Ein erster Bericht aus Kabul: Drohen Stellvertreter-Kriege?

Dieser Bericht kommt aus Kabul. Ja, wir – Anne Marie und ich – sind jetzt in Afghanistan, zusammen mit Uli Reinhardt und Markus Wanzeck von der Reportageagentur „Zeitenspiegel“. Die Journalisten wollen einen Beitrag zu einer Serie von Berichten über Schulen in der Dritten Welt liefern, die in einem Teil der deutschen Zeitungen erscheint.

Das wird uns für eine gute Woche sehr beanspruchen. Daher will ich hier noch nicht über frische Erlebnisse in Afghanistan berichten. Vielleicht erscheinen im Juli zwei weitere Berichte. Hier will ich auf dunkle Ahnungen eingehen, die mir und afghanischen Partnern schon in Telefonaten von Deutschland aus kamen und die in ersten Gesprächen hier verstärkt wurden.

Auf vieles, was ich in früheren Rundbriefen, dargestellt habe, kann ich zurückgreifen. Wie schnell sich daraus Entwicklungen ergeben, hatte ich unterschätzt. Doch eigentlich lag es auf der Hand.

Der Einsatz des ausländischen Militärs seit 2001 war nicht sinnlos. Nach dem Sturz der Kommunisten 1992 fielen die Sieger, die Mudschaheddin, brutal übereinander her. Sie bestanden aus mehr als zehn Parteien unter der Führung von Herren, denen man fast allen das Niveau von sehr schlicht denkenden Räuberhäuptlingen zubilligen darf. Jeder von denen wollte die ganze Macht. Gegen diese Parteien schuf Pakistan die von ihm abhängige Ordnungsmacht der Taliban. 2001, nach der Vertreibung der Taliban hatte man von 1992 gelernt: Man durfte die Mudschaheddin und ihr einfältiges Führungspersonal nicht wieder alleine lassen. Man schuf die ISAF, eine internationale Truppe, der zuerst keine Amerikaner angehörten. In deren Anwesenheit wagten es die Kriegsfürsten nicht, ihren Kampf um die Macht wieder aufzunehmen. Staatlicher Aufbau konnte beginnen.

Dennoch erblühten keine Landschaften. Die internationale Gemeinschaft hatte kein Konzept, wie die Erholung und weitere Entwicklung aussehen sollte. Die afghanische Verwaltung war schon im tiefsten Frieden ihren Aufgaben kaum gewachsen. Seit 1978 hatten Vertreibungen und Säuberungen der Kommunisten und später der Taliban diese Verwaltung qualitativ praktisch vernichtet.

Seit 2001 kippte die internationale Gemeinschaft dieser Verwaltung Milliarden Dollars und Euros vor die Füße, damit sie für die Sicherheit der Bürger, die Rechtsstaatlichkeit, für das Gesundheits- und das Schulwesen sowie für Strukturen zur Entwicklung der Wirtschaft sorgen sollte – ein vollkommen absurdes Vorhaben. Nun gut, dieses Gewurstel einer Verwaltung, die nicht weiß, wozu sie da ist, mit wahnsinnig viel Geld wurde ergänzt durch Unterstützungen seitens fremder bürokratischer Strukturen. Im Schulwesen mischten sich die Ausländer nicht in den Unterrichtsbetrieb ein, boten aber Lehrerfortbildungen an, die keine Beziehungen zu dem Geschehen in den Schulklassen hatten. Im Rechtswesen gab es zeitweise Kurse über Prozessführung von deutschen Juristen, die aber ohne Einfluss auf die Rechtspraxis blieben. Die Aufwendungen für derart gut Gemeintes aber Wirkungsloses und die Bürokratien, die so etwas veranlassten, summierten sich insgesamt ebenfalls auf Milliarden. Grob gesagt: Die ISAF hatte Freiräume für eine zivile Entwicklung geschaffen, doch die Entwicklungsbürokratien der internationalen Gemeinschaft und die afghanische Verwaltung waren unfähig, diese Freiräume zu nutzen.

Leider war nicht nur die ISAF in Afghanistan eingerückt, sondern auch das amerikanische Kontingent „Enduring Freedom“, das gegen den Terrorismus kämpfte (?). Diese Truppen leisteten sich viele rücksichtslose Übergriffe auf die Zivilbevölkerung. Es schien, als ob die Enduring Freedoms Rache für die Überfälle vom 11.September 2001 in den USA üben sollten. Die Enduring Freedoms führten der für besiegt gehaltenen Bewegung der Taliban frisches Personal zu und sorgten so für deren Wiedererstarken.

Gegen Ende seiner Amtszeit, rief der afghanische Präsident Karzai die Loya Jirga zusammen, eine 3000-köpfige Versammlung von Stammesältesten und Honoratioren. Die sollte ihre Meinung zu einem von den Amerikanern angestrebten Truppenstationierungsvertrag sagen. Die Vertreter der Bevölkerung forderten mit überwältigender Mehrheit die sofortige Unterzeichnung des entsprechenden Vertrages. Sie fürchteten, dass die alten Warlords wieder übereinander herfielen, wenn keine ausländischen Truppen anwesend sind.

Jetzt ziehen die ausländischen Truppen tatsächlich ab, und die Machtergreifung der Taliban droht. Schon bewaffnen die Mudschaheddinführer ihre Anhänger und versprechen, die Bevölkerung gegen die Taliban zu verteidigen. Erste Kämpfe finden statt.

Die Bewaffnung und Besoldung der Anhänger der alten Kriegsherren kostet. Wer bezahlt so etwas? Ganz einfach: Es gibt kaum Nachbarn Afghanistans, die die Übernahme der Macht durch eine islamistische sunnitische Partei gleichgültig ließe.

Ein Zipfel Afghanistans reicht bis an die Westgrenze Chinas. Jenseits der Grenze treibt die chinesische Regierung gnadenlos die Assimilierung der islamischen Bevölkerung an ihr Gesellschaftssystem voran.

Im Westen Afghanistans liegt der Iran. In vielen Teilen der islamischen Welt hat der Iran Milizen aufgebaut, die den Einfluss des Mullah-Regimes stärken und die Durchsetzung eines schiitischen Islams iranischer Prägung fördern sollen. Schon an den innerafghanischen Kämpfen gegen die Kommunisten und später unter den Mudschaheddin nahmen von Teheran gesponserte schiitische Milizen teil.

Aber auch Länder wie Usbekistan, die unter korrupten Führungen leiden und von radikalen Islamisten destabilisiert werden, sehen sich von den Taliban bedroht. Außerdem fühlen sie sich Bevölkerungsteilen der eigenen Ethnie in Afghanistan verbunden.

Die Amerikaner baten die Türkei, die Sicherung des Kabuler Flugplatzes während und nach ihrem Abzug zu übernehmen. Dagegen protestierte Russland sofort. Also auch diese Länder scheinen sich auf die Einmischung in dem entstehenden Konfliktherd vorzubereiten. Es wäre ein Wunder, wenn die das nicht täten. Schließlich haben sie sich in den letzten Jahren in fast allen Weltgegenden engagiert, in denen es Unruhen gibt – übrigens immer auf der jeweiligen Gegenseite.

Die zahlreichen interessierten Länder brauchen also nur die Hände der Warlords zu ergreifen, die sich ihnen in der Hoffnung auf Waffen und Geld entgegenstrecken. Dann gibt es in Afghanistan ein Stellvertreterkrieg, der hinsichtlich der Teilnehmer vielseitiger ist als der von 1992 bis 2001. Das Tandem Pakistan und die Taliban wird nur eine Partei unter anderen sein und der Ausgang wird von ausländischen Mächten bestimmt werden, wenn es denn überhaupt einen gibt.

Diese Perspektiven bestimmen das Denken der Menschen. Während vor wenigen Wochen noch eine euphorische Hoffnung auf Frieden herrschte, denken jetzt viele an Flucht. Immobilien und andere Besitztümer werden günstig angeboten. Den beschwichtigenden Stellungnahmen der Taliban, dass ehemalige Hilfskräfte der ausländischen Streitkräfte nichts zu fürchten hätten und dass ausländische Hilfsorganisationen bitte weiterarbeiten sollen, traut man nicht. Es stimmt, dass die Taliban ein sehr heterogener Haufen sind. Und es stimmt, dass über Erfolge bei Verhandlungen zwischen den Taliban und der Regierung nichts zu hören ist. Aber das ist selbstverständlich. Solche Verhandlungen führt man nicht in der Öffentlichkeit.

Es wird sicher viel Interessantes geben, über das zu berichten ist. Aber es wird besser sein, wenn wir etwas Zeit haben, um genauer hin zu sehen. Wir melden und bald wieder.

Lesen Sie mehr über die Verhältnisse und das Denken in Afghanistan unter www.OFARIN.de !
Am 24.9.2001 erschien im www.LeineBlick.de eine erste Analyse von Herrn Schwittek, die die Umstände beschreibt, die den Anschlag auf das World Trade Center begleiteten. – Weitere Berichte aus dieser Zeit finden Sie HIER.