Unterrichtsprojekte
Vorletzte Woche war eine Delegation von OFARIN in Rokha, der Hauptstadt der Provinz Pandschir. Von Paryan, oben aus dem Pandschirtal, war unser dortiger Projektleiter Mudir Yayah angereist. Vorher hatte uns die Provinzverwaltung telefonisch zugesagt, dass man den Unterricht in Paryan fortsetzen könne. Als unsere Leute bei der Provinzregierung eintrafen, rief man von dort für alle Fälle noch einmal beim Erziehungsministerium in Kabul an. Diesmal erhielt man zur Antwort, dass der Unterricht in Paryan auf keinen Fall fortgesetzt werden dürfe. Die Auskunft in Kabul gab der Abteilungsleiter Ahmadi, der schon im September einer Delegation von OFARIN in Kabul mitgeteilt hatte, dass alle ausländischen Organisationen, die Unterricht erteilen, sich entweder zu afghanischen Organisationen umwandeln oder ihren Vertrag mit dem Erziehungsministerium kündigen müssten.
Da uns dergleichen nicht schriftlich mitgeteilt wurde, hatten wir nach einigem Zögern den Unterricht in den Provinzen, Kabul, Logar und inzwischen auch Khost, fortgesetzt. Später besuchten Beamte des Erziehungsministeriums unseren Unterricht in allen Teilen der Stadt Kabul, wo wir aktiv sind. Ihre schriftlichen Berichte fielen durchwegs lobend aus. Wie passt das zusammen?
Wir sehen es so: Die Führung der Taliban zerfällt vor allem in der Frage der schulischen und universitären Ausbildung von Mädchen und Frauen in zwei Lager: Die eine Fraktion ist die des Emirs Haibatullah Akhondzadah, also des Staatsoberhauptes. Dieses hat Mädchen nur Schulunterricht bis Klasse 6 erlaubt und Frauen das Studium verboten. Der Emir hatte sich dann sehr über den Protest ausländischer Organisationen gegen seine Politik aufgeregt, der vor allem von deren Mitarbeiterinnen getragen wurde. Deshalb schikaniert er besonders ausländische Organisationen und deren weibliches Personal. Die andere Fraktion ist diejenige, die eine gute Bildung für alle Teile der Bevölkerung für sehr wichtig hält. Das Erziehungsministerium liegt auf der Hauptkampflinie dieser Auseinandersetzung. Es zerfällt in Seilschaften beider Richtungen.
Offenbar teilt die Mehrheit nicht nur der Bevölkerung, sondern auch der Taliban, die Ansicht ihres Staatschefs nicht. Man kann in den meisten Gegenden Afghanistans damit rechnen, dass die Behörden ein Auge zudrücken, wenn man offizielle Anordnungen zu Schule und Unterricht nicht wörtlich nimmt. Pandschir ist jedoch eine besondere Provinz. Hier hatte die Bevölkerung sehr erfolgreich gegen die „alten Taliban“ gekämpft. Auch die neuen Taliban konnten den militärischen Widerstand der Pandschiri nur mit Hilfe pakistanischer Drohnen brechen. Jetzt ist das Pandschirtal von Taliban-Kontingenten aus verschiedenen Landesteilen besetzt, und muss sich ängstlich in das fügen, was die Büttel der Staatsspitze anordnen.
Wir entlohnen die Mitarbeiter in Pandschir, lassen aber den Unterricht ruhen. Die zehn Klassen dort haben jetzt mehr als ein halbes Jahr nicht gearbeitet. Der Schaden wird kaum größer, wenn der Unterricht noch einige Wochen mehr ruht.
Das Nussbaum-Projekt
In der Provinz Khost erfordert das Nussbaumprogramm viel Arbeitskraft. Die 33.500 Gruben, die die winterlichen Niederschläge auffangen und die Setzlinge bewässern sollen, sind fertig. Die Menschen sind begeistert. Die Bevölkerung hatte uns 100 Arbeiter zugesagt, die pro Grube bezahlt wurden. Es kamen aber täglich über 250 Männer.
Die Erwerbsmöglichkeit war hochwillkommen. Auch die Provinzbehörden sind begeistert von dem riesigen Projekt. Natürlich gibt es jetzt Wünsche nach weiteren Bewaldungsprojekten. Selbst aus der Nachbarprovinz Paktia wurde angefragt.
Bei aller Freude muss man sich klarmachen, dass das Projekt noch lange nicht gelungen ist. Jetzt müssen einen guten Monat lang die Stellen, wo die Bäume gesetzt werden, vorbereitet werden. Dann wird gesetzt. Ab März wachsen die Bäume hoffentlich an. Genauer: Man kann nur hoffen, dass möglichst viele von ihnen anwachsen. Und dann muss das riesige Gebiet geschützt werden. Es dürfen z.B. keine Tiere dorthin getrieben werden. Und die Gruben müssen immer wieder darauf untersucht werden, ob sie noch zur Bewässerung der Bäume beitragen. Nach drei Jahren überlassen wir alles der Natur und der Bevölkerung. Also, jetzt ist das Projekt noch lange nicht abgeschlossen. Aber ein wichtiger Teil des arbeitsintensivsten und kostenträchtigsten Abschnitts ist erledigt.
Hebammen-Prokekt
Sehr wacker schlagen sich die Damen, die das Hebammenprogramm im Kabuler Stadtteil Schindowal begonnen haben. Mitte November hatten die vier Hebammen schon 1200 Familien besucht.
Dreizehn Familien waren wirtschaftlich sehr schwach. Die Hebammen empfehlen eine maßvolle Unterstützung. Es gab vier Fälle von Unterernährung. Vier schwer behinderte Personen wurden identifiziert. 69 schwangere Frauen wurden registriert. Diese wurden ausführlich beraten. An Informationsveranstaltungen nahmen bisher 82 Frauen und 110 Mädchen teil. Die Hebammen dokumentieren ihr Tun gründlich durch Texte und Fotos und stellen alles dem Kabuler OFARIN-Büro und auch uns in Deutschland zur Verfügung. Zur näheren Begründung der Enstehung des Hebammen-Projekts blicken Sie noch einmal in den September-Bericht (Absätze am Ende).
Es läuft also recht gut bei OFARIN. Doch die Einschränkungen in Pandschir sind eine Drohung für das Unterrichtsprogramm. Sie zeigen, dass der Machtkampf zwischen dem Emir und denjenigen, die sich für Schulbildung aller Afghanen einsetzen und die friedliche konstruktive Zusammenarbeit mit dem Ausland anstreben, noch tobt.
Zu unserem Umgang mit den Taliban
Stammesversammlungen der Paschtunen und auch anderer Afghanen dienen dem Austausch von Meinungen. Das muss nicht zu Entscheidungen führen. Man kann verschiede Ansichten haben und es dabei belassen. Das friedliche Zusammenleben darf deswegen nicht gestört werden. Daher wäre es keine Lösung, den Emir abzusetzen. Das entspräche nicht den Regeln des friedlichen Zusammenlebens, wie es die Taliban verstehen.
Die Bevölkerung hat sich mit der Taliban-Herrschaft abgefunden und ist froh über die Ruhe und relative Sicherheit. Es sind keine Kräfte erkennbar, die einen Machtwechsel möglich machen könnten. Wenn jedoch die Taliban-Führung selber nicht den Frieden wahrte, und z.B. den Emir absetzte, wäre der innere Frieden dahin. Daher muss man viel Geduld aufbringen und hoffen, dass sich die bildungsfreundlichen Kräfte in einem Prozess durchsetzen, der die Taliban-Führung nicht auseinandersprengt.
OFARIN führt seine Projekte fort, und versucht, dabei niemanden zu provozieren. Auf die Dauer werden sich die Kräfte durchsetzen, die niemandem die Bildung verwehren wollen. Sie haben die besseren Argumente und die Mehrheit der Menschen hinter sich.
Als Hilfsorganisation haben wir wenig Möglichkeiten die Entwicklungen in Afghanistan zu beeinflussen. Regierungen, auch unsere, könnten das eher. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen würde sicher dazu beitragen, die fortschrittlicheren Kräfte unter den Taliban zu stärken. Der Westen wollte in Afghanistan die Demokratie, die Rechtstaatlichkeit, die Menschenrechte und die Gleichberechtigung der Frau durchsetzen. Das war zu viel für die afghanische Gesellschaft in ihrem jetzigen Zustand. Die Taliban haben für ihre traditionellen Formen des Zusammenlebens Krieg geführt und gewonnen. Das muss man hinnehmen und sollte jetzt überlegen, wie es weitergehen kann. Sollen wir Afghanistan ewig isolieren, weil wir verloren haben? Sicher, man sollte nur Länder anerkennen, die sich zu den internationalen Menschenrechten bekennen, wie z.B. die russische Konföderation oder Eritrea oder Saudi Arabien oder China, oder, oder, oder, … .
Man will auch sicher sein, dass sich in Afghanistan nicht wieder islamistische Terroristen einnisten. Erreicht man das, indem man Afghanistan isoliert? Als jetzt ein Taliban-Funktionär als Gast in einer Kölner Ditib-Moschee auftauchte, waren viele Politiker entsetzt. Hatte der Mann sich antisemitisch geäußert oder Gewalt gegen irgendetwas angedroht? Ich habe nichts davon gehört. Aus den Medien war nur zu erfahren, dass er behauptet habe, dass es in Afghanistan jetzt friedlich und ruhig sei und dass er seine Landsleute aufgefordert habe, nach Hause zu kommen, um beim Wiederaufbau zu helfen. Man war sich einig, dass so etwas nie wieder geschehen dürfe: Ein Terrorist in einer Moschee in Deutschland.
Der Generalbundesanwalt hat festgestellt, dass die Taliban-Regierung nicht als terroristisch einzustufen sei. Für mehrere deutsche Politiker kommen die Taliban aber frisch aus der Hölle. Ich habe viele Taliban kennen gelernt. Die würden gerne einen funktionierenden Staat aufbauen. Wenn man denen dabei hilft, ordentliche Schulen für alle zu organisieren, gewinnt man viele Freunde unter ihnen. Die denken nicht im Traum daran, irgendwo terroristische Anschläge zu planen.
Nicht ganz sicher bin ich mir bei den Taliban, die auch jetzt ein Zusammenleben anstreben, wie es schon immer war, ihrer Meinung nach auch zur Zeit des Propheten Mohammed. Im Orient gibt es terroristische Organisationen, die diese paradiesischen Zeiten auch mit Gewalt wiederherstellen wollen. Ist der Emir Haibatullah wirklich entschlossen, sich solche Kräfte vom Hals zu halten? Auch ist zu befürchten, dass sich innerer Widerstand formiert, wenn dieser Emir seine Vorstellungen in der afghanischen Politik durchsetzt. Es gibt verschiedene Nachbarländer die solchen Widerstand gerne befeuern würden. Afghanistan würde dann wieder in Bürgerkrieg und Anarchie zurückfallen. Wollen wir das?
Wenn man dagegen die Taliban stärkt, die ihr Land in unserem Sinne voranbringen wollen, hilft man, Afghanistan immun gegen den Terrorismus zu machen, und gibt dem Land die Möglichkeit zu einer Insel des Friedens und des Fortschritts in einer Weltgegend zu werden, die das dringend braucht.
Vielleicht müsste Afghanistan nicht gleich von Ländern wie Deutschland diplomatisch anerkannt werden. In „demokratischer Zeit“ wurde eine Überlandleitung nach Tadschikistan gebaut, über die bis jetzt der meiste Strom, der in Afghanistan verbraucht wird, ins Land kam. Afghanistan kann diese Stromrechnung nicht begleichen. Tadschikistan hat seine Lieferungen eingestellt. In Kabul gibt es nur noch in wenigen Nachtstunden Strom. Es wäre eine Geste, die vieles möglich machen sollte, wenn sich ein Land oder die EU bereitfände, Afghanistan bei der Begleichung der Stromrechnung zu unterstützen.
Ihnen und Euch allen wünsche ich ein Frohes Weihnachtsfest und alles Gute für das Neue Jahr.
Herzliche Grüße
Peter Schwittek