VIII – Spitzbergen 1981 – Essen, Spielen, zurück zum Lager

Nun bin ich wirklich ganz schön müde.Wie viele Stunden bin ich schon unterwegs? Schade, dass man sich hier nicht mal einfach ein paar Minuten ins Gras legen und ausstrecken kann. Man muss immer was tun, immer ans ‚Überleben‘ denken. Also: Jetzt brauche ich etwas Warmes und überhaupt: etwas zum Trinken! Ich koche erst einmal Kaffee. Es ist immer das Gleiche: zuerst verbrennt man sich fast die Zunge und dann ist er auch schon kalt.

Mahlzeit auf Spitzbergen…

Also koche ich nun Erbsensuppe aus Erbswurst. Die ist so kompakt, dass man sie gut auf einer Wanderung wie dieser mitnehmen kann. Allerdings muss sie von allen warmen Gerichten, die ich mit nach Spitzbergen genommen habe, noch am längsten kochen. Das verbraucht Gas! Ach, ich kann diese Pampe nicht mehr sehen! … – Aber sie ist was Warmes und liefert ein paar Kalorien. Also: „Lecker!“

Ich mache ein Foto für die Nachwelt, das lenkt etwas ab. Und wegen des Geschmacks koche ich noch einen Kaffee.

Langsam schleichen sich die Lebensgeister wieder heran…. Ich will mich zu etwas besserer Laune zwingen und betrachte das malerische Bächlein, aus dem ich gerade das Wasser für meine kulinarischen Gebräue genommen habe. Da sehe ich, was mir erst jetzt auffällt: An etlichen Steinen hängt Schaum im Wasser. Hoffentlich liegt weiter oben nicht wieder ein totes Ren im Bach!

Missmutig und müde gehe ich ein wenig am Bach entlang hinauf. An einer Stelle fließt er unter einem Schnee­fleck entlang. Wütend trete ich den Schnee in den Bach. Das missmutige Tun gewinnt mehr und mehr System und nach ein paar Minuten finde ich mich im kindlichen Spiel wieder: unter dem Schnee findet sich, wie an vielen Stellen hier, pechschwarze Erde mit kleinen rollsplittartigen Steinchen. Ich muss an Kohle denken – das Wasser vorhin war auch so, als ob eine Kohletablette darin gelöst war. Ich beginne kleine Dämme zu bauen und will den Bach in ein neues Bett leiten. Doch so ein neues Bett hält nicht lange. Nach wenigen Minuten hat der Bach es mit mitgeschleppten Steinchen wieder aufgefüllt und sucht sich einen neuen Weg. Immer wieder glaube ich, der so gefundene, jeweilige Verlauf des Bächleins sei endgültig. Doch bei einem Fluss, den man sich selbst überlässt, scheint nichts endgültig zu sein. Ich habe hier ein Modell vor mir, das sich gewiss auf Verhältnisse im Großen in man­chen Teilen übertragen lässt und von dem sich sicher­lich einige Regeln ablesen lassen. Im Kleinen vollzieht sich hier in wenigen Minuten ein Geschehen, dem die ge­samte mich umgebende Landschaft in Zeiträumen von Jahr­hunderten unterworfen ist.

– Nachdem ich den Lauf des Bächleins so umgeleitet habe, dass es sich immer wieder einen neuen Weg suchend nun fast das gesamte Schnee­feld mit Erde und Geröll überdeckt hat, zwinge ich mich dazu, langsam an den Heimweg zu denken. Ich koche noch schnell einen sandigen Kaffee (jetzt mit anderem Wasser) und mache mich auf.

Für den gesamten Heimweg, auf dem ich mich nun nicht mehr weiter aufhalten lasse, benötige ich etwa zwei Stunden. Die Müdigkeit, der schnelle Schritt, aber auch die mehr und mehr hervorbrechende Sonne veranlassen mich dazu, nach und nach ein Kleidungsstück nach dem anderen abzulegen. Die Sonne scheint mir auf einem Teil des Weges ins Gesicht und alles ist wieder etwas unwirklich.

Am Ausgang des Helvetiadalen leuchtet mir das auf dem frostigen Boden im Gras stehende Schmelzwasser herrlich blau entgegen und überall murmelt und gluggert es leise. Es ist richtig warm und ich fühle mich wie im März in unseren Breiten auf einem Frühjahrs Spaziergang nach durchwachter Nacht. Eigentlich feh­len jetzt nur noch ein paar hervorbrechende Schneeglöck­chen irgendwo. –

Aber auch die­se Rolle wird gespielt: vom Polarmohn, der hier und da aus der Erde hervorgebrochen ist. Es ist inzwischen so warm, dass ich an all meinen bisherigen Zeitbestimmungen ernsthaft zu zweifeln beginne.

Als ich am Zelt angekommen bin, wird diese Vermutung durch einen Blick auf den Kompass bestätigt. Aber viel ist nicht mehr los mit mir. Ich kann mich nicht mehr konzentrie­ren. Ich hole nur noch die beiden ineinander gesteckten Schlafsäcke aus dem Zelt, suche eine Stelle, wo trockenes dichtes Moos ein schönes weiches Lager bietet und lege mich schlafen; es müsste nach Sonnenstand jetzt etwa 13 Uhr sein. Welcher Genuss ist das, sich nun ausstrecken zu können in wohliger Schlafsackwärme hier in dieser weiten, klaren erhabenen Natur unter den eis- und schneebedeckten Bergen auf der anderen Seite des Tales, die ein herrliches Panorama bieten. Welche Stille!

 

In einer Woche, am 16.7.2021, ab 15:30 Uhr, erzähle ich Ihnen, wie ich die Zeit wieder finde…

 

Inhalt aller Folgen:

  1. Anreise
  2. Erstes Lager und Flussüberquerung
  3. Ich richte mich ein
  4. Kalter Regentag: Körperpflege…
  5. Hüttensuche & Die Zeit geht verloren
  6. Zeit & Steine. Beginn eines längeren Ausflugs
  7. Rentiere besichtigen mich
  8. Essen, Spielen, zurück zum Lager
  9. Die neu bestimmte Zeit
  10. Eine Reflexion am Ende der Fahrt
  11. Rückweg durch die Läufe des Adventelva
  12. Übergang zurück in die Zivilisation – Spitzbergen heute