Etwas enttäuscht darüber, das Tier-Beobachtungslager – wie in der letzten Folge beschrieben – nur quasi im Dornröschenschlaf angetroffen zu haben, gehe ich weiter nach Longyearbyen.
… Und dann bin ich wieder auf der eintönigen schnurgeraden kilometerlangen Straße. Nur ab und zu komme ich an einem der Bergwerke vorüber. Trotz heller Nacht ist alles ruhig. Da kommt der VW-Transporter der Camp-Bewohner mir entgegen gerast: ein kurzer Gruß nur, dann ist er wieder entschwunden. Der hätte ja ruhig mal kurz anhalten können…
Da entdecke ich nur wenige Meter vom Straßenrand entfernt ein Nest aus Daunen in dem sich vier grüne Eier befinden; gewiss sind das Eiderenteneier. Erst jetzt sehe ich in einiger Entfernung einen Vogel kreisen. Ich entferne mich schnell, denn ich glaube die Alten aufgeschreckt zu haben. (Wer kommt hier auch schon zu Fuß vorbei?) Im Weitergehen drehe ich mich noch einmal um und sehe, den besagten Vogel bei den Eiern. Ein Räuber? Als ich dann doch noch einmal zurückgehe, ist in eines der Eier ein Loch geschlagen. Das ist hart. Aber ich kann doch nichts anderes tun, als mich nun wirklich ganz schnell zurückzuziehen, damit die Mutter vielleicht doch noch kommt, bevor die Eier ganz kalt werden. Hoffentlich ist sie früher da, als der Räuber.
Der Rucksack drückt erbärmlich, nirgends eine Böschung, an die ich mich lehnen und kurz ausruhen könnte. Also geht es fast ohne Unterbrechung durch bis Longyearbyen. Longyearbyen ist hässlich; eine belebte Schrotthalde, die sich auf einer riesigen Fläche erstreckt. Nur weit ab, schon am Fuße der angrenzenden Berge stehen ein paar Häuschen und wieder woanders sogar eine Kirche. Longyearbyen erwacht zu dem Zeitpunkt, als ich eintreffe. Generatoren brummen, es qualmt und stinkt überall nach Heizöl… In den Wellblechhallen, die überall verstreut herumstehen, sind metallene Geräusche zu hören…
Zum Flughafen sind es von hier immer noch ein paar Kilometer. Ein Lastwagenfahrer, den ich frage, ob ich mich auf dem richtigen Weg befinde (ich befinde mich nicht), fährt mich freundlicherweise ein paar Kilometer dem Flughafen entgegen, lässt mich den letzten Kilometer dann aber doch noch laufen. So komme ich wenigstens nicht aus der Übung. Vielleicht ist aber auch die Straße gesperrt. Ich achte nicht mehr auf solche Feinheiten, sondern schleppe mich zu einer Telefonzelle im Eingang zum Flughafengebäude, eine Halle, in die wohl das Flugzeug selbst auch hinein passen würde, wenn es der Witterung wegen mal notwendig sein sollte. Die Halle ist zu, man kann aber telefonieren. Schön, mal wieder die elterlichen Stimmen zu hören (vgl Folge 10).
Nachher denke ich, dass ich vielleicht hätte etwas präziser erzählen können, statt nur nach der Uhrzeit zu fragen…
Dann entdecke ich endlich auch den Campingplatz, der genau vor meiner Nase liegt.
Es ist jetzt 21 Uhr. In der Nacht geht das Flugzeug. Vielleicht finde ich hier noch einen Briefkasten um diese Zettel mit meinem Tagebuch nach Hause zu schicken. Wenn nicht, geht dieser Brief, den ich jetzt gleich zukleben werde, eben woanders ab. Ihr werdet es ja am Poststempel erkennen. Ich will nämlich von Tromsö aus nicht wieder zurück nach Bodö fliegen, sondern entweder nach Narvik oder auf die Lofoten, also nach Andenes oder Harstadt…
Werde jetzt erst mal eine Toilette suchen, dann was zu essen kochen und dann langsam abbauen.
Seid herzlich gegrüßt
Euer Wolfgang
Nachtrag:
Da ich für den gesamten Monat eine Netzkarte der Bahn für Skandinavien habe, nutze ich diese für die verschiedensten Unternehmungen, insbesondere den Besuch einer Hochzeit in Helsinki und einer mehrtägigen Kajaktour in eigener Regie auf einem Nebenfluss des Kemijoki in der Nähe der Stadt Kemijärvi.
Mit dem Flugzeug, bei dem die Bordverpflegung für mich der wichtigste Aspekt war, ging es aber erst einmal über Tromsö nach nach Narvik, und von dort mit dem Bus – völlig willenlos von einer Amerikanerin überredet, die mich von der Wahnsinnstat abhielt, 120 DM für die Übernachtung einer Pension zu zahlen – nach Harstad:
Dort ließ man mich am Abend endlich in die Jugendherberge (mit Möglichkeit zur Selbstverpflegung).
Zwei dicke Scheiben Lachs frisch an einem Fischkutter gekauft, in gesalzener Butter gebraten, sind mein erstes warmes Essen. Ich schaffe es kaum, es aufzuessen, bin nichts mehr gewöhnt…
– Damit endet dieser Bericht. –
Nachbemerkungen & Links im März 2021:
Das hier geschilderte Spitzbergen gibt es, wie schon in der ersten Folge bemerkt, heute so nicht mehr. Die sichtbarsten Ursachen dafür sind sicherlich der organisierte Tourismus, den es 1981 ganz offensichtlich kaum im Ansatz gab und die Klimakrise.
So haben z.B. Wissenschaftler der Bundesanstalt für Geowissenschaften im Sommer 2009 eine Expedition nach Spitzbergen unternommen und u.a. auch Bilder aus der Gegend veröffentlicht, in der ich mich aufgehalten hatte. Das Aussehen der Landschaft hatte sich bereits vor 12 Jahren deutlich verändert. Dies wird sich fortgesetzt haben…
Was den Tourismus angeht finden Sie erste Informationen dazu und vieles Andere mehr auf Wikipedia unter „Spitzbergen“.
Noch ein Wort zu den Eisbären, die für Menschen stets eine große Gefahr darstellen: Ich kannte diese Gefahr damals noch nicht, weil es keine ‚Reiseführer‘, kein Wikipedia o.ä. über Spitzbergen gab. Meine Informationen stammten aus alten Büchern und Infoblättern, auf die ich wohl eher zufällig gestoßen war. Aus einem Buch hatte ich eine Skizze heraus kopiert, die mir die Lage von Longyearbyen, dem Adventdalen, dem Helvetiadalen und dem Sassendalen in groben Zügen beschrieb. Kartenmaterial habe ich in Deutschland nicht bekommen. Aus Norwegen wäre es per Post nicht mehr rechtzeitig angekommen, so dass ich es wie in den ersten Folgen beschrieben vom Hauptpostamt in Oslo abholen musste.
In dem erwähnten alten Buch war nur kurz von Eisbären die Rede: Sie würden von Robben leben, meist auf dem sich im Sommer von der Nordküste etwas zurück ziehenden Packeis, und niemals aufs Festland kommen, weil es dort für sie kaum etwas zu fressen gäbe…
Das war auch schon damals nicht mehr gültig: Wo Menschen sind und evtl. noch Haustiere halten oder Abfall hinterlassen, werden Eisbären angelockt. So habe ich während meines Referendariats ein knappes Jahr später von einem Geologen von einer studentischen Expedition nach Spitzbergen im Jahre 1981 erfahren, dass ein Teilnehmer von einem Eisbären angefallen und getötet worden sei. „No gun?“ (Folge II) war also sehr ernst gemeint…
Die Gefahr besteht heute – vermutlich gesteigert – weiter, wie Sie auch in obigem Wikipedia-Artikel nachlesen können….
Links:
Temperatur-Rekord 21,7 Grad Celsius in der Arktis – (Kurze Meldung in der Tagesschau vom 26.07.2020 (Link nicht mehr aufrufbar)
Spitzbergen zwischen Tourismus und Klimawandel (Weltspiegel am 06.08.2019) https://www.youtube.com/watch?v=kyT6Md1NJjE
Norwegen: Auf Spitzbergen wird es wärmer (ARTE Reportage vom 17.12.2019, ca 25Min)
https://www.youtube.com/watch?v=nPX68-Q7BXg
Expedition Arktis – Ein Jahr. Ein Schiff. Im Eis. (Dokumentation, ca 1,5 Std)
https://www.youtube.com/watch?v=OH9IgY6a6Z8
Dazu schreibt Ho-sook (176 Abonnenten) auf YouTube:
Es ist die größte Arktis-Expedition aller Zeiten: Im September 2019 macht sich der deutsche Eisbrecher „Polarstern“ auf den Weg zum Nordpol. An Bord: die besten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihrer Generation. Ihre Aufgabe: Daten sammeln über den Ozean, das Eis, die Atmosphäre und das Leben. Die Mission: den Klimawandel verstehen. Denn die Änderungen in der Arktis haben Auswirkungen weit über die Region hinaus.
Der High-End-Dokumentarfilm „Expedition Arktis“ liefert eine spektakuläre Nahaufnahme der MOSAiC-Expedition unter Leitung des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). Er reist in eine Welt, aus der bislang kaum Daten existieren: die Arktis während der Polarnacht. Und er zeigt das wissenschaftliche, logistische und auch menschliche Abenteuer einer Gemeinschaft aus Forschenden und Crewmitgliedern, die sich mit dem Schiff für ein Jahr in der Eiswüste nahe des Nordpols einfrieren lassen, um die natürliche Drift des Eises zu nutzen. Extreme Temperaturen unter minus 40 Grad Celsius, Dunkelheit, starke Winde und brüchiges Eis erfordern immer wieder neue Lösungen. Die Corona-Pandemie stellt alle vor zusätzliche Herausforderungen.
Mehrere Kamerateams der UFA Show & Factual beobachten Forschende und Crew bei ihrer Arbeit in der menschenfeindlichsten Region der Welt. Sie sind dabei, wenn Bärenwächterinnen neugierige Eisbären von der Forschungsstation fernhalten, Wissenschaftler kostbares Equipment vor dem eisigen Ozean in Sicherheit bringen und überraschende Entdeckungen spontane Begeisterung auslösen.
Rund 300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 20 Nationen, über 80 involvierte Institutionen, mehrere Eisbrecher, Polarflugzeuge und Helikopter, 389 Tage Expedition und rund 150 Millionen Euro Budget mit einem Ziel: dem Durchbruch in der Arktisforschung.
Sender: ARD
Datum: 16.11.2020
Dauer: 90 min
Das obige Video ist z.Zt. leider nicht abrufbar: Hier dazu zwei weitere kürzere Filme:
Dazu zwei Anmerkungen:
Die Expedition der Polarstern hatte 126 Jahre zuvor einen Vorläufer, nämlich Fridtjof Nansen, der als Erster die Idee hatte, sich mit seiner Fram einfrieren zu lassen um durch die Eisdrift von den Neusibirischen Inseln her dem Nordpol zu nähern um danach Richtung Süden Spitzbergen zu erreichen:
Hören Sie hierzu (3 Min):
24.6.1893: Fridtjof Nansen startet zu seiner Nordpol-Expedition
https://www.youtube.com/watch?v=nORxPY32E8Y
Zu der Expedition der Polarstern ist übrigens ein sehr lesenswertes bebildertes ‚Logbuch‘ erschienen:
Markus Rex: Eingefroren am Nordpol, München 2020, ISBN: 978-3-570-10414-9
– Ende –
Inhalt aller Folgen:
- Anreise
- Erstes Lager und Flussüberquerung
- Ich richte mich ein
- Kalter Regentag: Körperpflege…
- Hüttensuche & Die Zeit geht verloren
- Zeit & Steine. Beginn eines längeren Ausflugs
- Rentiere besichtigen mich
- Essen, Spielen, zurück zum Lager
- Die neu bestimmte Zeit
- Eine Reflexion am Ende der Fahrt
- Rückweg durch die Läufe des Adventelva
- Übergang zurück in die Zivilisation – Spitzbergen heute