7. Kant: Raum und Zeit als ‚Formen der Anschauung‘

Worauf wir uns nach den Überlegungen des letzten Kapitels einigen können, ist dies:

Es gibt keine objektiv, ‚an sich‘ verlaufende Zeit! Es gibt keinen Raum, der vom Beobachter unabhängig wäre. Dies ist das Ergebnis sowohl philosophischer Überlegungen wie wir gleich sehen werden, als auch ‚Stand der Physik‘. Zeit (und ebenso der Raum) hängen vom Beobachter, mit unseren Worten: ‚vom Subjekt‘ ab.

Der große deutsche Philosoph aus Königsberg (1724 – 1804) Immanuel Kant stellt die Frage nach Raum und Zeit an den Anfang seiner Kritik der reinen Vernunft (KdrV), deren erste Auflage (‚A‘) 1781 erschienen ist. Die zweite Auflage (‚B‘) ist 1787 mit einigen größeren Veränderungen erschienen. – Aufschlussreich sind beide Varianten des Textes.

Wenn Sie einmal selbst lesen wollen: Hier folgt ein Link zu ‚Gutenberg‘ zur „Transzendentalen Ästhetik“ der KdrV, in der Raum und Zeit behandelt werden. Ich wähle die Stelle, die mit dem Raum beginnt:

https://www.projekt-gutenberg.org/kant/krva/krva011.html

Ich fasse die Argumente Kants wie folgt zusammen:

Unser Denken beruht auf dem Kombinieren von Begriffen und dem Vorstellen von Zusammenhängen oder einfach nur wahrgenommenem Material:

Zunächst wird uns Material (Kant nennt es „Mannigfaltiges“) durch unsere Sinne gegeben und befindet sich ‚irgendwie‘, noch nicht wirklich erkannt, in unserer Vorstellung („Anschauung“). Dann wird dieses Material verbunden, mit Begriffen belegt, erkannt und gedacht.

Dieses ‚Irgendwie‘ unserer Vorstellung, so Kant, sind Raum und Zeit.

Raum und Zeit sind „Form unserer Anschauung“.

Wie kommt Kant auf diese Idee?

Er hat dafür einige Argumente:

  1. Der Raum und die Zeit müssen schon von vorn herein, ‚a priori‘, in unserem Denkvermögen sein, weil wir sonst gar nichts erkennen könnten. Wir können also Raum und Zeit gar nicht, wie etwa einen Baum oder einen anderen Gegenstand, aus der Erfahrung kennen gelernt haben, weil eine Raum- und eine Zeitvorstellung notwendig sind, um überhaupt etwas zu erkennen: Um einen Gegen-Stand zu erkennen, muss ich die Vorstellung haben, dass er etwas anderes ist als ich, dass es außerhalb meiner sich befindet. Dies beinhaltet bereits eine, wenn auch primitive, Raumvorstellung.
  2. Wahrnehmung ist oft die Wahrnehmung einer Veränderung. Um aber Veränderungen überhaupt als solche denkend aufnehmen zu können, müssen unterschiedliche Zustände auf die Weise der Zeit als nacheinander gedacht werden können.
  3. „Der Raum (ebenso die Zeit) ist eine notwendige Vorstellung a priori, die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt. Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, daß kein Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, daß keine Gegenstände darin angetroffen werden. Er wird also als die Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen, und nicht als eine von ihnen abhängende Bestimmung angesehen, und ist eine Vorstellung a priori, die notwendigerweise äußeren Erscheinungen zum Grunde liegt.“ – Offensichtlich ist unser Denken so sehr mit Raum und Zeit verbunden, dass es uns nicht möglich ist uns vorzustellen, dass kein Raum und keine Zeit ist. – Einen leeren Raum wird man sich eher vorstellen können….
  4. Auf der Tatsache, dass die Anschauungsform Raum a priori in uns vorhanden ist, beruht unsere Fähigkeit, mit Hilfe dieser Vorstellung auch Urteile zu fällen, deren Richtigkeit, wir nicht durch Erfahrung nachprüfen müssen: Dass bei einem Dreieck, z.B., immer zwei Seiten zusammen größer sein müssen als die dritte, müssen wir nicht an wirklichen Dreiecken überprüfen, unsere Anschauung bestätigt das sofort. (Dieses Argument bringt Kant in der zweiten Auflage nicht an dieser Stelle.).
  5. Es gibt nur einen Raum! – Anders können wir uns das gar nicht vorstellen: Alles, was existiert, scheint – so unsere Vorstellung – in einem einzigen allumfassenden Raum (und einer allumfassenden Zeit) zu existieren. Dass wir uns das so vorstellen ist bestes Zeichen dafür, dass unser Denken, unsere Anschauung alles auf die Art und Weise von Raum und Zeit vorstellt. – Wie ‚alles‘ in Wirklichkeit („an sich“) ist, wissen wir nicht.
  6. Nur Raum und Zeit haben den Charakter der Unendlichkeit. Jeder andere Gegenstand, der unserer Erfahrung gegeben ist, ist begrenzt…

So, ich glaube, das genügt für heute völlig. – Auch wenn Ihnen nicht jedes Argument gleichermaßen einleuchtet: Denken Sie über die Vorstellung nach, Raum und Zeit seien nichts, was außerhalb von uns existiert, sondern etwas, das unserem Denken als seine Form, als sein WIE, anhaftet. Raum und Zeit sind nichts anderes als der Ausdruck dafür, dass wir räumlich und zeitlich denken.

Stellt sich nun auch Ihre Welt auf den Kopf? Ja? – Gut so, dann sind Sie auf dem richtigen Weg. Philosophie besteht darin, sich auch einmal von altgewohnten Vorstellungen zu lösen. Aber keine Angst: Sie werden leicht wieder dorthin zurück kehren, denn auch der alte Kant ist ob seiner Gedanken nicht verrückt geworden. Er hat immer wieder sorgfältig seinen Senf angerührt, seine Gäste, meist weitgereiste Königsberger Kaufleute, empfangen, so erfahren, wie es außerhalb Königsbergs zugeht, mit ihnen gespeist und anschließend – auch zusammen mit ihnen – sein Nickerchen gehalten. – Nur war seine Welt vielleicht etwas größer…

Ganz sicher gibt es mittlerweile Fragen und Anmerkungen. Zögern Sie nicht diese zu äußern  (leineblick(a)web.de).

Bis nächsten Freitag (30.4.21, 15 Uhr)!

______________________________________

Überblick über alle 10 Folgen:

  1. Was kann ich wissen?
  2. Woran man zweifeln kann
  3. Ich denke also bin ich
  4. Das Subjekt ist sich seiner selbst bewusst, das Objekt ist ungewiss
  5. Können wir das Denken erklären? – Ein kurzer Blick auf Leibniz, ein Ausblick auf Kant
  6. Wo ist Zeit? – Was ist Zeit? – Grundgedanken aus Einsteins Relativitätstheorie
  7. Kant: Raum und Zeit als ‚Formen der Anschauung‘
  8. „Das Ding an sich ist nicht erkennbar.“
  9. Kausalität – und: Randbemerkung für Interessierte (zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft)
  10. Von der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption. – Und Schluss.