Kind am holländischen Strand; die aus feuchtem Sand gebaute Ritterburg mit ihren Türmchen und Aufgängen zerfällt in wenigen Stunden nach dem gleichen Muster…

 

In der nächsten Folge, am Freitag, dem 2.7.2021, ab 15:30 Uhr, folgt die Fortsetzung dieser Wanderung am 7.7.1981 und die Begegnung mit dem Spitzbergen-Rentier

 

Inhalt aller Folgen:

  1. Anreise
  2. Erstes Lager und Flussüberquerung
  3. Ich richte mich ein
  4. Kalter Regentag: Körperpflege…
  5. Hüttensuche & Die Zeit geht verloren
  6. Zeit & Steine. Beginn eines längeren Ausflugs
  7. Rentiere besichtigen mich
  8. Essen, Spielen, zurück zum Lager
  9. Die neu bestimmte Zeit
  10. Eine Reflexion am Ende der Fahrt
  11. Rückweg durch die Läufe des Adventelva
  12. Übergang zurück in die Zivilisation – Spitzbergen heute