Aktueller Bericht von Erfahrungen in Afghanistan

Zwischen die Nachrichten von akuten kriegerischen Ereignissen, drängte sich Furchtbares aus Afghanistan in die Medien. In der Provinz Herat, im Westen Afghanistans, gab und gibt es noch immer eine Serie schwerer Erdbeben. Das Gebiet ist schlecht zugänglich. Man kann die Schäden noch nicht übersehen. Aber dass Tausende umgekommen sind, ist leider sicher.

Erwarten Sie bitte nicht, dass OFARIN als Hilfsorganisation, die in Afghanistan arbeitet, dort Hilfe leistet! Herat ist von Kabul aus gut 800 km weit weg. In der Praxis ist das so weit weg wie von Ihnen zu Hause. Zwar könnten wir mit großem Aufwand dort hinreisen. Dann würden wir dort wirklichen Helfern im Wege stehen. Wir haben keine Geräte und keine Erfahrungen. Einige professionelle Nothelfer sind inzwischen dort. Wenn man nicht direkt helfen kann, könnte man vielleicht etwas für die Überlebenden tun. Man könnte helfen, erdbebenfestere Häuser zu bauen. Aber das hilft den Betroffenen frühestens nach Monaten. Auch für solche Hilfen sind Fachleute nötig, die wir nicht haben.

Wir mussten das Unglück im Westen Afghanistans ignorieren und haben uns auf unsere Aufgaben konzentriert. Unser Hauptarbeitsgebiet ist nach wie vor der Schulunterricht. Die Einstellung des afghanischen Staates, insbesondere des Erziehungsministeriums, zur Erziehung und Ausbildung, vor allem von Mädchen und Frauen, hat sich nicht geändert. OFARIN hatte im Frühjahr einen Partnerschaftsvertrag mit dem Erziehungsministerium abgeschlossen. Im Sommer wurde mündlich verfügt, dass der Unterricht von ausländischen Hilfsorganisationen vorerst nicht fortgesetzt werden soll. Eine dazu angekündigte schriftliche Mitteilung wurde bis heute nicht geliefert. Später teilte uns ein höherer Beamter mit, dass ausländische Organisationen nur weiter unterrichten dürften, wenn sie sich in afghanische Organisationen umwandeln. Andernfalls müssten sie ihren Vertrag mit dem Ministerium für Erziehung kündigen. Der Beamte weigerte sich, diese Anweisungen schriftlich zu geben

Darauf beschlossen die Mitarbeiter von OFARIN, nur schriftliche Mitteilungen mit amtlichen Stempeln zur Kenntnis zu nehmen und unseren Unterricht fortzusetzen. Bis dahin hatte die im Sommer verfügte Unterrichtsunterbrechung Schaden angerichtet. Wir hatten nämlich zunächst in vielen Standorten den Unterricht tatsächlich eingestellt. Löhne waren nicht gezahlt worden. Unterrichtsmaterial wurde nicht ausgeliefert. Seminare, in denen Lehrer auf neue Stoffgebiete vorbereitet wurden, fanden kaum statt. Nun lief der Betrieb wieder an. Die meisten Schäden sind beseitigt.

Wir wissen bisher nicht, wie das Ministerium zu dieser Weiterarbeit steht. Möglicherweise tut es so, als hätte es seine mündlichen Einlassungen nie gegeben. Dann tun wir auch so. Wird die Weiterarbeit aber als illegal behandelt, so haben alle Klassen von OFARIN beschlossen, dennoch weiter zu arbeiten. Etwaigen Kontrolleuren der Taliban wird dann gesagt, dass die Familien der Schüler den Unterricht bezahlten. Tatsächlich würde OFARIN dafür aufkommen. So oder so ähnlich handeln auch andere ausländische Hilfsorganisationen.

Das Ministerium hat seitdem – obwohl wir nach mündlicher Order nicht unterrichten dürften – viele unserer Klassen in der Stadt Kabul besuchen lassen: Beamte haben darüber einen ausführlichen Bericht verfasst. Sie waren überaus zufrieden und lobten unser Tun.

Im Stadtteil Dascht-e-Bartschi haben wir zwölf Mädchenklassen und eine Jungenklasse. Die ministerielle Untersuchungskommission wurde dort von einem Taliban-Mullah angeführt. Empfangen wurde die Kommission von unserer Trainerin Rahima. Nach orthodoxer Taliban-Lehre hätte es dieses Geschlechtergemisch nicht geben dürfen. Der Mullah war sehr barsch und unhöflich. Er stellte viele Fragen, die ihm Rahima beantwortete. Immerhin hörte er sich die Erklärungen geduldig an. Er wurde freundlicher und milder. Zum Abschied erklärte er Rahima, dass 95 % der Taliban gegen die Einschränkungen des Unterrichts und der Ausbildung von Mädchen und Frauen seien. Nur 5 %, die allerdings oben säßen, verhinderten einen vernünftigen Unterricht. Rahima rief uns sofort an und erzählte von dem Besuch.

Wir waren in Khost. Dort wollen wir bald mit Unterricht beginnen. Ein Lehrer und seine Schwester sollen mit einer Jungen- und einer Mädchenklasse beginnen. Denen hatten wir Material über unseren Unterricht und die Methoden gegeben. Das hatten sich die beiden angesehen und waren begeistert. Auch Mir Wais hatte unser Material gelesen und war begeistert. Mir Wais ist der älteste Sohn unseres alten Freundes Khazan Gul, bei dem wir in Khost wohnten. Mir Wais ist für einige Privatschulen verantwortlich. Privatschulen erheben Gebühren von den Schülern. Einige Schüler erhalten Stipendien. Privatschulen müssen sich an die Regeln und das Curriculum der staatlichen Schulen halten.

Später besuchten wir die Schule von Senaki am Rande der Berge im Süden von Khost, die von einem sehr agilen Schulleiter geführt wird. Wir können uns vorstellen, dass man eines Tages auch dort nach unseren Konzepten unterrichtet. Doch um unsere Methoden in Khost so zu verbreiten, wie es möglich wäre, müssen wir viel Personal schulen. Mir Wais bot an, eine afghanische Organisation zu gründen, die als Partner OFARINs Programm durchführt. Wenn das Erziehungsministerium wieder darauf drängen sollte, dass Organisationen, die Unterricht erteilen, afghanisch sein müssen, würde diese Konstruktion weiterhelfen. Darüber hinaus, wäre solch‘ eine afghanische Organisation ein Rahmen, in den sich die verschiedensten interessierten Schulen der Provinz einfügen könnten, die an einer Zusammenarbeit mit OFARIN interessiert sind.

In Khost waren wir aber auch, weil dort mit der Pflanzung von 20.000 Walnussbäumen begonnen wird. Jeder Setzling wird in eine 60 cm tiefe, 60 cm breite und 160 cm lange Grube gepflanzt, in der sich Regen- und Schmelzwasser sammeln können. 100 Männer werden vier Monate lang daran arbeiten. Der vor Jahrzehnten entwaldete Hang eines hohen Berges wird so begrünt werden. Mit den Walnüssen können die Einwohner ihren Lebensunterhalt aufbessern. Die Kollektivwirtschaft, die hier durch die intakten Stammesstrukturen möglich ist, dürfte Wirtschaftswissenschaftler interessieren. Auf Stammesversammlungen werden alle Entscheidungen getroffen. Die Durchführung liegt dann in der Hand eines Komitees von acht Personen. Unsere Mitarbeiter hatten lange mit dem Stamm verhandelt, bis sie sicher waren, dass die Nussbäume dauerhaft zum Leben der Bevölkerung gehören werden.

Die Schulen, die Pflanzungen und auch das Hebammenprogramm, über das im September berichtet wurde, alle diese Programme und ihre Einzelheiten gehen großenteils auf unsere Mitarbeiter oder die Personen zurück, die von den Aktivitäten betroffen sein werden, also auf Afghanen. Wenn wir uns auf ein Programm geeinigt hatten, ließen unsere afghanischen Freunde und Kollegen nicht locker und drängten auf die Durchführung. Wir Ausländer hören uns die Vorschläge der Freunde an und stellen Fragen dazu. Wir müssen ja zustimmen oder ablehnen. Um zuzustimmen müssen wir sicher sein, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg spricht. Wir bekamen immer erschöpfende Erklärungen, die uns zeigten, dass die Afghanen sehr gründlich über alles nachgedacht hatten, bevor sie etwas vorschlugen.

Das ist nicht mehr die gute alte Entwicklungshilfe, bei der wir allwissenden Ausländer den Einheimischen mitgeteilt haben, was wir mit unseren Landsleuten für sie ausgebrütet hatten. Die Einheimischen mussten sich dann bemühen, alles so zu machen, wie wir es für richtig hielten. Hier geht die Initiative von den Einheimischen aus. Die erklären uns Ausländern bereitwillig, wie sie sich alles gedacht haben. Vielleicht ändern sich dadurch noch Einzelheiten in der Planung. Ja, und dann überlegen wir Ausländer, ob wir uns an der Finanzierung beteiligen sollen.

Zugegeben, so einfach ist es bei landwirtschaftlichen Projekten. Aber die Grundkonzepte von OFARINs Schulunterricht sind nicht afghanisch. Die sind europäisch. Es geht um angstfreien Unterricht. Das selbständige Arbeiten des Schülers ist wichtig. Möglichst alle sollen alles verstehen. Von all‘ dem ist im afghanischen Schulunterricht kaum etwas zu finden. Aber unsere Konzepte werden von den Lehrkräften und Trainern schnell verstanden – und gerne übernommen. Die Schüler kommen gerne. Hier herrscht keine Scheu vor der Übernahme fremder kultureller Konzepte. Ideologen dürfen uns gerne Kolonialisten nennen. Unsere Konzepte werden ganz selbstverständlich angewandt. Die Detail-Planungen des Unterrichts erstellen die Afghanen so selbständig wie die Planung der Pflanzung von Nussbäumen.

Kurz: Wir Ausländer werden immer weniger gebraucht. Natürlich geht vieles nicht ohne unsere Finanzierung. Unsere Kollegen haben aber bei eigenen landwirtschaftlichen Aktivitäten, über die wir im April berichteten (Eukalyptus, Blauglockenbaum, Teufelskralle), gezeigt, dass sie wirtschaftlich erfolgreiche Projekte selber finanzieren können. Bei den Schulen wird es etwas länger dauern, bis sich sinnvolle Konzepte durchsetzen. Besonders in „demokratischer“ Zeit haben ausländische Helfer zwar viel Geld für Schulen ausgegeben, aber sich nicht ins tatsächliche afghanische Unterrichtsgeschehen eingemischt und versucht dieses zu verbessern. OFARIN tut das schon länger. Doch waren unsere Mittel bisher zu bescheiden, um weitreichende Wirkung zu erzielen. Jetzt könnte mehr gelingen.

Wenn ich mir die Akteure ansehe, die mit Freude dabei sind, Ihr Land voranzubringen, habe ich große Hoffnungen. Andrerseits ist die afghanische Gesellschaft von sehr verschiedenen Vorstellungen geprägt. Viele Menschen sind sehr religiös. Für sie sind wirtschaftlicher Erfolg oder die Weiterentwicklung des Zusammenlebens unwichtig. Sehr viele Menschen leben und denken im Rahmen ihrer Familie und Sippe. Dass es für ihre Zukunft wichtig sein könnte, dass sich in ganzem Land etwas ändert, übersteigt ihren Horizont. Ganz Afghanistan ist einfach zu groß für ihre Vorstellungen.

Vor allem aber wird Afghanistan von einer lähmenden Bürokratie bedrückt. Korruption und Hoheitsdünkel eitler Verwalter verhindern selbstverständliche Handlungen, nehmen vielen Bürgern ihre Rechte, unterbinden Investitionen und fördern Betrug und Unrecht.

Die schlimmen Auswüchse der Bürokratie könnten von gebildeten, aktiven Menschen auf ein erträgliches Maß zurückgedrängt werden. Wie entsteht eine kritische Masse gebildeter, aktiver Bürgerinnen und Bürger, die groß genug ist, um etwas zu verbessern? Durch Bildung. OFARINs Schulen können dazu beitragen. Dort erwerben die Schüler Selbstvertrauen und Entscheidungskompetenz. So kann Afghanistan vorankommen.

Helfen Sie uns dabei! Unterstützen Sie OFARIN!

Herzliche Grüße,

Peter Schwittek.


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