Juli-Info aus Afghanistan: Auf & ab mit Unterricht für ältere Mädchen

Der Juni-Rundbrief wurde bald nach der Rückkehr aus Afghanistan geschrieben. Damals konnten wir unseren Unterricht fortsetzen. Offiziell war die Unterrichtung von Mädchen nur bis Klasse sechs erlaubt. Frauen durften grundsätzlich nicht studieren. Auf den ersten Blick betraf OFARIN das nicht, denn wir bieten nur elementaren Unterricht an, der nach dem amtlichen afghanischen Curriculum bis zur vierten Klasse abgeschlossen sein sollte. Doch die Einschränkung „bis Klasse sechs“ bezieht sich wohl nicht auf den Schulstoff, sondern auf das Alter der Schülerinnen. Und da die Leistungsfähigkeit afghanischer Schulen unglaublich schlecht ist und ein Teil der Frauen bisher überhaupt nicht zur Schule gegangen war, besuchten vor der Rückkehr der Taliban relativ viele erwachsene Frauen und junge Mädchen unseren Unterricht. Das war jetzt nur in bescheidenem Umfang wieder möglich. Wir hofften, dass wir mit Duldung der Behörden, den Unterricht für Frauen und Mädchen inoffiziell wieder ausbauen könnten.

Im Juni-Rundbrief habe ich ausgeführt, dass die Art der Auseinandersetzung, die internationalen Funktionäre aus ihrer Heimat gewohnt sind, gegenüber Taliban-Häuptlingen ungeeignet ist. Afghanen – nicht nur Taliban – die es zu Führungspositionen bringen, wurden von ihren Familien zu Machos aufgezogen. Sie erwarten, dass andere sie als Autorität respektieren und fürchten sich davor, ihr „Gesicht zu verlieren“. Sie können es nicht auf sich sitzen lassen, dass ihnen jemand vor Publikum widerspricht. In öffentlicher Konfrontation kann man mit ihnen keine Probleme lösen. Schrecklich ist es für sie, dass ihnen Frauen als Vertreterinnen internationaler Organisationen widersprechen und mit dem Entzug von Mitteln drohen, falls sie ihre Politik nicht ändern.

Nachdem führende Taliban dergleichen erleben mussten, bezeichneten sie alle Mitarbeiterinnen internationaler Organisationen als „frech“ und verboten ihnen, ihre Arbeitsplätze in den Büros zu betreten. Ausnahmen wurden für die Mitarbeiterinnen medizinischer und erzieherischer Programme gemacht. Die durften in Krankenhäusern, Laboren und Schulen arbeiten, aber nicht in den Büros. Das alles galt, wohlgemerkt, nicht für afghanische Hilfsorganisationen.

Dass unsere Kolleginnen nicht ins Büro kommen durften, nahmen wir nicht so genau. Lästig war es dennoch. Doch wir konnten damit leben. Es war wichtiger, dass unser Unterricht stattfand. Der Wunsch der Menschen nach Schulbildung wurde von vielen Seiten an uns herangetragen. Hohe Beamte des Ministeriums für Erziehung und der Provinzbehörden – das sind immer Taliban, meist Mullahs – drängten uns dazu, unser Programm auszudehnen. Wir hatten keine Zweifel: Der Wunsch nach Unterricht wird sich durchsetzen.

Doch kaum war der Juni-Rundbrief verschickt, da verschreckten uns Nachrichten aus Afghanistan. Unser Büro war telefonisch informiert worden, dass internationale Hilfsorganisationen den Unterricht bis auf Weiteres einstellen sollten. Die Begründung und Anweisungen zu Ausführungen würden noch schriftlich nachgereicht. Doch bisher – inzwischen sind vier Wochen vergangen – ist das nicht geschehen. Stattdessen wurden in ganz Afghanistan wegen der Sommerhitze unbefristete Ferien verfügt. Einige unserer Klassen baten darum, dennoch weiter arbeiten zu dürfen. Das haben wir ihnen erlaubt.

Auch wenn ich dazu in vorangehenden Rundbriefen schon einiges gesagt habe, trete ich jetzt einen Schritt zurück, um einen Überblick zu gewinnen: Seit 1919 regierte König Amanullah in Afghanistan. Er wollte sein Land „modern“ machen – wie Amerika oder die Länder in Europa. Ähnliches fand etwa gleichzeitig in der Türkei statt. Amanullah schuf ein Kabinett mit Fachministerien und Heerscharen von Beamten. Er verfügte die Schulpflicht und die Wehrpflicht. Eine kleine städtische Elite begrüßte diesen Aufbruch in die Moderne. Doch die meisten Afghanen sahen keinen Sinn in diesen Maßnahmen, die mit erheblichen Eingriffen in ihr Familienleben verbunden waren. „Warum soll es bei uns so werden, wie bei den Ungläubigen?“ fragten sie sich. Eingeschränkt wurde der Einfluss des islamischen Klerus, z.B. der religiös geschulten Kadis im Rechtswesen. Früher besuchten Kinder zur religiösen Unterweisung die Moschee. Manche lernten sogar beim Mullah schreiben und lesen. Jetzt musste der Mullah seinen Einfluss auf die Jugend mit dem Lehrer teilen. Der Klerus fürchtete, die Religion solle aus dem Leben der Menschen verdrängt werden und begann die Neuerungen der Regierung zu hintertreiben. Mullahs verkündeten, dass es Sünde sei, Kinder in die staatliche Schule zu schicken. Die Schule war ein Hauptkampfplatz zwischen der Tradition und der Moderne.

1929 musste Amanullah abdanken, weil sich bewaffneter Widerstand gegen seine Reformen erhob. Danach lebten Modernisten und Traditionalisten in erbitterter Feindschaft nebeneinander. 1978 wollten die Kommunisten mit Gewalt ihre Art der Moderne durchsetzen und scheiterten. Behauptet haben sich nach viel Blutvergießen die Taliban als Verfechter des traditionellen Stammeslebens und des Islam. Auch die Taliban kämpften gegen Schulen, insbesondere gegen Mädchenschulen. Die meisten Taliban-Krieger sind selber nicht zur Schule gegangen. Sie fürchten Schulen, weil sie dumpf ahnen, dass der Schulbesuch berufliche Perspektiven schafft, die sie versäumt haben.

Aber inzwischen hatten viele Afghanen längst verstanden, dass man die Zukunft ohne Schulbildung nicht gewinnen kann. Fernsehen und Mobiltelefon funktionieren nicht auf der Basis von Stammestraditionen und Scharia-Recht. Viele Afghanen hatten in Arabien und im Iran geschuftet. Sie mussten sich Europäern, Indern und Palästinensern unterordnen, weil die eine bessere Schulbildung haben. Die Mehrheit der Taliban-Minister und ihr Anhang hatten längst verstanden, Afghanistans Bevölkerung braucht eine solide Schulbildung.

Der Verteidigungsminister und der Innenminister setzen sich vehement für Schulen ein. Doch einige führende Taliban kämpfen noch gegen die Schulen des Königs Amanullah an, insbesondere das Staatsoberhaupt, der Emir Hobaitullah. Er hat befohlen, dass Mädchen nur bis zur sechsten Klasse in die Schule gehen und nicht studieren dürfen. Man tut sich schwer mit dem rückwärtsgewandten Mann, zumal er seinen Posten als relativ unbekannter Verlegenheitskandidat erhielt. Doch jetzt ist er der Anführer der Gläubigen, also eine religiöse Autorität. Nicht nur deshalb sollte man ihn nicht unterschätzen. Durch seinen Befehl zu Mädchenschulen und Frauenstudium hat er sich vermutlich zum Anführer eines starken Anteils der aktiven Taliban-Kämpfer aufgeschwungen.

Vor allem aber ist jetzt alles blockiert. Die Befürworter von Schulen werben für Unterricht und Bildung. Doch sie können dem Befehl des Emirs nicht offen widersprechen. Das könnte sich das Staatsoberhaupt nicht bieten lassen. Die Taliban-Bewegung würde in die Luft fliegen. So begnügen sich die Taliban damit, die Kritik internationaler Organisationen gemeinsam zurück zu weisen, und intern nach Auswegen zu suchen.

Dabei lässt man sich manches einfallen. Beamten im Erziehungsministerium erklärten z.B. unseren Mitarbeitern, dass OFARIN keine „internationale“ Organisation sei, sondern eine „ausländische“. Das würde uns hinsichtlich des Aufenthaltes unserer Mitarbeiterinnen afghanischen Organisationen gleichstellen. Unsere Damen könnten wieder im Büro arbeiten.

Tatsächlich sind kleine Hilfsorganisationen, die in einem anderen Land, z.B. Deutschland, registriert und nur in Afghanistan aktiv sind, nicht diejenigen, die gegen Entscheidungen der Taliban protestieren. Großorganisationen wie die Caritas oder die Agha-Khan-Foundation, die in vielen Entwicklungsländern tätig sind, müssen ihre weltweit geltenden Prinzipien verteidigen. Sie können sich nicht in Afghanistan etwas gefallen lassen, was sie in Vietnam oder Zimbabwe ablehnen. Die Unterscheidung zwischen internationalen und ausländischen Organisationen war eine gut gemeinte Schlitzohrigkeit von afghanischen Beamten. Leider ist sie durch unseren offiziellen Status nicht gedeckt.

Wir werden noch etwas Geduld und gute Nerven brauchen. Aber wir sind überzeugt davon, dass sich in Afghanistan ein normaler Schulbetrieb nicht mehr lange verhindern lässt. Wir planen, in einem guten Monat wieder nach Afghanistan zu reisen und werden Sie auf dem Laufenden halten.

Herzliche Grüße

Peter Schwittek.