Überraschungen: Guter Beginn mit dem Erziehungsministerium und Naqibs Unternehmungen

Es gibt Überraschungen, richtige Überraschungen. Wir, Anne Marie und ich, sind jetzt die zweite Woche in Kabul. Es gibt nichts zu beanstanden im OFARIN-Büro. Das Wetter wird angenehmer. Gestern hat es noch schwer geregnet, sogar gehagelt, heute Morgen ist der Himmel blau und die Paghman-Berge im Westen von Kabul strahlen weiß.

Letzte Woche habe ich die Abteilung des Erziehungsministeriums besucht, die für die Zusammenarbeit mit uns zuständig ist. Unser Partnerministerium ist jetzt das Erziehungsministerium. Die Beamten dort machen sich ganz ähnliche Sorgen um das Unterrichtswesen, insbesondere um den Unterricht für Mädchen und Frauen, wie wir von OFARIN. Zusammen mit diesen Beamten sollten sich Lösungen für manche Schwierigkeiten finden lassen.

Bevor der Partnerschaftsvertrag unterzeichnet war, haben unsere Mitarbeiter diese Abteilung immer wieder besucht. Sie wurden über etliche Details befragt: OFARIN zahlt seinen Lehrkräften nur 3000 Afghani im Monat, das Ministerium zahlt 5000 Afghani. Ja, OFARINs Lehrkräfte arbeiten nur 90 Minuten am Tag. Das sah man im Ministerium ein und billigte unsere Gehälter. So ging es Punkt für Punkt. Man wollte vieles wissen und ließ sich vieles erklären. Aber gute Argumente ließ die Ministerialen gelten und irgendwann war man sich einig.

Hocherfreut waren die Beamten über OFARINs bescheidene Entlohnung der Bürokräfte. Sie erzählten empört von den Traumgehältern, die die Agha-Khan-Stiftung oder die UNICEF ihren Verwaltungs-Mandarinen zahlen. Mein Einstieg beim neuen Partner war ausgesprochen einvernehmlich.

 

Überraschung: Naqibs Unternehmungen

Gestern setzte sich Naqib, unser Büro-Manager, zu uns. Er zeigte uns auf seinem Mobiltelefon einen Wald von Eukalyptus-Bäumen. Den hatte er in seiner Heimatprovinz Khost angelegt. Auf einem anderen Bild sieht man Naqib mit einem Traktor durch eine trostlose Ödnis fahren und einen Haufen Steine wegschieben. So hatte er vor drei Jahren den Boden für den Wald vorbereitet. 13.500 Bäume wurden dann gepflanzt.

Khost liegt am Rande des weiten Industales und bekommt etwas vom Monsun ab. Deshalb gab es in Khost früher Wälder von Bäumen mit hochwertigem Holz. Die wurden geschlagen und als Brennholz verkauft. Das wird in Kabul dringend gebraucht. In den meisten Teilen Afghanistans gibt es keinen Wald.

Zehn Setzlinge mit Setzen kosteten 1,5 €. Naqib hat einen Mann angestellt, der den Wald betreut. Für den wurde ein Haus mit Wasseranschluss und Solaranlage gebaut. Der Mann verdient im Monat 70 €. Die Bäume können leicht über Rohrleitungen bewässert werden. Der Aufwand für die Pflege des Waldes ist also bescheiden. Die Bäume sollen in zwei Jahren geschlagen werden. Dann erhält man pro Baum gut 300 kg Holz. Damit bringt ein Baum mindestens 30 €. Geschlagene Bäume wachsen nach.

Für die Finanzierung haben Naqib, Abdul Hussain, Tooba und Nassiba zusammengelegt, jeder 2.500 €. Die zwei Frauen und zwei Männer saßen bis zum Einmarsch der Taliban in einem Zimmer des OFARIN-Büros. Naqib ist Paschtune, Abdul Hussain Hazara. Tooba ist Tadschikin, Nassiba Usbekin.

Naqib ist ein immer freundlicher Mensch, der mit allen Kollegen zurechtkommt. Bei handwerklichen Problemen (Klempnerei, Generator, Stromversorgung) weiß er, was zu tun ist. Jetzt muss er sich als Projektmanager mit den Feinheiten der afghanischen Bürokratie auseinandersetzen – und das tut er mit Geduld und Verständnis für jedes Detail. Wer von Ihnen in den Ethno-Krimis gelesen hat, weiß, dass mich Naqib vor einer bösen Bedrohung geschützt hat, die mich leicht hätte das Leben kosten können. Aber jetzt überraschte er uns mit Fähigkeiten, die wir bei ihm nie erwartet hätten. Das war unsere Riesenüberraschung.

Er berichtete, dass er schon seit acht Jahren über die Möglichkeiten anderen Anbaus in der Landwirtschaft nachgedacht habe. Solche Möglichkeiten hatte er sich aus dem Internet zusammengesucht. Die Eukalyptusbäume wurden vor drei Jahren gesetzt. Mit seinen Teilhabern muss er schon lange darüber gesprochen haben. Wir haben von alledem nichts gewusst.

Nun gut, wir hatten klar gemacht, dass sich OFARIN auf seine Kernkompetenzen im Unterrichtswesen konzentrieren werde. Aber natürlich hatten wir die Bemühungen der internationalen Gemeinschaft verfolgt, für die Bauern wirtschaftliche Alternativen zum Drogenanbau zu entwickeln. Auf Ackerland werden in Afghanistan Weizen oder Mais angebaut. Baut man stattdessen Mohn an, kann man auf der gleichen Fläche das Zehnfache verdienen.

Die Deutsche Welthungerhilfe ließ Rosen anbauen. Bauern, die sich diesem Projekt anschlossen, mussten Rosen anpflanzen. Die Welthungerhilfe musste diese Partner drei Jahre lang finanzieren. Dann bildeten die Rosen Blüten und die Bauern mussten nach genauen Plänen ihre Rosenblüten in einer Fabrik abliefern. Dort wurde sehr teures Rosenöl für den Weltmarkt und Rosenwasser für den afghanischen Bedarf hergestellt. Wenn alles klappte, brachten die Produkte etwa den gleichen Gewinn pro Fläche wie der Anbau von Mohn. Aber das Zusammenspiel von sehr vielen Akteuren war anfällig. Wenn es irgendwo hakte, gab es hohe Verluste. Wenn alles klappte, verdiente die Welthungerhilfe daran. Das durfte sie als Hilfsorganisation aber nicht. Sie übertrug das Projekt daher auf den afghanischen Projektleiter, der es als Privatmann weiterführte. Der hatte dann große Not, sein Projekt vor den Übergriffen korrupter Beamter und sonstiger Krimineller zu schützen, die das labile Konstrukt dreist bedrohten.

Im Raum Herat baut man jetzt exzellenten Safran an. Auch hier braucht man guten Boden, der für anderen Anbau ausfällt und während einer Anlaufzeit nichts produziert. Danach ist der Arbeitsaufwand hoch.

Dagegen produziert Naqib auf Ödland, das sonst niemand nutzen kann und das er für fast nichts pachten konnte, schnell wachsendes, fetthaltiges Brennholz, das dringend gebraucht wird. Naqib und seine Spießgesellen verstoßen gegen keine religiösen und staatlichen Gesetze wie beim Anbau von Mohn für Heroin. Allerdings ist eine Vorlaufzeit von fünf Jahren nötig, in der Naqib investieren muss, ohne dass er etwas verdient. Aber dann wird Naqibs geniales Konzept mit sattem Gewinn belohnt.

Naqibs unternehmerisches Denken, dieser Weitblick, dieser Mut, Geld zu investieren und abzuwarten, bis sich der kalkulierte Gewinn einstellt – das hat uns überrascht und begeistert. Den meisten Afghanen ist diese Haltung vollkommen fremd. Der afghanische Bauer hat immer Weizen oder Mais angebaut, schon der Großvater und dessen Vorfahren. Er hat noch nie einen Gedanken darauf verschwendet, was er sonst anbauen könnte. Aber Mais … ? Haben Sie schon mal Maisbrot gegessen? Wenn ja, dann haben sie das Zeug pflichtschuldigst gelobt, weil es etwas Exotisches ist. Naqib hat, seit er denken kann, Maisbrot essen müssen. Der Hund von Naqibs Familie hat es konsequent verschmäht. Naqib aß es. Niemand dachte daran, etwas anderes anzubauen.

Dieser Unwille, Neues zu wagen, hat mich schon bei anderen Kollegen genervt. Eine Familie hat nördlich von Kabul etwas Grundbesitz, auf dem einige Hundert Weinstöcke auf traditionelle Weise wachsen. Dazu wird der Boden tief gefurcht. Die Weinstöcke liegen auf dem aufgehäuften Boden. Eine französische Hilfsorganisation bot den Bauern die Möglichkeit, die Weinstöcke hoch zu ziehen, wie es in Europa üblich ist. Die Bauern konnten Betonpfeiler erwerben. Zwischen denen wurden Drähte gespannt. Daran konnte man die Weinstöcke befestigen und hochziehen. Das gab natürlich ganz andere Erträge. Es kostete etwas, aber die Preise für die Pfeiler und den Draht waren moderat. Ich schlug dem Kollegen vor, jeden Monat von seinem Gehalt 50 $ zurück zu legen. Damals zahlte OFARIN noch keine Notgehälter. 50 $ konnte er locker entbehren. Täte er das, wollten wir persönlich jeweils 20 $ hinzufügen. Nach weniger als zwei Jahren hätte er dann Geld genug, um alle Weinstöcke hochzuziehen. Das wollte er dann lieber doch nicht. Der Gedanke, Geld anzusparen, um später davon zu profitieren, war ihm fremd. Hätten wir ihm die Kosten vorgestreckt und er hätte sie vielleicht (oder auch nicht) zurückzahlen müssen, hätte er vermutlich sofort mitgemacht.

Naqib hätte sein Unternehmertum nicht überall in Afghanistan so ausleben können, wie er es tut. In Khost sind die Stammesgesetze der dort lebenden Paschtunen fest verankert. Die Grundlage ist die Bereitschaft aller, für ihre Gesetze zu kämpfen – wenn es sein muss, auch Blutrache auszuüben. In langen Sitzungen der Clans und der Stämme wird vieles, was die Gemeinschaft betrifft, besprochen. Daraus haben sich Regeln des Zusammenlebens ergeben, ein Rechtssystem, das alle kennen, das von allen respektiert und vertreten wird. Es trägt den Namen Paschtunwali. Die Gesetze sind teilweise recht detailliert. Alle Menschen in der Gegend wissen, dass Naqib das Ödland für 15 Jahre gepachtet hat. Keiner von Naqibs Vertragspartnern hat jemals in Khost gelebt. Es sind alles keine Paschtunen. Aber die Menschen in Khost wissen, dass diese Fremden durch einen Vertrag mit ihrem Mitbürger Naqib verbunden sind. Deswegen haben sie die gleichen Rechte an dem Eukalyptuswald, wie er selber. Das Rechtssystem Paschtunwali schafft die nötige Rechtssicherheit für die Verträge. Ohne die wäre das Eukalyptuswaldprojekt nicht möglich. In anderen Provinzen fehlt diese Rechtssicherheit. Stammesrechte gibt es nicht oder sie sind viel schwächer ausgeprägt. Staatliche Gesetze sind zwar auch detailliert, aber die meisten Bürger kennen sie kaum und respektieren sie nicht. Richter und Staatsanwälte ignorieren Gesetze gegen Schmiergeld. Überall setzt sich unabhängig vom Gesetz der Stärkere durch – nicht so in Khost.

 

Naqib hat noch mehr Projekte

Die Unternehmernatur Naqib ist nicht durch ein Projekt zu bändigen. Schon vor zwei Jahren hat er ein weiteres Projekt begonnen. Diesmal arbeiten er und sein Vetter Hewad, der Leiter von OFARINs Finanzbüro, als Projektleiter zusammen. Sechs weitere Bekannte aus Khost sind mit Anteilen engagiert. Diesmal geht es um Asant oder auch „Teufelsdreck“.

Das Mark dieser Pflanze wird verharzt zu einem Gewürz verarbeitet, das Speisen den Geschmack von Zwiebeln und Knoblauch gibt. Vor allem spielt Asant aber als Heilmittel in Indien und Westasien eine wichtige Rolle. Dort wird es von der Bevölkerung in der Tiermedizin aber auch zum Pflanzenschutz (gegen Würmer und Insekten) eingesetzt. Beim Menschen senkt es den Blutdruck und mindert Blähungen. Das Asant wird auch in der Pharmaindustrie Indiens und Chinas weiterverarbeitet. Händler aus diesen Ländern kaufen Arsant in Afghanistan zu guten Preisen auf.

Aus dem Samen der der Asant-Pflanze entwickeln sich nach einem Jahr Stecklinge, die man dann einpflanzt. Nach weiteren drei Jahren bildet sich ein kleiner Busch mit einer Wurzel, die bis 80 cm in die Tiefe wächst. Wenn man eine dünne Scheibe von der Oberfläche der Wurzel abschneidet, tritt ein weißes Mark aus, das verharzt. Das kann man am nächsten Tag ernten. So erhält man in den sechs Sommermonaten alle zwei Tage etwa sechs Gramm Asant aus jeder Wurzel. Indische und chinesischen Händler zahlen 350 $ für ein Kilogramm Asant, lokale Händler 150 $ und mehr. Nach 15 Jahren sondert die Wurzel kein Asant mehr ab. Die Pflanze wird zu einem hohen Busch. Der bildet Blüten aus, aus denen man den Samen des Teufelsdrecks gewinnt.

Die Vermarktung der der Pflanze und ihres Marks ist vielseitig. Man kann den Samen verkaufen. Man kann die Setzlinge verkaufen, die man nach einem Jahr aus dem Samen gewinnt. Man kann Felder mit Teufelsdreck an Unternehmen zum Abernten verpachten. Man kann auch das Harz des Asants verkaufen. Es ist leicht aufzubewahren, riecht allerdings intensiv. Naqib und Hawed haben vor zwei Jahren 20.000 Büsche Asant gesetzt. In einem Jahr beginnt die Ernte.

Gerade beginnen Naqib und Hewad ein Projekt mit dem Blauglockenbaum. Der liefert leichtes, biegsames, aber stabiles Holz. Er hat große proteinhaltige Blätter, die in der Viehzucht gut zu verwenden sind. Und er bildet schöne große Blüten, die sechs Monate im Jahr blühen und die von Honigbienen gerne angeflogen werden. Die lange Blütezeit ist ein großer Vorteil für die Imker. Die meisten Blumen, die Bienen anfliegen, blühen nur zwei Monate lang. Viele afghanische Imker wechseln daher mehrmals im Jahr den Standort oder füttern den Bienen Zucker zu, was der Qualität des Honigs schadet.

Der Samen des Blauglockenbaumes ist teuer. Nach einem Jahr muss man die winzigen Setzlinge mit einer Pinzette vereinzeln. Die acht Unternehmer um Naqib und Hewad haben 50.000 Setzlinge vorbereitet und wollen sie in diesem Jahr setzen. Daraus soll sich die Holzproduktion entwickeln. Den Aufbau einer eigenen Imkerei planen sie nicht. Aber andere Imker könnten sich ansiedeln.

Naqib und Hewad müssen ihre Projekte als „Nebenerwerbslandwirte“ von Kabul aus betreiben. Den Personaleinsatz in Khost halten sie deshalb gering. Sie selber geben daher nicht vielen Menschen in Khost „Arbeit und Brot“. Das machen dann andere Firmen, z.B. diejenigen, die die Eukalyptusbäume fällen und abtransportieren oder die, die die Felder mit dem Asant pachten und täglich ernten. Naqib und Hewad zahlen Steuern für ihre Gewinne und sie schaffen Produkte, die von der Bevölkerung benötigt werden – im Falle des Holzes der Eukalyptusbäume sogar sehr dringend benötigt werden.

Wir wollten Sie mit diesem Bericht nicht darauf vorbereiten, dass wir OFARIN von einer Organisation, die Unterricht erteilt, zu einem Landwirtschaftskonzern umbauen wollen. OFARIN führt sein Unterrichtsprogramm uneingeschränkt fort und wird es möglichst ausbauen. Das Geld, das in den vorgestellten Projekten in Khost steckt, ist privates Geld von Afghanen, auch wenn einige von ihnen dieses Geld mit ihrer Arbeit bei OFARIN verdient haben.

Aber die Einstellung, mit der Naqib, Hewad und andere, wirtschaftlichen Fortschritt auf den Weg bringen, hat uns so begeistert, dass wir es Ihnen erzählen mussten. Wenn Sie oder Freunde von Ihnen meinen, dass man solche Menschen unterstützen muss, dann sind wir gerne bereit, das durch OFARIN zu ermöglichen. Nur darf das nicht auf Kosten des Unterrichtsprogrammes gehen.

Wir sehen selber auch noch nicht, was wir tun können, um Naqib, Hewad und ihren Freundinnen und Freunden zu helfen. Für das, was sie gerade schaffen, brauchen sie uns nicht. Aber vielleicht haben einige von Ihnen Ideen, wie das Potenzial dieser Kollegen, von dem wir bisher nichts ahnten, noch besser eingesetzt werden kann und wie das von außen stimuliert werden könnte.

Wenn Ihnen nicht gleich etwas einfällt, so freuen Sie sich mit uns über das, was in unseren Kollegen steckt. Wenn denen oder uns etwas einfällt, werden Sie das erfahren.

Ihnen allen ein Frohes Osterfest!

Herzliche Grüße,

Peter Schwittek.

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