Unterricht außerhalb Kabuls – und was wir in Deutschland nicht erfahren

Inzwischen habe ich die Provinzen Khost und Logar besucht.

Um in OFARINs Projektgebiet in Logar zu kommen, fährt man 70 km. Das dauert zwei Stunden. 1990 hatte ich mit Hadschi Faruq, einem lieben Freund und ehemaligem Studenten an der Universität, das Programm begonnen. Später half Mirakhan engagiert den Unterricht in die paschtunischen Gebiete weiter westlich auszudehnen. Beide Väter von OFARINs Logar-Programm leben leider nicht mehr. Ehsanullah, ein Sohn von Mirakhan, leitet den Unterricht mit viel Einsatz und politischem Geschick. Aus Sicherheitsgründen war ich 15 Jahre lang nicht dort gewesen. Es war einfach schön, wieder in dem grünen Tal zu sein.

In dieser Jahreszeit beginnt der Unterricht dort am frühen Morgen um halb sechs. Das geschieht in kleinen Moscheen. Eine Klasse mit zwanzig bis dreißig Schülern findet im Hauptgebetsraum Platz. Davon ist ein kleinerer Vorraum mit einem offenen Holzgitter und einem Durchgang abgeteilt. In einer Moschee lag im Vorraum ein älterer Mann. Die Gemeinden bringen in den Moscheen durchreisende Gäste unter. Der Herr im Vorraum ließ sich von dem Unterricht, der praktisch neben ihn stattfand, nicht stören. Er schlief.

Was wir vom Unterricht sahen, war ordentlich. Wir konnten drei von insgesamt 40 unserer Klassen in Logar besuchen. Kollegen aus der Kabuler Zentrale waren mehrfach in Logar gewesen. Sie hatten auch schon Fortbildungen für Lehrkräfte durchgeführt. Dennoch müssen wir überlegen, wie wir das Geschehen jenseits von Kabul besser von der Zentrale aus übersehen können. Logar ist nicht ganz weit von Kabul entfernt. Nach Paryan in der Provinz Pandschir kann man nicht in einem Tag hin und zurück reisen.

Das gilt auch für Khost. Dorthin fuhren wir, um herauszufinden, ob wir dort ein Unterrichtsprogramm beginnen sollen. Natürlich sahen wir auch etwas von den landwirtschaftlichen Initiativen unserer Kollegen, über die wir im April berichtet hatten. Dann haben wir Privatschulen besucht, die unser Freund Khazan Gul mit Hilfe von deutschen und Schweizer Initiativen aufgebaut hat. Die acht Schulen von Khazan Gul mit je 600 Schüler erfreuen sich eines starken Zulaufs.

Schließlich besuchten wir den für das Schulwesen der Provinz zuständigen Präsidenten Maulawi Said Wassim (Haqqani). „Maulawi“ bedeutet „Mullah“. Der Präsident empfing uns sehr herzlich und bat uns dringend, in seiner Provinz aktiv zu werden. Vor allem die Einwohner der bergigen Randgebiete der Ebene von Khost lebten sehr archaisch und kriegerisch. Oft seien das Nomaden, die vor ein oder zwei Generationen sesshaft wurden. Dort habe es noch nie Schulen gegeben. Diese Menschen dürften nicht vom gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben ausgeschlossen bleiben.

Inzwischen ist Hewad, OFARINs Finanzchef, ein Sohn von Khazan Gul, noch einmal in Khost gewesen. Er hat geeignete Standorte vorgeschlagen und potentielle Verantwortliche für unser Programm gefunden. Wir sind wild entschlossen mit Maulawi Said Wassim gemeinsame Sache zu machen und in Khost zu beginnen.

Einen so starken Wunsch der Bevölkerung, etwas zu lernen, hatte ich in dieser Gegend nicht erwartet. In Khost sind die paschtunischen Stammestraditionen am höchsten entwickelt und sogar unter dem Titel „Paschtunwali“ kodifiziert. Sie werden von den Menschen hochgehalten. Alles gründet auf der Wehrhaftigkeit des Mannes und hat viel mit Blutrache zu tun. Wenn man Geschichten der Menschen dort hört, stellt man sich kriegerische Raufbolde vor. Wenn man dann selber dort ist, trifft man nachdenkliche, verantwortungsbewusste, weitsichtige Menschen. Ein Mullah, der noch vor einigen Monaten gegen unser Land Krieg führte, drängt mich, mit ihm zusammen Schulen aufzubauen.

Seit ich in Afghanistan bin, habe ich erlebt, dass das Volk der Hazara bildungsbeflissen ist. Die Erklärung dafür liegt auf der Hand. Die Hazara sind mit ihrem ostasiatischen Aussehen offensichtlich eine ethnische Minderheit. Zu allem Überfluss sind sie als Schiiten auch eine konfessionelle Minderheit. Also haben sie bei der Verteilung von Posten in der Regierung oder der Armee keine Chancen. Bei Auseinandersetzungen um Landbesitz werden sie benachteiligt. Ihre einzige Chance, es zu einem gewissen Einfluss zu bringen, ist eine bessere Ausbildung zu haben als andere Afghanen.

Dagegen galten die Paschtunen als Verteidiger ihrer althergebrachten Traditionen. Neue Erkenntnisse sahen sie bestenfalls skeptisch. Kurz nachdem wir 1973 nach Afghanistan kamen, erzählte ein deutscher Entwicklungshelfer, der in Kandahar arbeitete, dass er einen Vater ermahnt habe, seine Kinder in die Schule zu schicken. Als der Mann fragte, warum er das solle, erklärte ihm der Deutsche, dass es seine Kinder einmal besser haben sollten als er selber. Darauf fragte der Afghane: „Ich bin Paschtune. Ich bin Moslem. Was gibt es noch Besseres, das man sein kann?“ So selbstgewiss ruhten die Paschtunen, die ich 2023 in Khost traf, überhaupt nicht mehr in sich. Ihnen ist klar, dass ihr jetziges Wissen für die heutige Zeit nicht ausreicht. Sie wollen mehr lernen.

Wie kam es zu diesem Wandel? Zunächst sei gesagt, dass der Wandel in Kandahar, wo das Gespräch in den siebziger Jahren stattfand, vermutlich nicht ganz so heftig ist wie in Khost. Afghanen teilen die Taliban-Führung nach der Herkunft dieser Herrschaften in Khosti und in Kandahari ein, wobei die Khosti als fortschrittlicher und die Kandahari als rückständiger gelten. Aber abgesehen davon, dass Talibanführer auch aus ganz anderen Landesteilen kommen, ist diese Einteilung unscharf. Sicher, Mullah Haibatullah, der Emir von Afghanistan, hat sich gegen die Ausbildung von Mädchen ausgesprochen. Er ist Kandahari. Aber auch der Verteidigungsminister Mullah Yaqub, der Sohn von Mullah Omar, dem Oberhaupt der alten Taliban, ist Kandahari. Doch Mullah Yaqub setzt sich sehr für die Ausbildung von Mädchen und Frauen ein. Der Leiter von OFARINs ehemaligem Partnerministeriums für Religiöse Angelegenheiten drückt seine Zugehörigkeit zu den Khosti durch seinen Namenszusatz „Haqqani“ aus. Er stammt aber weder aus Khost, noch sieht er irgendeinen Sinn in schulischer Ausbildung, auch nicht in der für Jungen.

Doch in der Bevölkerung von Khost und in der der Nachbarprovinzen Paktia und Paktika ist der Wunsch nach schulischer Ausbildung sehr ausgeprägt. Meine Kollegen führen das darauf zurück, dass viele Männer aus diesen Provinzen als Arbeiter nach Arabien und in die angrenzenden Ölstaaten gegangen sind. Dort haben sie erlebt, wie sie als Ungebildete die schweren körperlichen Arbeiten verrichten mussten, während etwas besser ausgebildete Palästinenser, Inder oder Europäer ihnen Anweisungen gaben. Khost und seine Nachbarprovinzen liegen am Rand des Industales. Dort fallen mehr Niederschläge als in den Steppen und Wüsten des afghanischen Westens und Südens. Khost und seine Nachbarprovinzen sind dichter besiedelt. Der Druck, in der Ferne Geld zu verdienen, war und ist in Khost und Umgebung besonders stark. Dem folgt nun mit etwas zeitlichem Abstand der besonders starke Wunsch nach mehr Bildung.

Was erfahren Sie aus den deutschen Medien über Afghanistan? Steht da etwas über einen Mullah, der einen Ausländer, mit dessem Land er vor Kurzem im Krieg lag, darum bittet, mit ihm Schulen aufzubauen? Sicher nicht. Was Sie über Afghanistan lesen, hören oder sehen, ist, dass dort das Leben von Mädchen und Frauen im öffentlichen Raum einschränkt wird und dass ihnen alle Ausbildungsmöglichkeiten genommen werden. Das trifft zu. Doch ist das alles?

Was haben Sie sonst in der letzten Woche über Afghanistan erfahren? Vielleicht haben Sie in einer größeren Zeitung gefunden, dass der Iran von Afghanistan zugesagtes Wasser des Flusses Hilmend verlangt. Der Hilmend fließt von den Gebirgen Zentralafghanistans quer durch das Land nach Südwesten. Schließlich überquert er die Grenze zum Iran und endet dort in den Hilmend-Endseen. Haken Sie diese Geschichte bitte nicht gleich unter „Umwelt-Katastrophe“ ab! Ich erinnere mich an fast den gleichen Streit am Anfang der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Der Schah von Persien hatte das gesamte afghanische Parlament bestochen, und die Vertreter ihres Volkes hatten dem Wunsch des Schahs zugestimmt, das Wasser des Hilmend der Nutzung durch den Iran zu überlassen. Man hatte dem Iran sogar mehr Wasser versprochen, als der Hilmend führt. Im Südwesten Afghanistans ist der Lauf des Hilmend von Feldern gesäumt, während die Gegend sonst gnadenlos trocken ist. Diese Bewässerung in Afghanistan wäre nicht mehr möglich gewesen. Der Irrsinn war nicht durchsetzbar. Der Streit um das Hilmendwasser ist also ein alter Hut und für Persien ein Randthema. Von Teheran aus gesehen sind die Hilmend-Endseen und ihre Umgebung eine kleine Fläche hinter den riesigen Salzwüsten im Osten Irans. Das Thema wird im Iran hochgespielt, wenn das dortige Regime nationalistische Aufwallungen braucht, um von anderen Problemen abzulenken

Was haben Sie sonst in der letzten Woche über Afghanistan erfahren? Ich vermute, Sie wissen nicht, dass in der letzten Woche der Ministerpräsident Afghanistans ausgetauscht wurde. Ja, Sie haben richtig gelesen: der Vorsitzende aller Minister – vergleichbar dem Bundeskanzler – wenn Sie wollen, können Sie auch Premierminister sagen. Der ist tatsächlich vor einigen Tagen ausgetauscht worden. Solche Kleinigkeiten erfahren wir Deutschen aus unseren Medien nicht. Für die gibt es nur junge Mädchen und Frauen, die nichts lernen dürfen. Die sind zu bedauern – keine Frage. Aber wäre ein neuer Ministerpräsident nicht auch erwähnenswert?

Nun gut, man muss diesen Wechsel tatsächlich nicht so hoch hängen, wie einen Wechsel des Regierungschefs in Deutschland oder in England. Die Kompetenzen der afghanischen Behörden und Ministerien sind nicht strikt voneinander getrennt. Der Verantwortungsbereich einer Behörde ist vor den Übergriffen anderer Behörden nie sicher. Dem afghanischen Kabinett könnte man kaum erklären, was unter der Richtlinienkompetenz des Ministerpräsidenten zu verstehen ist. Der bisherige Ministerpräsident Maulawi Hassan war ein Großer unter den Taliban-Führern. Er war aber durch das Alter gezeichnet und seinen Aufgaben nicht mehr gewachsen. So hinterlässt er auch kaum einen eigenen Kompetenzbereich. Einen solchen gegen andere Minister zu verteidigen, hatte er nicht mehr die Kraft. Die Taliban-Führer sahen, dass man Hassan die Last von den Schultern nehmen musste, und bestimmten mit Maulawi Kabir einen jungen aber weitgehend unbekannten Mann zum Ministerpräsidenten. Der wird etwas Zeit brauchen, um sich die Aufgaben für sein Amt zu schaffen.

Während Mullah Hassan ein Kandahari ist, stammt Mullah Kabir aus Paktia, so dass er zu den Khosti zählt. Er lebte aber schon länger in Baghlan in Nordafghanistan und hat dort auch Landbesitz. Was Schule und Bildung betrifft, gilt er als modern. Mullah Kabir muss sich seine Kompetenzen aber erst erkämpfen. Man sollte sich noch etwas Zeit lassen, um ihn einzuschätzen.

Liebe Freunde, mein Sohn hat mir dringend empfohlen, Ihnen nicht zu viel auf einmal über Afghanistan aufdrängen zu wollen. Das sehe ich fast ein. Mein Aufenthalt in Afghanistan endet noch vor Pfingsten. Die Erlebnisse, die ich hatte, und die Gespräche, die ich führen konnte, haben mir aber weitere Anregungen gegeben. Über manches grüble ich noch und habe es noch nicht passend einordnen können. Ich würde gerne noch anderes sagen. Aber das ist noch nicht ganz ausgegoren. Und es würde das Ausmaß, das mir mein Sohn empfiehlt, übersteigen. Ich denke also daran, Ihnen bald noch ein paar Gedanken über Afghanisches zuzumuten, die sich mir aufdrängen. Vermutlich lassen die sich über die Feiertage sortieren und formulieren und dann in einem weiteren Rundbrief mitteilen.

Für heute verabschiede ich mich und wünsche Ihnen ein Frohes Pfingstfest.

Herzliche Grüße,

Peter Schwittek.