Afghanistan: Unterricht und – Walnussbäume

Diese ersten Zeilen schreibe ich am 14.8.2023 (Inzwischen sind Anne Marie und Peter Schwittek wieder nach Afghanistan aufgebrochen, Anm d. Red.) 

Morgen ist Dscheschen, d.h. ein nationaler afghanischer Feiertag, diesmal für den Abzug der Amerikaner und ihrer Verbündeten vor zwei Jahren. Viele Afghanen verbinden mit diesem Tag die Hoffnung, dass die Taliban die Einschränkungen des Unterrichts aufheben werden. Mädchen dürfen wieder die Schulen besuchen, Frauen dürfen studieren. Mitarbeiterinnen ausländischer Organisationen dürfen an ihre Arbeitsplätze zurückkehren.

Leider gibt es keine einzige Ankündigung eines Regierungsmitglieds, mit der sich diese schönen Erwartungen begründen ließen. Unsere Mitarbeiter haben die schönen Neuigkeiten von hohen Beamten im Erziehungsministerium erfahren. Viele Bürger sprechen davon. Allerdings haben Beamten immer hinzugefügt, dass es bisher keine offizielle Ankündigung gegeben habe. So drücken sich in den Gerüchten die Wünsche der Bevölkerung aus. Dass diese Wünsche in Erfüllung gehen, halte ich für eher unwahrscheinlich.

Einige, die diese Wünsche als Tatsachen verbreiten, haben sogar noch weiter gemutmaßt. So gibt es Gerüchte, dass die Taliban mehrere Provinzen an die USA abtreten werden. Manche wissen sogar, um welche Provinzen es sich handelt. Die meisten liegen im Südwesten. Ganz so offensichtlich falsch sind die Gerüchte über die Normalisierung des Unterrichts nicht. Aber falsch dürften sie dennoch sein. Da stimme ich mit meinen Kollegen überein.

Es ist auch kaum vorstellbar, dass man an einem prominenten Feiertag eine wesentliche Änderung der Politik öffentlich bekannt gibt. Es ließe diejenigen, die ihre Politik aufgegeben haben, als armselige Verlierer dastehen.

Jetzt ist es einen Tag später. Und tatsächlich ist in Kabul keine Änderung der Politik bekanntgegeben worden, was die Lernmöglichkeiten von Mädchen oder die Arbeitsmöglichkeiten von Hilfsorganisationen betrifft. Da bleibt nur ein wenig Hoffnung, dass eine solche Änderung der Politik dennoch beschlossen wurde. Allerdings kann man diese nicht triumphierend der begeisterten Öffentlichkeit mitteilen. Man kann solche Änderungen, wenn überhaupt, dann nur wie beiläufig einführen, um die Gegner nicht zu verletzten. Doch dass wenigstens das geschieht, ist eher unwahrscheinlich.

So werden wir wohl unser Unterrichtsprogramm bis auf weiteres kaum ausdehnen. Den Unterricht für Mädchen werden wir nur vorsichtig fortführen können. Mancherorts müssen wir vielleicht sogar Klassen schließen. Wenn wir in Afghanistan sind, werden wir einen besseren Überblick haben, wieviel Klassen offiziell, wieviel Klassen im Verborgenen und wieviel Klassen nicht arbeiten. Eine Ausdehnung des Programmes für Jungen wäre zwar jetzt schon möglich. Doch wir wollen unter den Schülern die Gleichheit der Geschlechter wahren. Derzeit geht es darum, unser Unterrichtsteam fit zu halten, so dass die Aktivitäten schnell erweitert werden können, sobald das möglich ist.

Um einen normalen Unterricht wieder möglich zu machen, wäre eine Hilfe von Seiten der deutschen oder europäischen Politik nötig. Dass die Taliban-Führung in zwei Parteien auseinanderfällt, die in Bezug auf Bewegungsfreiheit und Ausbildung von Frauen und Mädchen gegensätzliche Ansichten haben, ist ganz offensichtlich. Die Partei, die die progressiveren Einstellungen hat, verbindet damit ganz offensichtlich auch, dass eine Durchsetzung ihrer Vorstellung der inneren Befriedung der afghanischen Gesellschaft dient und die Beziehungen zum Ausland deutlich verbessern würde. In dieser Auseinandersetzung wäre ein Entgegenkommen des Auslands hilfreich. Dieses Entgegenkommen könnte aus der diplomatischen Anerkennung bestehen. Es würde sicher auch Geld kosten. Aber Geld zahlt die internationale Gemeinschaft auch jetzt schon – durch die Finanzierung von Teilen des öffentlichen Dienstes und Lebensmittellieferungen. Vor allem aber dürfte ein Vielfaches des Geldes, das jetzt nicht ausgegeben wird, später für die Linderung von Not und die Reparatur von Schäden nötig werden. Ein Entgegenkommen jetzt würde beiden Parteien zeigen, dass ein gutes Verhältnis zum westlichen Ausland für Afghanistan vorteilhaft ist. Das Ausland könnte für sein Entgegenkommen sicher Zugeständnisse erhandeln.

Aber das Ausland, vor allem auch die ausländischen Medien, nehmen den tiefen Riss zwischen den Taliban-Parteien nicht wahr und behandeln die Taliban als einen geschlossenen Block. Die Medien berichten über das Leid von Frauen und Mädchen, für das nur die reaktionäre Taliban-Partei verantwortlich ist, und stellen dafür ganz Afghanistan in die Ecke. Das hilft den Frauen und Mädchen nicht. Es ist verständlich, dass unsere Außenministerin bei ihren dienstlichen Transportproblemen den Überblick über die Nebenschauplätze dieser Welt verliert. Aber sie leitet ein Ministerium, in dem es kompetente Stäbe für die verschiedenen Weltgegenden geben sollte. Leider drängt sich in vielen Bereichen der Außenpolitik der Eindruck auf, dass unser Land nur etwas tut, wenn der große Bruder es ausdrücklich erlaubt hat. Doch hat auch dieser große Bruder nichts davon, wenn in Afghanistan die Rückständigkeit triumphiert und dort aus Verzweiflung wieder ein Bürgerkrieg beginnt, der von Nachbarländern aus der Region genüsslich befeuert wird und daher kaum noch zu bremsen ist.

Wir werden uns In Afghanistan botanische Programme, die unsere Kollegen begonnen haben, ansehen und eventuell fördern. Da geht es zunächst um den Blauglockenbaum, den wir im ersten April-Rundbrief vorgestellt hatten. Für uns geht es dabei um Bewaldung. Ob von dem Baum dann auch andere Menschen profitieren, etwa Imker, Viehzüchter oder Holznutzer, wird uns nichts angehen.

Hinzu kommen jetzt Walnussbäume. Eine Hilfsorganisation hatte vor der Übernahme der Macht durch die Taliban 210.000 Setzlinge von Nussbäumen nach Khost gebracht und dann das Land verlassen. Die Menschen suchen jetzt nach Partnern, die ihnen dabei helfen, wenigstens einen Teil der Bäume zu pflanzen. Die Setzlinge müssten nach spätestens drei Jahren gepflanzt werden. OFARIN will dabei helfen, das Land vorzubereiten, damit im Vorfrühling 20.000 Bäume gesetzt werden können. Die Vorbereitungsarbeiten sind aufwändig. Jeder Nussbaum braucht viel Fläche.

Unsere Kollegen haben zehn Bezirke in Khost besucht und sich mit den Einwohnern unterhalten, wie sie ihre Landwirtschaft verbessern könnten. Da sind Vorschläge zur Stromgewinnung, zum Stauen von Flüssen, zur Anlage von Bewässerungsgräben gemacht worden. Das wollen wir uns zum Teil erläutern lassen. Aber dieses Jahr werden wir auf diesen weiteren sehr verschiedenen Gebieten nicht aktiv. Wir verstehen nicht genug davon.

Mehr verstehen wir vom Unterricht. Und der soll unser Kerngebiet bleiben. Doch ist die Wiederaufforstung einer seit über einem halben Jahrhundert brutal entwaldeten Provinz sicher nicht falsch.

Herzliche Grüße

Peter Schwittek.