Der zweite Bericht aus Kabul und zur Verwaltung in Afghanistan

Liebe Freunde,

wir sind also in Kabul. Unsere journalistischen Gäste (siehe den Bericht vom 3.7. im LB, Anm.d.Red.) sind wieder nach Hause geflogen, nachdem sie viele Informationen und Bilder über OFARIN und die Schulen gesammelt hatten. Ihr Hauptbericht wird zu einer Serie von Reportagen über Schulunterricht in Entwicklungsländern gehören, die in einer Reihe von rund 30 deutschen Zeitungen abgedruckt werden wird. Das Leitmedium dieser „Frankfurter Gruppe“ wird die „Frankfurter Rundschau“ sein, wo diese Berichte zuerst erscheinen. Der Bericht über Afghanistan soll in der FR nach dem 21.7. und vor dem 1.8. erscheinen, in den anderen Blättern etwas später. Außerdem haben unsere Gäste Radioberichte für den WDR vorbereitet. Wenn wir rechtzeitig Genaueres über die Erscheinungsdaten erfahren, werden wir das durchgeben. Außerdem werden wir die Reportagen in unsere Homepage zu setzen.

Natürlich erfährt man bei solchen Gelegenheiten genauer und intensiver, wie unser Unterricht bei unseren Schülern und ihrem Umfeld ankommt. Doch will ich mich zurückhalten und den Journalisten den Vortritt lassen. Eigenlob sollte man sich ersparen, solange andere einen loben. Wenn wir meinen, die Berichte unserer Gäste ergänzen zu müssen, werden wir das nach deren Erscheinen tun.

OFARINs Büro und seine Mitarbeiter arbeiten vorbildlich. Der Garten des Büros ist eng geworden. Die Kronen der Bäume haben sich kräftig ausgedehnt. Wir werden gefühlt eine Tonne Feigen ernten. Spatzen und Tauben fliegen kreuz und quer durch den Garten.

 

Wir sitzen auf der Veranda. Um 9:00 Uhr ist es 30 Grad warm. Wind zeigt an, dass es im Laufe des Tages noch deutlich wärmer werden wird. Eine Gruppe Kollegen hat sich mit einem Mitarbeiter des Ministeriums für Religiöse Angelegenheiten aufgemacht, Löhne für die Lehrkräfte in Ser-e-Kotal auszuzahlen. Die staatlichen Schulen sind wegen Corona geschlossen. Auch OFARIN hat seine Klassen aufgefordert zu schließen. Aber einige unserer Klassen haben beschlossen, trotzdem den Unterricht fortzusetzen.

Niemand überblickt die Corona-Situation. Einige Mitarbeiter wurden geimpft – mit indischem oder chinesischem Impfstoff. Die meisten waren schon erkrankt. Ingenieur Hamid verbrachte die letzte Woche am Krankenbett seiner Mutter, bis sie an der Seuche starb.

Von der Straße her lärmt es. Händler, sind mit Wagen unterwegs und preisen mit Lautsprechern ihr Gemüse an. Scharen von Eisverkäufern schieben kleine Wagen vor sich her und machen mit den immer gleichen Liedern für ihre Firma Reklame: „Jingle Bells“, „Für Elise“ und zum Erbrechen dominierend: „Happy Birthday to you“. Hubschrauber fliegen fleißig wie früher, auch wenn sie nur noch von der Regierung eingesetzt werden. Zu vorgegebener Zeit, leistet der Mullah den – qualitativ weitaus ansprechendsten – Beitrag zum allgemeinen Krach.

Ja, unsere Straße – als wir im Herbst 2019 das letzte Mal hier waren, hatte man begonnen, sie zu befestigten. Jetzt ist sie fertig. Wie bei vielen Straßen hatte man einen Teil des neuen Belages wieder aufreißen müssen, weil darunter noch Rohre verlegt werden mussten. Das passiert meist nicht aus Nachlässigkeit, sondern deutet auf Hahnenkämpfe in der Straßenbauverwaltung hin. Sei es wie es sei! Die Straße ist jetzt befestigt und viele Straßen in den Wohnvierteln auch. Auf Fahrten zu Gegenden, wo unser Unterricht stattfindet, werden wir durch neue Verbindungsstraßen überrascht. Ausfallstraßen werden erweitert. Einer unserer Gäste war schon öfter in Kabul. Er sagt: „Es stimmt einfach nicht, was manche meiner Kollegen schreiben, dass nichts entstanden ist.“ Recht hat er. Es sind auch Überlandstraßen entstanden. Allerdings wurden sie in umkämpften Gegenden von den Taliban wieder zerstört. Vielleicht kann man das mit militärtaktischen Erwägungen begründen. Man kann aber auch das Bestreben der pakistanischen Geldgeber der Taliban vermuten, Afghanistan technologisch im Mittelalter fest zu halten.

Auch im Hochbau ist in Kabul vieles entstanden. Geld ist da und ist nicht nur nach Dubai abgewandert. Darüber gibt es kaum Statistiken. Wir sind auf unseren Augenschein angewiesen. Dabei fällt auf, dass es in fertigen Hochhäusern sehr viel Leerstand gibt. Aus Gründen des Prestiges wird hoch und nach außen prächtig gebaut. Dann erfährt man, dass man im letzten Herbst festgestellt hat, dass man in den repräsentativen Bau da drüben besser eine Heizung hätte einbauen sollen. Im Winter musste dann ein Teil des feinen Stucks des Treppenhauses schnöden Eisenrohren weichen. Ein deutscher Ingenieur sagt, dass er sich nie an die Außenwand eines Raumes in einem afghanischen Neubau lehne. Die sei nur einen Stein stark und man wisse nie.

Ein ehemaliger OFARIN-Schüler ist ein tüchtiger Eisenbieger geworden. Er arbeitet bei der Armierung eines Wohnhochhauses mit. Wir besuchen ihn auf seiner Arbeitsstelle. Auf der Baustelle geht es zu wie auf denen, auf denen ich als Student in Deutschland gearbeitet hatte. Hier entstehen drei Blöcke. Nach sechs Jahren haben die Gebäude eine Höhe von elf Stockwerken erreicht. Nach wieviel Jahren? Ja, nach sechs Jahren. Manchmal wurde nicht gebaut, weil kein Geld da war. Auch wurde der Weiterbau wegen Corona unterbrochen. Die Blöcke sollen 15 Stockwerke hoch werden, vielleicht auch 25. Vermutlich gilt in der Stadt eine Obergrenze für die Höhe von Gebäuden, von der man hofft, dass sie eines Tages fällt. Bauherr ist das Wohnungsbauministerium. Die ausführende Baufirma ist ein Privatunternehmen. Es entstehen Zwei-, Drei- und Fünfzimmerwohnungen für Lehrer. Der Lehrer soll 600 $ pro Quadratmeter zahlen. Wie bitte? Ja die Lehrer erhalten einen Kredit, den sie in 15 Jahren abbezahlen. Der Lehrer verdient umgerechnet höchstens 100 $ im Monat. Wir sind ziemlich sicher, dass die drei Blöcke auch nach weiteren sechs Jahren nicht fertiggestellt sind und dass sich auch dann die Geschichte nicht rechnen wird, weder für die Lehrer noch für den Staat. Es tut der Leistung unseres Eisenbiegers keinen Abbruch, dass ein Hauch von Korruption in der Luft liegt.

Ja, seit 2002 ist einiges in Afghanistan geschehen. Mehrere Mobiltelefonsysteme ergänzen sich. Es gibt leistungsfähige Banken. Auch das Finanz- und das Wirtschaftsministerium scheinen wesentlich leistungsfähiger geworden zu sein als sie es je waren.

Ganz früher herrschte der Emir. Er ernannte Herrschaften zu Steuereinnehmern. Die traten mit der hoheitlichen Attitüde des vom Herrscher Ernannten auf. Wieviel sie einnahmen, blieb ihnen überlassen. Es musste nur für den Anteil reichen, der dem Emir zustand. Die Steuereinnehmer ernannten Untersteuereinnehmer und so weiter.

Während des ersten Weltkrieges schlug sich eine deutsch-österreichische Militär-Delegation bis Kabul durch und versuchte den Emir Habibullah zu einem Krieg gegen Britisch-Indien zu überreden. Das misslang. Aber die Delegation konnte andere Mitglieder des Königshauses und junge Adlige von den Vorteilen eines modernen Staates überzeugen, von Wehrpflicht und Schulpflicht, von einer vom Staat organisierten Justiz, und von einer möglichst zentral geführten Verwaltung. 1919 folgte dem Emir Habibullah der König Amanullah. Der war begeistert von den neuen Ideen und führte Reformen durch. Eine Verwaltung entstand mit Fachministerien. Alles musste von der Hauptstadt aus entschieden werden. Für viele Afghanen begann die Moderne. Ihr Land war organisiert wie England oder Italien. Für die neue Verwaltung zu sein, war eine politische Haltung. Die anderen Afghanen waren ungebildet und rückständig. Die Wortführer der städtischen Eliten bestärkten die neue Verwaltung in ihren Dünkeln. Die neuen Verwaltungsbeamten pflegten die gleiche hoheitliche Anmaßung wie die Büttel des Emirs, die die Steuern eintrieben.

Für die Kommunisten, die zwischenzeitlich an die Macht kamen, entsprachen solche Staatsbeamten genau ihren Vorstellungen und Wünschen. Gesetze wurden geschaffen, die die Entlassung von Staatsdienern faktisch unmöglich machten.

Daran änderte sich auch nach 2002 nichts. Die Regeln, die für die gegenseitige Kontrolle von Regierung und Parlament sorgen sollten, machten es leicht, Minister zu entlassen. Die Beamten saßen auf ihren sicheren Stühlen und sahen viele Minister kommen und gehen.

Die Beamten verfeinerten die Gesetze und Vorschriften immer mehr, um alles zu kontrollieren und immer mehr Bürgern den Zugang zu staatlichen Leistungen oder Genehmigungen zu erschweren. Wenn der Bürger eine Unterschrift oder einen Stempel benötigt, kann er das nur durch hohe Schmiergeldzahlungen erreichen.

Diese Verwaltung hält sich praktisch für den Besitzer des Staates und für die Obrigkeit aller Bürger. Eine eigene Verantwortlichkeit für das Land und für die Allgemeinheit ist ihr fremd. Die internationale Gemeinschaft hat zwei Jahrzehnte lang diese Verwaltung ganz überwiegend finanziert. Sie hatte also durchaus die Mittel in der Hand, diese Verwaltung anders zu prägen. Stattdessen hat man dieser Verwaltung Milliarden von Dollars und Euros ohne alle Bedingungen und Kontrolle überlassen. Sicher hat die internationale Gemeinschaft nicht das Personal, jeden afghanischen Beamten zu überwachen. Aber man hätte mit jedem Minister und seinen höchsten Verwaltern jede monatliche Zuwendung durchsprechen können und müssen. Man hätte die Verwendung gemeinsam beschließen und nach festen Fristen gemeinsam überprüfen müssen, was von den Absprachen umgesetzt wurde. Das hätte dem Minister und seinen Verwaltungsfürsten klar gemacht, wie mit öffentlichen Geldern umzugehen ist. Sie hätten eine Weile gebraucht, bis sie sich gefügt hätten. Doch im Laufe von 20 Jahren wären die ihnen aufgenötigten Haltungen auch von ihren nachgeordneten Stellen verinnerlicht worden. Es ist nicht so, dass der korrekte Umgang mit öffentlichen Geldern der afghanischen Kultur vollkommen fremd ist. Afghanen wissen auch auf diesem Gebiet sehr wohl zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Und die meisten Menschen sind sogar dankbar dafür, wenn man ihnen dabei hilft, auf der richtigen Bahn zu bleiben.

Ein anderes Problem bieten Fachministerien, z.B. das für Erziehungswesen. Ein solches Ministerium müsste Vorschriften für eine erfolgreichen Schulunterricht entwickeln. Das afghanische Erziehungsministerium erlässt durchaus Vorschriften für den Schulunterricht. Doch die dienen fast nie dem Erfolg des Unterrichtes. Das liegt daran, dass es in Afghanistan einfach keine Fachleute für einen halbwegs erfolgreichen Unterricht gibt – weder im Ministerium noch in den Schulen oder an der Universität. „Afghanistan kann keine Schulen.“ Das haben vermutlich auch ausländische Experten erkannt, doch haben sie keine Möglichkeiten gesehen, mit ihren eigenen bürokratischen Apparaten wie USAID oder GIZ etwas daran zu ändern. Deshalb haben sie die Schulen in den Bereich der afghanischen Souveränität verwiesen, was es ihnen erlaubte, dem Problem aus dem Weg zu gehen. Man kann den westlichen Staaten nur dringend empfehlen, ihre eigenen Entwicklungshilfebürokratien zu überprüfen.

Liebe Freunde, einige von Ihnen werden enttäuscht sein: Jetzt ist der Kerl mit seiner Frau endlich in Afghanistan und noch immer berichtet er nicht, wie es weitergeht. Was hatten sie erwartet? Was meine Kollegen und ich über die Lage sagen können, stand in den vorangehenden Rundbriefen. Meine afghanischen Kollegen und ich haben schon vorher mehr über die Gesamtlage gewusst, als die meisten jungen, wagemutigen Journalisten, die jetzt wegen des Truppenabzuges mal schnell nach Afghanistan geschickt werden. Woher soll ich hier und jetzt etwas erfahren, was über mein bisheriges Wissen hinausgeht? Selbst wenn mir Entscheidungsträger der Taliban oder der Regierung über den Weg liefen, würden sie mir nicht auf die Nase binden, welche Pläne sie haben. Wenn die Regierung und die Taliban jetzt ernsthaft über die Zukunft ihres Landes verhandeln, werden sie das dort tun, wo ihnen keiner zuhören kann. Ich hoffe nur, sie tun genau das.

Sonst will ich Ihnen meine neue afghanische Telefonnummer mitteilen (0093-799 545 934) und die von meiner Frau Anne Marie (0093-799 545 930). Wenn Sie aber eine dieser Nummern wählen sollten, um etwas über die Zukunft Afghanistans und die Taliban zu erfahren, werden wir sofort auflegen.

Herzliche Grüße,

Peter Schwittek

Siehe auch: www.OFARIN.de

Wenn Sie sich am Stattfinden des Unterrichts beteiligen wollen, hier das

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