Inzwischen bin ich aus Afghanistan zurück. Mein Aufenthalt dort war vom Anfang bis zum Ende geprägt davon, dass meine Augen juckten und tränten, dass ich oft husten musste und die Nase lief. Es stellte sich heraus, dass das daran lag, dass wir unseren vernachlässigten Garten in Schuss gebracht hatten. Unser Wachhund dort machte das nicht einfach. Im Frühjahr wurden Zäune gesetzt, die Hund und Blumen trennten. Dann wurde gepflanzt. Eine Pflanze wucherte besonders kräftig – die Engelstrompete. Bei Google erfährt man, dass diese Pflanze sehr giftig ist. Auch der schwache süßliche Geruch, den sie von sich gibt, ist giftig. Der erfasste unseren gesamten Wohnbereich. Kurz vor der Abreise stellte ich fest, dass ich, wie immer im September, unter einem Mückennetz geschlafen hatte, dass aber keine Mücken im Haus lebten. Ich hatte nie Hunger und habe wohl auch nicht viel gegessen. Auf der Rückreise bin ich dann auf dem Kabuler Flugplatz zusammengebrochen und holte mir eine Platzwunde am Hinterkopf. Dort gibt es einen kompetenten medizinischen Notdienst, so dass ich reisen konnte. Auf dem Frankfurter Flugplatz gelang es mir nicht, meine beiden Rollköfferchen auf eine abwärts führende Rolltreppe zu platzieren. Ich landete kopfunter zwischen meinem Gepäck. Das Flugplatzpersonal hat mir wieder auf die Beine geholfen.
Während meines Aufenthaltes in Afghanistan haben wir unsere Aktivitäten fortgeführt. Unser Unterricht ist sehr gefragt. Die neuen Nussbaumpflanzungen in Dzadzi-Maidan sind gerade heute genehmigt worden. Täglich gingen unsere Mitarbeiter ins Landwirtschaftsministerium und erklärten Staatsdienern, warum wir was wie machen. Ein Beamter beanstandete, dass wir für die Bewässerung der Nussbäume keine Kanäle eingeplant hatten. Er hatte keine Ahnung, wie stark die Niederschläge in dieser an das Industal grenzenden Provinz sind.
Solche Beamte beherrschen die Ministerien in der Hauptstadt. Sie verhindern viele sinnvolle Initiativen.
Unsere Hebammen arbeiten im Stadtteil Schindowal. Sie beraten Schwangere und versorgen Neugeborene und deren Eltern mit Nahrung und Medikamenten. Unsere Hebammen stehen dabei mit einem Bein im Gefängnis. Sie dürften eigentlich nicht arbeiten. Wir haben im Frühjahr einen Antrag gestellt. Aber das Gesundheitsministerium ist bis jetzt nicht in der Lage, unsere Arbeit zu genehmigen oder eben nicht.
Dagegen ist die Verwaltung des Erziehungsministeriums recht aktiv. Das Ministerium prüft die Arbeit aller Hilfsorganisationen. Es hat sich herausgestellt, dass viele Organisationen für sich viel zu hohe Zahlen an Klassen und Schülern reklamiert hatten. Insbesondere nach dem Einmarsch der Taliban hatten viele Ausländer das Land verlassen und afghanische Mitarbeiter hatten die Bankkonten ihrer Organisationen geplündert. Das Erziehungsministerium hatte jetzt alle Schulklassen von Hilfsorganisationen besucht und sich ein Bild vom Unterricht gemacht. Im Frühjahr soll entschieden werden, welche Organisationen weiterarbeiten dürfen. Wir sehen dem gelassen entgegen. Man war überall mit unserem Unterricht zufrieden.
Insgesamt hat sich das Beamtentum, das der König Amanullah vor gut einem Jahrhundert in Afghanistan eingeführt hat, auch im Reich der Taliban durchgesetzt. Es hat die Monarchie, die „Republik“ unter dem Präsidenten Daud, die Herrschaft der Kommunisten, den Bürgerkrieg überstanden und durchsetzt jetzt auch die Herrschaft der Islamisten. Diese Herrschaft der Bürokraten ist nicht dem Wohl der Allgemeinheit verpflichtet. Der afghanische Beamte ist überzeugt davon, dass er berufen ist, alles Leben in seinem Land zu regulieren. Dagegen gibt es kaum Regeln, die die Willkür der Beamten einschränken. Immerhin scheuen sich die Taliban nicht, besonders korrupte Beamte, auch solche, die zu ihrer Bewegung gehören, zu bestrafen und zu entlassen. Eine starke Fluktuation der Beamtenschaft zeugt davon, dass die Taliban versuchen, die Positionen möglichst effizient zu besetzen. Auffallend ist der Unterschied zwischen Beamten in den Ministerien und Provinz- oder Bezirksbeamten. Lokale Beamte sind näher am Geschehen. Sie müssen damit rechnen, von der Bevölkerung zur Rede gestellt zu werden. Dieses Problem haben die Ministerialen im fernen Kabul nicht. Ihre höchste Pflicht ist es, ihre Hoheitlichkeit zur Schau zu stellen.
Für die Grundzüge der Politik ist die Talibanführung zuständig. Die ermunterte Kriegsgegner beim Neuaufbau des Landes mitzuarbeiten. Die Ethnien sollten nicht diskriminiert werden. Solche vernünftigen Ansätze finden oft ihre Grenzen an persönlicher Rachsucht und alten Feindschaften. Doch insgesamt trugen sie zur Beruhigung der Menschen und zur Akzeptanz der Taliban-Herrschaft bei. Führende Taliban und auch die Mehrheit ihrer Anhänger befürworteten eine effiziente Bildungspolitik und die konstruktive Zusammenarbeit mit dem westlichen Ausland. Doch die Taliban-Führung hatte 2021 mit Mullah Haibatullah Akhondzadah einen bis dahin nicht sehr prominenten Funktionär zum Emir gemacht. Ein Emir ist nicht nur Staatschef, sondern auch Anführer der Gläubigen, also auch das religiöse Oberhaupt.
Kurz nach seiner Ernennung entsetzte der Emir die Bevölkerung und viele Taliban mit der Entscheidung, Mädchen nur den Besuch der Schule bis zur sechsten Klasse zu erlauben und Frauen das Studium zu verbieten und ihre Berufstätigkeit stark einzuschränken. Der Verteidigungsminister und der Innenminister drängten den Emir, die Entscheidung rückgängig zu machen. Der Innenminister begann in einigen Provinzen eine Werbekampagne für Schulbildung. Aber der Emir Haibatullah blieb bei seinem Erlass und seine Gegner vermieden die offene Auseinandersetzung. Vermutlich hätte offener Widerspruch gegen den Befehl des Emirs die Taliban-Bewegung zerrissen.
Diesen Sommer hat der Emir nachgelegt. Musik wurde untersagt. Frauen dürfen in der Öffentlichkeit, in der sie sich ohnehin nur voll verschleiert und in männlicher Begleitung bewegen dürfen, nicht laut sprechen. Gläubige dürfen keine Freundschaft zu Ungläubigen pflegen. Der Emir entschied, dass Fotos und Filme von Lebewesen im Islam verboten seien. Auch diesmal wurde offener Widerspruch vermieden. Dabei dürften selbst die allermeisten Taliban nicht die Absicht haben, sich an die Gebote ihres Anführers zu halten, die sich aus dessen Einsichten ergeben. Diese stehen im krassen Widerspruch zur Lebenswirklichkeit. Jeder Afghane besitzt z.B. ein Mobiltelefon, mit dem er fotografiert und filmt.
Wahrscheinlich werden die Anordnungen des Emirs mehr und mehr ignoriert werden. Damit wird es in Afghanistan bald kaum noch verbindliche Gesetze geben. Eine solche Perspektive ist durchaus nicht nur erfreulich.
Wie sieht sich OFARIN in dieser Konstellation? Wir haben es mit der Politik der Taliban und mit dem Beamtenapparat zu tun. Die Auseinandersetzung mit der Bürokratie ist offensichtlich eine langfristige Aufgabe. OFARIN sieht keine andere Möglichkeit, als sich mit den Anforderungen der Bürokratie zu arrangieren. Die afghanischen Kollegen von OFARIN zeigen dabei sehr viel Langmut, viel mehr als es mir persönlich möglich wäre. Sie gehen geduldig auf immer neue bürokratische Zumutungen ein. Doch nur so gelingt es allmählich eine sachliche, konstruktive Zusammenarbeit aufzubauen. Die Beamten müssen sehen, dass wir uns bemühen, ihre Anforderungen zu erfüllen. Erst wenn sie die Erfahrung machen, dass an unserer Arbeit in der Regel nichts auszusetzen ist, werden sie davon ausgehen, dass es nicht der Mühe wert ist, bei OFARIN jede Kleinigkeit zu prüfen. Auch darf nie der Verdacht aufkommen, dass OFARIN Schmiergeld zahlt, um sich langwierige Prüfverfahren zu ersparen. Wer einmal gezahlt hat, holt sich damit beliebig viele weitere Prüfverfahren ins Haus. Langfristig macht sich eine Hilfsorganisation gegen Schwierigkeiten mit der Bürokratie immun, indem sie sich den Ruf erarbeitet, erfolgreiche Projekte zu betreiben.
Das Erziehungsministerium verschafft sich durch eine gründliche Untersuchung einen Überblick über die Qualität des Tuns der Hilfsorganisationen. Wenn es dabei halbwegs redlich zugeht, ist das ein großer Vorteil für uns. Die Pflanzung von 33.500 Nussbäumen in Khost im Winter 2023/24 hat bei den Landwirtschaftsabteilungen in der Provinz Khost großen Eindruck gemacht. Das sind erste Schritte.
Die Einflüsse der Politik der Taliban, namentlich des Emirs Haibatullah sind nicht gut vorhersehbar. Sicher sind auch hier sehr gute Projekte eine Vorbedingung für eine gute Akzeptanz bei den politischen Kräften. Es besteht aber schnell die Gefahr, dass OFARIN mit seiner Arbeit gegen Erlasse des Emirs verstößt. So werden unsere Mitarbeiter natürlich neu gepflanzte Nussbäume fotografieren, um ihre Arbeit zu dokumentieren. Aber Nussbäume sind Lebewesen. Wenn man Pech hat, wird ein engagierter Religionspolizist einschreiten und unkalkulierbare Schwierigkeiten bereiten. Insbesondere die zu erwartende allmähliche Missachtung der rigorosen Vorschriften des Emirs erfordern eine gute Anpassung. Wir erwarten, dass die Bestimmungen für die Mitarbeit von Frauen und den Unterricht von Mädchen zunehmend weniger beachtet werden. Natürlich wollen wir entstehende Freiräume für unsere Kolleginnen und Schülerinnen nutzen. Doch es wird in jedem Fall eine heikle Ermessensfrage sein, wie weit wir gehen können.
Im Garten unseres Kabuler Büros wurden alle Engelstrompeten, ja selbst ihre Wurzeln, ausgegraben und verbrannt. Wir reisen in der ersten Novemberhälfte wieder nach Afghanistan.
Herzliche Grüße,
Peter Schwittek.