I – Spitzbergen 1981 – Anreise

Anflug auf Spitzbergen, Flughafen Langyearbyen, am 3.7.1981 nachts um ca. 2:25 Uhr. - Bild: Wolfgang Siebert

Hier biete ich Ihnen in etwa 12 Folgen zweierlei:

  1. Eine Zeitreise, die ein Erlebnis vor 40 Jahren erzählt.
  2. Eine ‚Expedition‘ auf eigene Faust und einfachsten Mitteln nach Spitzbergen, wie sie heute so wohl nicht mehr möglich wäre.
…wenn Sie diesen Flug tatsächlich in Anspruch nehmen wollen…

Das dabei geschilderte Spitzbergen gibt es heute so nicht mehr. Die sichtbarsten Ursachen dafür sind sicherlich der organisierte Tourismus, den es 1981, wenn überhaupt, kaum im Ansatz gab und die Klimakrise.

Folgen Sie, wenn Sie mögen, bitte in den weiteren voraussichtlich 11 Folgen zunächst meinen Tagebuchaufzeichnungen und lassen Sie ein – für mich zumindest einmaliges – inneres und äußeres Erlebnis in Ihrer Fantasie entstehen: Kommen Sie mit auf eine 10-tägige Reise dorthin, „Wo die Zeit still steht.“

Wie es in Spitzbergen heute aussieht? – Dazu mehr in ein paar Nachbemerkungen am Ende dieser Serie, die uns an dieser Stelle eher stören würden…

Svalbard ist die Bezeichnung für die gesamte Inselgruppe, Spitzbergen ist die Hauptinsel

Dienstag, 30.6.1981

Abfahrt um 15.53 Uhr Im Bahnhof Mainz-Kastel. Die Vorbereitungen sind mit der letzten Minute abgeschlossen: alles läuft wie am Schnürchen. Es bleibt jenem sich in solchen Situationen oft einschleichenden bangen Gefühl kaum ein Raum, sich breit zu machen. Trotzdem bin ich Gerhard dankbar, dass er mich zur Bahn begleitet…- Ob ich eine Sonnenbrille brauchen werde…? – Mit leichtfüßiger Geschwindigkeit jagt die S-Bahn an den Hochheimer Weinbergen vorbei in Richtung Frankfurt…

 

Mittwoch 1.7. (Göteborg)

War für ca. 15 Minuten endlich mal in einem Abteil für mich alleine. Ich sehne mich nach Spitzbergen…

Die Mitreisenden bis Kopenhagen: Eine Lehrerin von der Deutschen Schule in Stockholm, ein netter Däne, der in Wien Eurythmie studiert und eine 72-jährige Frau aus Karlsruhe, die – pfiffige – Oma eines Jugendfußballvereins, der auf dem Weg zum Helsinki-Cup ist, ferner ein junger Mann und eine nette, aufgeschlossene Schwedin, die nur leider ungeheuer viel redet. Sie ist mit mir zusammen in Kopenhagen umgestiegen und hat den Zug soeben verlassen. Ich bin müde; konnte nachts im Liegewagen nur wenig Schlaf finden…

Soeben halten wir in Dals Ed an einer kleinen Station. Der Zug ist lange gefahren, ohne anzuhalten: immer seltener werden die hellgrünen Wiesen, kilometerweit sieht man nichts als Wälder, ab und zu einen See und ein paar rostrot gestrichene Häuser mit weißen Fensterrahmen. Die Sonne ist hervor gekommen und die Wolkendecke löst sich mehr und mehr auf. Die Sonne steht hier schon merklich tiefer als bei uns zur gleichen Tageszeit. Sie lässt das am Fenster vorbei sausende Panorama umso plastischer erscheinen.

 

2.7. Im Zug nach Bodö (Norwegen)

Alles hat gut geklappt gestern in Oslo: Vor allem waren die geographischen Karten von Spitzbergen da! Das „Turistforening“ hatte sie verabredungsgemäß auf dem Hautpostamt hinterlegt. Nun bin ich nicht mehr länger auf die vagen Informationen der aus alten Büchern herauskopierten Kartenskizzen früherer Spitzbergen-Expeditionen angewiesen. Das neue Kartenmaterial ist gut.

Gut auch, dass ich die Schlafwagenkarten im Voraus bestellt habe. Nun bin ich wenigstens gut ausgeschlafen. Der Platz im Schlafwagen kostet weniger als bei uns und ist wohl die billigste Übernachtungsmöglichkeit in Skandinavien. Mir sind die vielen Väter aufgefallen, die ohne Frau mit ihren Kindern unterwegs sind. Die Frau bringt das Auto zum Ferienziel. – Für uns noch eine rollenunübliche Arbeitsteilung…

Von Trondheim aus steigt das Land langsam an: zunächst ist sein Charakter von Fjorden und bewaldeten Hügeln bestimmt; nun wird er zusehends karger…

– Nun ist die letzte Stunde der Zugfahrt angebrochen: auf einer großen Hochebene haben wir vorhin den Polarkreis überquert. Westlich von hier ahnt man den großen Svartisen-Gletscher, von dem man sagt, er sei sozusagen von der letzten Eiszeit übrig geblieben. Nun aber scheint er schnell dahinzuschmelzen: von durch Industrie verschmutzter Luft verdunkelt, wird er von der Sonne mehr und mehr erwärmt…

Schon sind wir auf dem Weg wieder hinab in grünere Täler. Plötzlich hält der Zug. Schafe sind auf den Gleisen. Der Schaffner steigt aus und schaut unter die beiden Lokomotiven und ersten der neun Wagen unseres Zuges. Auf meine Frage antwortet ein Mitreisender: „Yes one sheep is cut into two pieces.“ – Wir haben ein Schaf überfahren…

– In immer lieblicheren Formen und Farben zeigt sich die Landschaft bei der Weiterfahrt. Obwohl es Abend wird, ist nichts von einer Dämmerung zu erkennen. Ich werde von nun ab für längere Zeit keine Dunkelheit mehr erleben…

Eines meiner Anliegen während der Bahnfahrt ist es, mein Handgepäck zu erleichtern. Es gibt noch einiges an Reiseproviant wegzuessen… Das Buch von Christiane Ritter „Eine Frau erlebt die Polarnacht“, lasse ich im Zug liegen; es ist so recht zur Einstimmung auf mein Vorhaben, muss aber, um Gewicht zu sparen, hier bleiben. Auch von einem Roman kommen nur die ungelesenen Seiten mit ins Flugzeug nach Tromsø.

Tromsø , Flughafen (2./3.7.)

Soeben wieder etwas gegessen, am letzten Flughafen in Bodø auch.
Auch habe ich wohl nun langsam genug Kaffee getrunken. Es ist 23.40 Uhr (Sommerzeit). Draußen ist es regnerisch, dicht verhangen der Himmel, aber taghell. Ich glaube, ich bin jetzt etwas aufgeregt: Ob es auf Spitzbergen nun schneit?? … Ob die am Flughafen mich bei der Kontrolle passieren lassen, oder mich mit meinem 49-DM-Zelt gleich wieder zurückschicken?… – Wer von den Leuten, die hier sitzen, werden wohl auch nach Svalbard fliegen? Ist das da drüben am Tisch eine Forschergemeinschaft? … Wer sieht hier verwegen aus? Der da drüben am Fenster bestimmt! … – Wenn man die Gewehre sieht, die hier fast an jedem Tisch gelehnt stehen, fast jeder! Sehe ich (ohne Gewehr) auch „verwegen“ aus? Ob ich’s mal versuche? – Ach, ich glaube, ich schaue mir erst einmal die Anzeigetafel an. Bislang war sie schwarz. Jetzt erscheinen die Flüge für Freitag: 0.50 Svalbard, der nächste dann erst um 6.20 Uhr nach Bodö und Oslo. – Also fahren alle, die hier sitzen, nach Spitzbergen. – Na dann kann ich es auch!

– Zu zweit wäre das hier leichter. Aber jetzt, wo mir das klar ist, geht es auch so.

Alleine redet man in einer Situation wie dieser wenigstens keinen Blödsinn….

 

Der Flug hierher hat mich begeistert: Die Wolken hingen in zwei Schichten am Himmel. Start um 21.55 Uhr. Beim Aufsteigen kommt die Sonne noch ein ganzes Stück über uns zum Vorschein. Die verschiedenen Wolkenschichten bilden, ein unbeschreibliches Labyrinth. Nach 20 Minuten Zwischenlandung in Evenes. Beim Landeanflug ist der nördliche Horizont rot. Der Weiterflug nach Tromö verläuft nun über den Wolken.

Die Sonne strahlt hell in waagrechter Ebene zum Horizont. An der Scheibe meines Fensterplatzes wird es direkt warm. Hier oben ist das Wetter prima! Beim Landeanflug nach Tromsö geht es lange durch dichte Wolkenschichten – Dann wird kurzzeitig ein schneebedecktes Gebirge sichtbar: Schwarz und Weiß halten sich die Waage, doch eigentlich ist alles grau und unfreundlich. In Tromsö strömt der Regen. Wie wird das nur auf Spitzbergen aussehen?!

– Ob ich jetzt noch etwas lese? Die gelesenen Seiten reiße ich heraus und werfe sie weg, um möglichst kein überflüssiges Gewicht dabei zu haben, Der alte „Affe“ (ein sehr alter Felltornister, an den ich mich seit Jahren gewöhnt habe) wiegt 24,5 kg. Das hätte ich beim Packen nicht erwartet: Das Handgepäck wiegt mit Kamera und Tele-Objektiv sicherlich auch noch knapp 5kg… Das alles will auf Spitzbergen getragen werden…. Und Wegwerfen ist dann nicht mehr!

Draußen steht das Flugzeug nach Svalbard; das Gepäck wird bereits in die Maschine geladen. –

 

3.7. Erstes Lager auf Spitzbergen (Teil 1)

Es ist nun 17.40 Uhr: Tage und Uhrzeiten sind nun etwas rein Theoretisches. Aber ich muss alles notieren, sonst weiß ich bald nicht mehr, wo auf der uns so selbstverständlichen Zeitlinie ich mich befinde. Ich liege im Schlafsack, der aus zwei übereinander gezogenen besteht, auf einem durch meine übrigen Kleider gepolsterten Lager und kann mich nicht entschließen aufzustehen. Mit Unterbrechungen habe ich jetzt seit 7.30 Uhr geschlafen. Um 10.30 Uhr bin ich einmal aufgestanden, weil ein starker Wind am Zelt gezerrt hat. Eigentlich ist das Zelt ja wirklich viel zu leicht! Wenn der Wind zum Sturm wird? – Aber es hat ja gehalten.

Die Ankunft hier auf Spitzbergen war unbeschreiblich schön! Einen ganzen Film habe ich verknipst. Der erste Eindruck von oben: eine strahlend hell beleuchtete Wolkendecke, die mich an den Regen in Tromsö erinnert, reißt, als das Flugzeug langsam tiefer geht, plötzlich auf: Reflexionen der Sonne werden sichtbar. Unten muss noch Wasser sein, wahrscheinlich ein Fjord! Die Wolkendecke verschwindet immer mehr. Schließlich erkennt man Strukturen im gegenlichtigen Weiß und als das Flugzeug die Richtung ändert, sieht man alles in unglaublicher Klarheit und Schönheit: Mit Schnee bedeckte Berge! Zunächst fliegen wir an der russischen Siedlung Barentsburg vorüber. Auf dem Isfjorden werden vereinzelt kleine Eisberge sichtbar.

Dann: Das muss der Adventfjorden sein, im Hintergrund nach links hinten, das Adventdalen, mein Zielgebiet! Unter uns der Isfjorden vereinzelt mit kleinen Eisschollen. – In einer großen Schleife geht das Flugzeug auf dem Flughafen von Longyearbyen, der norwegischen Ansiedlung, nieder.

Weiter geht’s in einer Woche, ab Freitag, 28.5.2021.

 

Inhalt aller Folgen:

  1. Anreise
  2. Erstes Lager und Flussüberquerung
  3. Ich richte mich ein
  4. Kalter Regentag: Körperpflege…
  5. Hüttensuche & Die Zeit geht verloren
  6. Zeit & Steine. Beginn eines längeren Ausflugs
  7. Rentiere besichtigen mich
  8. Essen, Spielen, zurück zum Lager
  9. Die neu bestimmte Zeit
  10. Eine Reflexion am Ende der Fahrt
  11. Rückweg durch die Läufe des Adventelva
  12. Übergang zurück in die Zivilisation – Spitzbergen heute