Afghanistan, OFARIN: …und sie unerrichten doch!

Es ist gut vier Jahre her. Da wurde OFARIN in Kabul von einem ZDF-Team besucht – einem deutschen Reporter, einem Kamera-Mann und einem afghanischen Dolmetscher. Zunächst nahm dieses Team noch Termine in Nordafghanistan wahr, wohin es mit einem Bundeswehrhubschrauber flog. Zwei Wochen später waren die Journalisten zurück in Kabul. Jetzt wollten sie Unterricht von OFARIN sehen. Wir hatten dafür die Moschee in Qalatschah vorgeschlagen. Früh am Morgen fuhren die Journalisten in einem gepanzerten Vehikel vor unserem Büro vor. Einige unserer Mitarbeiter fuhren in einem Fahrzeug von OFARIN mit. Das war nicht gepanzert. Ich setzte mich in das gepanzerte Fahrzeug, damit es den Weg nach Qalatschah nicht verfehlte.

Bevor ich saß, bellte mich der ZDF-Reporter giftig an: „Warum mache Sie das hier?“ Das traf mich unvorbereitet. Ich murmelte, dass Bildung die Grundlage für jede Entwicklung sei. „Aber hier klappt doch nichts. Nirgends kommt etwas dabei raus. Was hier für ein Geld ausgegeben wird! Ich bin der Meinung, dass man das Land sich selbst überlassen sollte.“ Ich behauptete, dass OFARINs Unterricht sehr wohl Ergebnisse habe. Die Lehrkräfte, die Schüler und auch die Mitarbeiter seien eifrig dabei. Alle lernten gerne. Dann schwiegen wir lieber.

Was hatte der Journalist bisher in Afghanistan erlebt, dass er mich so grimmig begrüßte? War der Hubschrauber nach dem Norden nicht einsatzbereit und flog erst zwei Tage später, weshalb geplante Besuche ausfallen mussten? Immerhin konnten die Journalisten das Ausbildungsprojekt besuchen, das das Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ihnen als besonders erfolgreich ans Herz gelegt hatte. Leider musste der Projektleiter dem Team schon bei der Begrüßung erklären, dass ein Besuch der Ausbildungswerkstätten auf keinen Fall drin sei. Die Werkstätten lägen etwas außerhalb. In der Gegend hatte es letzte Woche zwei Explosionen gegeben. Auch die deutschen Ausbilder dürften noch nicht wieder dorthin. Und der Leiter eines landwirtschaftlichen Projektes machte keinen Hehl daraus, dass die im Bau befindlichen Anlagen nur die Felder des Clans des regional mächtigsten Kommandanten bewässern werden. „Ohne den läuft hier nichts.“ Solche oder ähnliche Erlebnisse mussten es sein, die der Reporter gerade verarbeitete.

Der Besuch in Qalatschah besserte die Stimmung. Der Reporter sah eine Moschee voll von über 200 lernenden Kindern, vor allem Mädchen. Der Mullah sorgte dafür, dass das Team noch mit dem Vater einer Schülerin sprechen konnte. Diese Reportage können Sie sich in unserer Homepage OFARIN.org unter „OFARIN im Heute-Journal“ ansehen.

Mir fällt diese Geschichte immer wieder ein, wenn mir jemand kopfschüttelnd erklärt: „Afghanistan. Das ist doch ein Fass ohne Boden. Da sollte man nicht noch mehr reinstecken. Das bringt doch alles nichts.“ Es stimmt, dass sich Afghanistan nicht so entwickelt hat, wie wir es gerne hätten. Es ist enorm viel Geld dorthin geflossen. Blühende Landschaften sind nicht entstanden. Im Gegenteil, die erzreaktionären Taliban haben die Macht übernommen und ruinieren die Institutionen, die Wirtschaft und das Bildungswesen.

Doch welche Rolle spielt OFARIN in diesem Geschehen? Die Menschen, die in unseren Unterricht kommen, lernen weiterhin lesen, schreiben und rechnen. Sie gewinnen Selbstbewusstsein und Entscheidungskompetenz. Sie erfahren Solidarität und sehen, dass es sich lohnt, etwas zu lernen, ja, dass es sogar Spaß macht. Die Lehrerinnen und Lehrer, die Schulkinder und ihre Eltern sehen, dass man vieles erreichen kann und dass in ihrem Land viel mehr möglich ist, als viele Mitbürger glauben.

Menschen, die lesen, schreiben und rechnen gelernt haben, können das, solange sie leben. Auch wenn OFARIN eines Tages Afghanistan verlässt, laufen noch Jahrzehnte Menschen mit dem Wissen und Können herum das sie bei uns erworben haben. Unterricht wirkt auf den Einzelnen und auf die Gesellschaft sowohl in einer liberalen Gesellschaft wie in einer Diktatur. In einer Diktatur ist es besonders wichtig, dass Menschen selbständig urteilen können und dass sie in der Gemeinschaft der Lehrkräfte und Mitschüler einen Rückhalt haben. Die Taliban werden das staatliche Schulwesen, das ohnehin recht leistungsschwach war, noch weiter ruinieren. Dann werden die Absolventen von OFARINs Schulen zu der kleinen Minderheit gehören, die wenigstens die grundsätzlichen Kulturtechniken ordentlich beherrschen. Wenn der schlimmste Spuk der Herrschaft der Taliban vorbei ist, wird man solche Menschen für einen Wiederaufbau besonders benötigen.

Kann OFARIN seinen Unterricht weiter durchführen? In der Provinz Pandschir gibt es riesige Probleme. Dort wurden viele Menschen niedergemacht, die eventuell Widerstand leisten könnten. Pakistanische Drohnen wurden eingesetzt. Viele Fremde haben unser Projektgebiet in Paryan besetzt. Viele Lehrkräfte würden gerne nach Kabul entfliehen. Aber auch dort sind sie als Pandschiri vor den Taliban nicht sicher.

In Kabul und in Logar läuft dagegen der Unterricht. Im Kabuler Stadtteil Arsan Qimat wurden mit der Hilfe von Freunden, die uns in Kabul besucht haben, vier neue Klassen eröffnet.

OFARIN möchte die „Partnerschaft“ mit dem Ministerium für Religiöse Angelegenheiten durch eine solche mit dem Erziehungsministerium ersetzen. Dieser Partnerwechsel musste über das Wirtschaftsministerium beantragt werden, bei dem alle Hilfsorganisationen registriert sind. Das haben unsere Mitarbeiter nach Monaten geschafft. Jetzt sind noch einige Formalitäten mit der Verwaltung des Erziehungsministeriums nötig, dessen Führung gerne mit OFARIN zusammenarbeiten möchte. Jetzt haben die Taliban ohnehin verfügt, dass schulischer Unterricht in Partnerschaft mit dem Erziehungsministerium stattfinden muss. Unser Partnerwechsel sollte also bald vollzogen sein. An unsere Lehrkräfte haben wir einen Teil der Lohnschulden ausgezahlt, ohne das dem Ministerium für Religiöses mitzuteilen. Dieses Ministerium ist noch unser Partner. Es hatte uns aber diese Auszahlungen bis auf Weiteres untersagt.

Da unser Unterricht elementar ist und in der nächsten Zeit auch bleiben wird, ist er auch für Mädchen erlaubt. Allerdings konnten wir nie erfahren, ob sich das Unterrichtsverbot für Mädchen ab Klasse 7 nach dem Unterrichtsstoff oder nach dem Alter der Schülerinnen richtet.

Insgesamt rechnen wir mit dem weiteren Verfall der staatlichen Verwaltung. Die einhelligen Internationalen Proteste – auch von islamischen Ländern – gegen das gerade erlassene Studierverbot für Mädchen und Frauen zeigen, dass die Taliban, die gerade das Sagen haben, jedes Maß verlieren. Wie wollen Sie die strikte Trennung der Geschlechter durchhalten, wenn keine Ärztinnen oder Lehrerinnen mehr ausgebildet werden können?

Schon etwas länger sind die Banken gezwungen, sich auf „Islamic Banking“ umzustellen. Der Islam verbietet das Nehmen von Zinsen. Die Ermittlung der Kosten von Krediten und der Belohnung für Einlagen über Islamic Banking ist schwierig bis unmöglich. Die Banken schaffen diese Umstellung nicht. Viele werden zusammenbrechen. Das dürfte alle Hoffnungen vernichten, dass Afghanistan wirtschaftlich wieder auf die Füße kommt.

In solcher Situation finden Menschen – zumal Afghanen – Auswege. Geld meidet Banken. Es fließt stattdessen über das Jahrhunderte alte Hawala-System. Zinsen werden doch genommen. Unterricht für große Mädchen findet doch statt. Die Behörden wissen das, aber sie mischen sich nicht ein. Jeder weiß, dass es ohne Umgehung der neuen Taliban-Gesetze nicht geht. Außerhalb von Kabul ist die Entwicklung schon weiter. Da bestimmen Provinzbehörden oder lokale Würdenträger. Für die sind die Interessen der Bevölkerung wichtiger als für Kabuler Ministerialbeamte. Aber angesichts der haarsträubenden Beschlüsse der Taliban-Führung wird auch in der Hauptstadt die Kontrolle durch die Behörden lockerer werden.

Eine nicht unrealistische Möglichkeit ist ein Machtwechsel in der Taliban-Führung. Das verheerende Studierverbot für Frauen und das katastrophale Islamic Banking wurden vom reaktionären Flügel der Taliban durchgesetzt. Diese Menschen haben Krieg geführt, weil sie ihre Identität, ihre Religion und ihre Lebensweise durch moderne „Unsitten“ bedroht sahen. Sie wollten, dass in ganz Afghanistan die Regeln des Zusammenlebens aus ihrem Bergdorf gelten: Striktes Patriarchat; die Ehre der Familie geht über alles; wenn es sein muss, gibt es Blutrache. Vermutlich hat auch die Mehrheit der Taliban-Krieger für diese Ziele gekämpft.

Die gemäßigten Taliban-Führer haben das Studierverbot für Frauen und das Islamic Banking „um des lieben Friedens willen“ fürs Erste hingenommen. Die Gemäßigten wünschen eine internationale Zusammenarbeit. Dafür sind sie bereit auch Nicht-Paschtunen an der Macht zu beteiligen und Rechte von Frauen zu respektieren. Das haben sie den Amerikanern in den Verhandlungen in Doha versprochen. Sie wissen auch, dass Schule und Bildung für Afghanistan wichtig sind. Sie wissen: Ohne innere Aussöhnung, ohne internationale Zusammenarbeit und ohne eigene Bemühungen hat Afghanistan keine Zukunft.

Wenn der reaktionäre Flügel mit seinen radikalen Entscheidungen Schiffbruch erleidet, werden die Gemäßigten ihre Chance haben.

Meines Erachtens hätte der Westen durch etwas Entgegenkommen den gemäßigten Taliban mehr Einfluss in der Regierung verschaffen können. Nach ihrer Machtergreifung wurden westliche Reporter von den Taliban sehr zuvorkommend behandelt – vermutlich in der Hoffnung, dass die Heimatländer der Journalisten das honorierten und Afghanistan in seiner wirtschaftlichen Not unterstützten. Dabei hätte man den Taliban vermutlich Zugeständnisse wie eine gerechtere Machtverteilung unter den Ethnien und mehr Rechte für Frauen abringen können. Doch da die internationale Gemeinschaft nur das Allernötigste tat, blieben die reaktionären Taliban an den längeren Hebeln. Sie vergrätzten mit ihrer Politik den Westen, und der fand so immer mehr Gründe, zu Afghanistan auf Distanz zu gehen. Visa für Journalisten gibt es kaum noch.

OFARIN hat gerade eine Mitgliederversammlung durchgeführt. Es war bitterkalt Viele Mitglieder waren erkrankt. Nur sieben kamen. So wurde nichts aus unserer Absicht, bei der MV die aktive Mitarbeit von Mitgliedern und anderen Interessenten zu intensivieren. Wir hatten an die Öffentlichkeitsarbeit gedacht, aber auch an das Erstellen von Unterrichtsmaterial. Das Ganze sollte auf der Basis von WhatsApp stattfinden, damit eine ortsunabhängige Mitarbeit möglich ist oder gar ein gemeinsames Werkeln mit den afghanischen Kollegen. Vielleicht ist ja jemand aus dem größeren Kreis der Rundbriefempfänger interessiert, dabei mitzumachen. Dann rufen Sie mich bitte an (0931/708590) oder schicken Sie eine E-Mail (schwittek@t-online.de)!

Schließlich haben wir im Eine-Welt-Kreis von Randersacker beschlossen, dass wir – Anne Marie und ich – etwas über OFARIN und Afghanistan berichten sollen. Unser Dritter Bürgermeister Matthias Henneberger, soll die Veranstaltung moderieren und verhindern, dass wir vor dem Auditorium in die Fachblindheit entschwinden. Die Veranstaltung findet am 18. Januar im Schützenhaus in Randersacker statt. Die Uhrzeit haben wir noch nicht festgelegt. Aber wenn Sie um 19:00 Uhr da sind, machen Sie nichts falsch. Rufen Sie Anfang des Jahres hier an. Dann wissen wir es genau.

Meine Frau Anne Marie und ich wünschen Ihnen ein Frohes Weihnachtsfest und alles Gute im Jahr 2023.

Herzliche Grüße,

Peter Schwittek.