2. Woran man zweifeln kann.

Wenigstens einmal in seinem Leben wollte der französische Philosoph René Descartes (1596 – 1650) alle seine Gedanken ganz gründlich auf Irrtümer hin untersuchen und sein ganzes Denken auf eine sichere Basis stellen. – So jedenfalls lässt er es uns in seinen Meditationen aus dem Jahre 1641 wissen. Entscheidend für unseren Gedankengang sind die beiden ersten Meditationen:

Wenn ich alles was ich weiß noch einmal überprüfen möchte, kann ich unmöglich jeden einzelnen Sachverhalt und jedes einzelne Urteil überprüfen. Descartes versucht sein Vorhaben systematisch anzugehen und stellt dabei zwei Grundsätze auf (die er allerdings nicht näher untersucht):

  1. Es genügt die Grundlagen allen Wissens zu untersuchen. Wenn sich etwas als falsch erweist, wird auch alles, was darauf aufgebaut ist, zusammen fallen.
  2. Alles was auch nur den leisesten Zweifel aufkommen lässt, soll als falsch gelten. Etwas Sicheres wird schon übrig bleiben.

An einem ruhigen Tag setzt Descartes sich nieder und beginnt nachzudenken und seine Gedanken aufzuschreiben. Etwa so:

Alles was ich wahrnehme, erfahre ich über meine Sinne. – Kann ich ihnen trauen? – In der Regel schon, aber auch wirklich immer? – Nein. Schon oft bin ich irgendwelchen Sinnestäuschungen erlegen. – Also werde ich nun einmal alle Sinneswahrnehmungen anzweifeln und sie als zweifelhaft verwerfen: Nichts von dem was ich wahrnehme ist wahr – so nehme ich nun einmal an.

Nun gut. Meine Sinneswahrnehmungen mögen falsch sein, aber dass ich hier sitze und schreibe, meinen Schreibstift über das Papier bewege und ab und zu zum Fenster hinaus schaue, das ist doch wahr – oder?

Naja, immerhin könnte es ja sein, dass ich das alles hier nur träume… Und wenn ich mir in den Arm kneife? – Hmm auch so etwas habe ich im Traum schon erlebt! – Ein sicherer Beweis ist das nicht. Es könnte äußerstenfalls also tatsächlich sein, dass ich mein ganzes Leben nur träume, oder es mir irgendwie vorgegaukelt wird.*

Also gut. Wir träumen und die Abläufe in unserem Leben entsprechen nicht der Realität. Aber nicht alles in einem Traum ist absurd. Die Bilder unserer Träume entsprechen tatsächlichen Gegenständen. Auch Monster und andere Fantasiegebilde haben Arme, Beine, Krallen und Zähne o.ä. – sie können nicht völlig frei erfunden werden…. – Und wenn doch? – Dann müssen wenigstens noch einfachere Elemente, wie Formen und Farben der Wirklichkeit entstammen.

Auch Traum- oder Trugbilder haben eine Zeit, einen Ort, eine Ausdehnung und eine Gestalt. Sie müssen zählbar sein können. All diese einfachen und elementaren Eigenschaften sind ja wohl kaum noch anzweifelbar.

Mögen alle Naturwissenschaften es mit unsicheren Objekten zu tun haben, die nur schwer oder gar nicht zu erkennen sind. Mögen solche Erkenntnisse immer wieder anzweifelbar sein, so bleibt uns doch die Mathematik, insbesondere die Geometrie, die sich mit den einfachsten Formen befasst, als sichere unanzweifelbare Erkenntnis übrig. Auch 3 + 2 ist und bleibt 5, ob ich nun wache oder träume. – Oder was könnte mich auch hieran zweifeln lassen?

Aber vielleicht kann man auch darin irren? – Kann man selbst entscheiden, ob das eigene Denken funktioniert, oder ob man verrückt ist? …

Descartes bemüht hier zunächst Gott, der den Menschen in allem was er denkt täuschen könnte. Schließlich zieht er einen ‚bösartigen Betrüger‘ (den er nun nicht mehr ‚Gott‘ nennt) in Betracht, der den Menschen ständig täuscht.

Kurz, da man an allem, auch am eigenen Verstande, zweifeln kann, kommt Descartes in seiner ersten Meditation zu dem Schluss, dass man nach einem solchen ‚Reinigungsprozess‘ zunächst nichts mehr für unanzweifelbar wahr halten sollte, – wenn man schließlich doch etwas Wahres erkennen möchte, um das herum man dann sein ganzes Wissen neu und unerschütterlich wieder aufbauen kann. Descartes Zweifel ist also nicht Selbstzweck oder philosophische Spielerei, der Zweifel dient dem gesicherten Aufbau gedanklicher Erkenntnis.

So gelte es zunächst auch diesen Zustand des Zweifelns eine zeitlang auszuhalten und sich jeder voreiligen Zustimmung zu enthalten, wo nur der kleinste Zweifel möglich sein könnte.

– Diese Übung empfehle ich Ihnen für die kommende Woche. Dann, am 26.3. ab 15.00 Uhr,  wird verraten, welchen ’sicheren Punkt‘ Descartes findet…

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*) In dem Science-Fiction-Film ‚Die Matrix‘ der Wachowski-Brüder findet dieser Gedanke eine moderne Bearbeitung

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Überblick über alle 10 Folgen:

  1. Was kann ich wissen?
  2. Woran man zweifeln kann
  3. Ich denke also bin ich
  4. Das Subjekt ist sich seiner selbst bewusst, das Objekt ist ungewiss
  5. Können wir das Denken erklären? – Ein kurzer Blick auf Leibniz, ein Ausblick auf Kant
  6. Wo ist Zeit? – Was ist Zeit? – Grundgedanken aus Einsteins Relativitätstheorie
  7. Kant: Raum und Zeit als ‚Formen der Anschauung‘
  8. „Das Ding an sich ist nicht erkennbar.“
  9. Kausalität – und: Randbemerkung für Interessierte (zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft)
  10. Von der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption. – Und Schluss.