Zum Bericht über die faszinierenden landwirtschaftlichen Initiativen unserer Kollegen ist zu ergänzen, dass Rundbriefleser die Bezeichnung des Stoffes, der aus dem „Teufelsdreck“ gewonnen wird, richtiggestellt haben. Das übelriechende Zeug heißt Asant (lateinisch: Asa foetida). Anregungen, wie OFARIN in diese Initiative eingreifen könnte, wurden bisher nicht gegeben. Das zeigt, dass die Projekte gut durchdacht sind. Da ist alles berücksichtigt worden. Einem außenstehenden Nichtfachmann kann dazu kaum noch etwas einfallen.
Naqib berichtete, dass in Khost ein paar Mutige die Projekte nachahmen. So muss es sein. Unabhängig davon werden Blauglockenbäume In einer Nachbarprovinz angebaut. Wir wünschen allen viel Erfolg.
Natürlich haben Naqib und seine Spießgesellen schon darüber nachgedacht, ob sich der Anbau ihrer Pflanzen nicht auch in anderen Teilen des Landes lohnt. In Paryan im Pandschirtal haben sie versucht, OFARINs Projektpartner dazu zu überreden, ebenfalls solche Anpflanzungen zu wagen. Die sahen langfristige Investitionen, die zunächst nichts bringen, skeptisch – wie fast alle Afghanen. Vielleicht kann man sie ja durch den Erfolg überzeugen. Auch gibt es in Paryan erhebliche Abneigungen zwischen einigen Familien. Die könnten solche Vorhaben schnell gefährden.
Unseren Kollegen ist es gelungen, unsere Exit-Reentry-Visa um sechs Monate zu verlängern – im Fastenmonat, in dem Behörden und auch OFARIN nur halbtags arbeiten, ist das eine Höchstleistung. Leider leidet meine Frau Anne Marie unter ziemlich hohem Blutdruck, was wir Laien auf Probleme mit der Höhe (Kabul liegt 1800 m hoch) zurückführen. Wir haben beschlossen, dass sie das unerfreuliche Phänomen in Deutschland behandeln lässt und am Donnerstag nach Hause fliegt. Dagegen werde ich bis kurz vor Pfingsten in Afghanistan bleiben. Im Herbst wollen wir wieder gemeinsam nach Afghanistan kommen.
Es war Freitag und Ramadan, eigentlich ein arbeitsfreier Tag. Aber Hekmat, der Türwächter, kündet einen Gast an: Seinen etwa 15-jährigen Sohn Ismail. Was will der denn?
Hekmat war vor wenigen Jahren nach Arsan Qimat, einem westlichen Vorort von Kabul gezogen. Davor hatte er mit Familie auf dem Land bei Qarabagh – gut 40 km nördlich von Kabul – gelebt. Dann wurde das Lehmhaus der Familie durch ein Erdbeben unbewohnbar und sie mussten aus Qarabagh wegziehen.
Deutsche Freunde hatten im Herbst 2022 Ismail und seine elfjährige Schwester Roya kennen gelernt. Sie hatten die jungen Menschen in ihr Herz geschlossen und sammelten dann Geld, damit OFARIN in Arsan Qimat einige Klassen beginnen konnte, den auch die Kinder von Hekmat besuchen sollten.
Doch Ismail nahm nicht mehr an dem Unterricht teil. Er hatte bei OFARIN Lesen und Schreiben gelernt. Schon in Qarabagh konnte er Unterricht von uns besuchen. OFARINs Unterricht ist nur elementar. Ismail hatte alles gelernt, was man bei OFARIN lernen kann. Ismail geht außerdem noch in die achte Klasse der staatlichen Oberschule. Doch da lernt er nichts. Er würde gerne Fächer wie Chemie studieren, die – hatte er gehört – in höheren Klassen anderer Länder unterrichtet werden. Aber in Afghanistan erführe man nichts von diesen Fächern. Ja, die Lehrer würden, wenn sie überhaupt zum Unterricht kämen, die Schüler nur demütigen. Wir sollten uns mal das Schulgebäude ansehen: Alles dreckig, der Putz fiele von den Wänden ab. Hört man so etwas nicht auch über deutsche Schulgebäude?
In Kabul werden private, also kostenpflichtige, Kurse angeboten, in denen man angeblich etwas lernen kann. Aber sowohl Ismail als auch wir wissen, dass man in solchen Kursen nichts lernt – nichts, was Zugang zu einer befriedigenden beruflichen Tätigkeit erleichterte, auch nichts, was von seinen Inhalten her irgendwie interessant wäre. Ismail hatte einen entsprechenden Englischkurs besucht. Allen, die die Dominanz des Englischen mit Argwohn beobachten, ginge das Herz vor Schadenfreude auf, wenn sie Ismails Englisch erleben könnten. Es ist furchtbar, was dieser Sprache auf ihrem Weg in die letzten Ecken der Welt angetan wird. Aber was Ismail mitteilte, war klar: Ich will etwas lernen, aber das kann ich in Afghanistan nicht.
Folglich sollten wir ihm ein Auslandsstipendium besorgen. Er ist nicht der erste, der so etwas von uns will. Unser Koch lebt im schiitischen Kabuler Stadtteil Dascht-e-Bartschi. Sein Sohn besuchte dort einen Kurs, in dem er auf die Zugangsprüfung zu weiterbildenden Anstalten wie der Universität vorbereitet wurde. Da fand in der Nachbarschaft ein furchtbarer Anschlag des Islamischen Staates auf eine Mädchenschule statt. Der Sohn rief uns in Deutschland an: Lebensgefährlich sei es, in Afghanistan etwas lernen zu wollen. Wenn wir wollten, dass er etwas lerne, müssten wir für ein Auslandsstipendium sorgen.
Wir haben absolut keine Möglichkeit, an solche Stipendien heranzukommen. Manche indischen Universitäten vergeben Studienplätze und überlassen die Finanzierung dem Studenten. Hier könnten Hilfsorganisationen einspringen. Abgesehen davon, dass die Niveaus indischer Universitäten sehr verschieden sind, was man von außen nicht übersehen kann; unsere Aufgabe ist das nicht.
Was lernt ein Afghane, wenn er ein Stipendium ergattert – sei es in Indien, in Australien, in China oder in Deutschland; sei es für ein akademisches Studium, sei es für eine berufsorientierte Ausbildung? Überall wird der Afghane nur etwas lernen, was auf den Arbeitsmarkt oder die Forschung des Gastlandes ausgerichtet ist. Die indische Universität bildet Studenten für das Arbeitsleben in Indien aus, die holländische für das in Holland. Die Universitäten können sich nicht darum kümmern, was ein Student, der aus Zimbabwe, aus dem Jemen – oder eben aus Afghanistan kommt, in seiner Heimat mit dem erworbenen Wissen anfangen kann. Studenten aus Litauen oder aus Korea können meist das, was sie in Kanada oder in Belgien gelernt haben, mit einigen Mühen in ihrer Heimat „umsetzen“. Aber was machen Afghanen mit dem, was sie in Österreich oder in Neuseeland gelernt haben? Wenn ein Afghane aus solch‘ einem Land nach Hause kommt, findet er die Geräte nicht vor, die er während seiner Ausbildung benutzt hat, er trifft nicht auf Kollegen, mit denen er den nächsten Arbeitsschritt besprechen könnte. Oft braucht man das, was man gelernt hat, in Afghanistan überhaupt nicht.
Manche entwickelten Länder machen keinen Hehl daraus, dass sie Studenten aus Entwicklungsländern nicht für die Rückkehr in ihre Heimat ausbilden. Die besten Stipendiaten sollen nach ihrer Ausbildung in Deutschland bleiben. Wir brauchen die dringend für unseren Arbeitsmarkt. Ist das fair, wenn wir den armen Ländern ihre Besten wegfischen? – Wenn wir dem Krankenhaus in Belgrad die Krankenschwester wegkaufen, die dort für ein paar Hundert Euro im Monat arbeitet? Man sollte sich insbesondere über Fachkräfte Gedanken machen, die ins Ausland gehen und aus ihrer Heimat eine gewisse Ausbildung mitnehmen, die dann im Ausland spezialisiert und dort integriert werden. Nehmen sie einen Arzt aus Marokko! Der ist wirklich gut. Er kommt nach Deutschland, wird zum Augenarzt spezialisiert und bleibt dann in Deutschland. Man kann sagen, dass Deutschland dessen Ausbildung zum Arzt, die Marokko bestritten hat, klaut. Wenn ein Norweger sich in Deutschland spezialisiert und hierbleibt, ist das kein Problem, denn es gibt auch Deutsche, die ihre hiesige Ausbildung mit nach Norwegen nehmen und dort bleiben.
Aber zurück zu Ismail! Stellen wir uns vor, der bekäme ein Stipendium, um in der Schweiz Lebensmitteltechnik zu lernen. Er schlägt sich achtbar, schafft schließlich einen Abschluss und kehrt nach Afghanistan zurück. Er hat einen Titel und vieles gesehen, was er zu Hause nicht kannte. Die Landsleute sind froh, dass er endlich kommt und an der Entwicklung ihres Landes mitarbeiten kann. Sie haben einen roten Teppich ausgerollt, stehen Spalier und klatschen Beifall als Ismail den Heimatboden betritt. – Mitnichten!
Vielleicht hat Ismail das erwartet. Ja, seine Familie ist stolz auf ihn. Aber den Mitbürgern ist es bestenfalls egal, was Ismail gelernt hat. Einige sind neidisch. Der war im Ausland und bekam ein Stipendium. Das ist viel mehr Geld als in Afghanistan ein Lehrer verdient. Im Ausland hat er gut und sicher gelebt.
Nun ist Ismail also zurück und möchte arbeiten. Er stellt sich bei Firmen vor, bei denen er eine Anstellung bekommen könnte, die seiner Ausbildung entspricht. Er ist geprüfter Lebensmitteltechniker. Er wendet sich an eine Firma, die in der Provinz eine Fabrik für Obstsäfte betreibt. In diese ihm fremde Provinz wollte Ismail eigentlich nie ziehen. Es kommt auch nicht dazu. Die Firma stellt nur Personal ein, das zu einem bestimmten Stamm gehört. Er hat keine Chance.
Auf dem privaten Arbeitsmarkt ist es schwierig. Aber in Afghanistan ist der Staat ein überragend großer Arbeitgeber. Ismail wird in einem Amt angestellt, das Lebensmittel auf Verunreinigungen untersucht, um Krankheiten zu vermeiden. Dort arbeiten schon acht Lebensmitteltechniker, die in verschiedenen Ländern ausgebildet wurden. Alle machen einen resignierten Eindruck. Sie haben kaum etwas zu tun. Zwei von ihnen erscheinen nur noch selten zur Arbeit. Ihr Gehalt bekommen sie trotzdem. Eigentlich müssten sie u.a. jedes Jahr den Apfelsaft überprüfen, den eine Firma in Wardak herstellt. Ein europäisches Land hat dem Amt ein gut ausgestattetes Labor hingestellt. Doch um zu entscheiden, ob die Firma den Stempel bekommt, dass ihr Apfelsaft unbedenklich ist, braucht man kein Labor. Der Stempel ist Verhandlungssache. Ein Beamter namens Karim feilscht mit der Firma über die Höhe des Schmiergeldes. Das wird dann nach der Hackordnung in der Behörde unter Karim und einigen Kollegen verteilt. Ismail als Neuling bekommt nichts.
Gerne lässt man ihn wissen, dass er ja im Ausland war und dass es ihm dort viel besser gegangen sei, als den Kollegen in der Heimat, wo es Krieg und Überfälle gab. Er habe dort viel Geld verdient. Jetzt sei er aus dem Paradies heimgekehrt. Da müsse er eigentlich froh sein, dass er einen der begehrten Posten beim Staat bekommen hat. Ismail hat im Ausland von seinem Stipendium nichts übrig behalten. Nur 50 € hat er monatlich an seine Eltern überwiesen.
Ach so, dieser Karim ist im Amt eine wichtige Person. Angefangen hat er damit, dass er als Sechzehnjähriger für die Kollegen Tee gekocht hat. Er ist nicht dumm und kannte sich bald aus. Er weiß manches Persönliche über die Kollegen. Die Bestimmungen der Verwaltung kennt er gut. Der Behördenchef berät sich oft mit Karim, aber nie mit einem der studierten Fachleute. Wenn eine Firma einen Stempel braucht, fällt für Karim immer mehr ab als für die Fachleute.
Das war alles Spekulation. Ismail hat ja kein Stipendium. Er will eins. OFARIN kann ihm beim besten Willen keins beschaffen, auch wenn er das nicht glaubt. Frage an Sie: Was würden Sie machen, wenn Sie in der Lage wären, Ismail ein Stipendium zu besorgen? Am liebsten möchte er natürlich nach Deutschland. Hand aufs Herz! Was machen Sie?
Von OFARIN bekommt er kein Stipendium, erstens weil OFARIN keins hat und zweitens, weil OFARIN kein Stipendium für irgendetwas vergeben würde. Mit einem beliebigen Auslandsstipendium täte man weder Ismail noch Afghanistan einen Gefallen. Ja, wenn für Ismail eine Ausbildung im Ausland damit verbunden wäre, dass er auf die Mitarbeit in einem Programm vorbereitet wird, in dem er konstruktiv an der Entwicklung seiner Heimat mitarbeiten kann, dann würden wir ihm ein solches Stipendium von Herzen gönnen. Aber solch‘ ein Stipendium haben wir leider auch nicht.
Ich kann mir nur vorstellen, dass Ismail bei uns als Lehrer arbeitet und seinen Schülern genau das beibringt, was er gerade selbst bei uns gelernt hat. Viele, die unterrichten, machen die Erfahrung, dass sie den Stoff, den sie selber unterrichten, anschließend sicher beherrschen. Ismails Anstellung als Lehrer ermöglichte OFARIN den Pilotversuch für eine Massenalphabetisierung in der Muttersprache (plus Vermittlung der Grundrechenarten). Man könnte so in einem Schneeball-System vielen Menschen die elementaren Kulturtechniken vermitteln. Die frisch Alphabetisierten, werden sofort als Lehrer eingesetzt und deren Schüler werden wieder Lehrer. Da stellt sich natürlich ziemlich laut die Frage nach der Qualitätssicherung, zu der wir uns auch Antworten einfallen lassen müssten. Aber Massenalphabetisierungen wären in Afghanistan hilfreich. Sie könnte den Kriegern der Taliban eine Chance für ein erfolgreiches Zivilleben geben. Das, was OFARIN vermittelt – nämlich die schriftliche Beherrschung der Muttersprache und die Grundrechenarten – sind die Basis für jede Berufstätigkeit. Vielleicht sollte noch etwas mehr vermittelt werden, z.B. die Bruchrechnung und die Dezimalbrüche. Aber eigentlich reicht unser Programm als Grundlage für eine berufliche Arbeit. Was für den Einzelnen darüber hinaus nötig ist, kann er sich dann zusätzlich erarbeiten.
Es fragt sich, ob sich Ibrahim nicht schon zu sehr in dem Traum versunken ist, ins Ausland zu gehen. Ich habe junge Menschen erlebt, die nur noch diesen Traum träumten und im täglichen Leben nicht mehr dort zu Hause waren, wo konkrete Arbeit anlag.
Jetzt war ich selber ins Träumen geraten. Reden wir zum Schluss über etwas Reelles! Meine Telefonnummer in Kabul ist von außerhalb Afghanistans 0093-790911631 (aus Afghanistan: 0790911631). Wenn in Ihrem Mobiltelefon WhatsApp installiert ist, können Sie diese Nummer auch für WhatsApp-Kontakte nutzen. Das ist zweckmäßig, sofern die Qualität reicht, denn die schönen Zeiten, als man von Afghanistan aus sehr günstig telefonieren konnte, sind vorbei. Man hat die Gebühren verfünffacht. Bei WhatsApp-Kontakten mit mir werden Sie anfangs Geduld brauchen. Ich beherrsche die Möglichkeiten noch nicht sicher. Ich verspreche schnelle Besserung.
Herzliche Grüße,
Peter Schwittek.