Afghanische Verhältnisse hautnah erlebt

Jetzt sind wir – meine Frau Anne Marie und ich – bald zehn Wochen in Afghanistan. Da sollte es möglich sein, einen Überblick über dieses Land der Taliban zu geben. Das ist es aber nicht.

Das Herrschaftssystem der Taliban

Das Afghanistan der Taliban lässt sich nicht in eine uns Westlern geläufige Kategorie einsortieren. Es ist keine schlichte Diktatur wie Putins Russland und auch keine hierarchisch organisierte Oligarchie von Religionsideologen wie der Iran. Eine das Wesentliche des Herrschaftssystems der Taliban enträtselnde Formel ist schwer zu finden. Dabei erklären die Taliban die Prinzipien ihrer Herrschaft mit wenigen Worten: Sie folgen den Gesetzen der Scharia und den Sitten der afghanischen Bevölkerung. Die Scharia wurde mehr als zweihundert Jahre nach dem Propheten in den aufblühenden Zentren des Islam wie Bagdad, Damaskus oder Kairo entwickelt. Sie sollte für alle Moslems gelten. Aber die meisten ihrer Bestimmungen können um des lieben Friedens willen zeitlich und regional außer Kraft gesetzt werden. Unter den Sitten des afghanischen Volkes verstehen die Taliban die Traditionen der Nomaden in den Steppen und der Bauern auf ihrem kargen Acker. Diese Traditionen erlauben aber keine Ausnahmen. Wie passt das zusammen? In diesem Verbund kann die Scharia nur die Rolle eines Hinweises auf den Islam spielen. Der Kern des talibanischen Bestrebens sind die archaischen, patriarchalischen Gesetze der Stämme, die es „schon immer gab“.

Nachvollziehbar ist die Sehnsucht nach den guten alten Sitten durchaus. Spätestens seit 1900 hatten Teile der afghanischen Elite Kontakte ins Ausland. Sie lernten Krankenhäuser und Universitäten in Amerika oder Frankreich kennen. Sie bewunderten Fabriken und Militär in England und Deutschland. Wie „rückständig“ war dagegen ihre Heimat. Sie schämten sich und verlangten radikale Modernisierungen in Afghanistan. 1919 kam der König Amanullah an die Macht. Er wollte Afghanistan entschlossen modern machen.

Die Wehrpflicht und die Schulpflicht wurden eingeführt und Fachministerien mit hunderten von Beamten geschaffen. Bisher hatten Emire mit Hilfe von Bütteln geherrscht. Deren Macht ging jetzt auf die Beamten über. Die sollten Schulpflicht, Wehrpflicht und viele moderne Neuerungen durchsetzen.

Die Bürger brauchten aber ihre Kinder für die Arbeit in der Familie und auf dem Feld und schickten sie nur widerwillig in die Schule oder gar zum Militär. Lesen und Schreiben hatte man bisher allenfalls beim Mullah lernen können. Das Rechtswesen hatte in den Händen religiös ausgebildeter Kadis gelegen. Jetzt wurden staatliche Gerichte eingeführt. Alles sollte so werden wie in den Ländern der Ungläubigen. Wollte man den Islam beseitigen?

Die Regierung befahl. Die Bürger hatten zu gehorchen. 1929 kam es zum Aufstand. Amanullah dankte ab. 1978 putschten sich Kommunisten an die Macht. Sie wollten Afghanistan auf ihre Art modernisieren und den Islam verdrängen. Der Gegensatz von Modernisierern und Verteidigern der alten Ordnung ging jetzt in Bürgerkrieg und erbitterte Feindschaft über. Jahrzehnte des Blutvergießens folgten. Schließlich setzten sich die Taliban durch. Die Taliban wollen alle Fehler der Modernisierer rückgängig machen.

Die archaischen Stammesstrukturen, die in Dörfern und in den Zelten der Nomaden herrschen, sollen jetzt im ganzen Land durchgesetzt werden. Eine Stammesgesellschaft setzt sich aus Stämmen, also ethnischen Gruppierungen, zusammen. Die Stämme zerfallen ihrerseits in Clans, und die Clans in Sippen und Großfamilien. Familien, Sippen, Clans und Stämme leben – meist in gegenseitigem Misstrauen – nebeneinander her. Sie werden von Stammes-, Clan-, Sippen-, und Familienältesten vertreten, die vor allem damit beschäftigt sind, Streitfälle in den eigenen Reihen zu schlichten und in Versammlungen der Clans, Sippen und Stämme die Rechte ihrer eigenen Clientel zu behaupten.

Diese Welt von größeren und kleineren Häuptlingen, die irgendwie miteinander zurechtkommen müssen, finden wir jetzt auch im Bereich des Staates wieder. Die Machtzirkel der Taliban bestehen aus Chefs der Sippen und Stämme. Und da leben nun größere und kleinere Taliban-Führern nebeneinander her, wie sie es aus dem Zusammenleben innerhalb der Stammeswelt kennen. Einer ist Vizeminister im Gesundheitsministerium, einer ist Leiter des Büros des Energieministers, einer ist Minister für die Grenze und das Stammeswesen. Sie müssen den eigenen Bereich in den Griff bekommen. Dazu bringen sie Söhne und Neffen in nachgeordneten Stellungen unter.

In der Stammesgesellschaft spielen viele größere und kleinere Anführer eine Rolle. Aber die Stammesgesellschaft als solche hat kein politisches Programm, keine Zielsetzung, außer der, dass die Stammesgesellschaft so weiter existieren soll, wie sie immer schon existierte. Sie hat auch keinen Anführer, der eine bestimmte Richtung vertritt oder durchsetzen will.

Was die einzelnen Stammesführer zu tun haben, ergibt sich aus den ungeschriebenen Pflichten, die man in einer Stammesgesellschaft hat – Streit schlichten; in Versammlungen, die Interessen des eigenen Clans vertreten; und darauf achten, dass auch alle anderen die alte Ordnung einhalten. Auch die Taliban-Bewegung hat keinen Führer, der ein Programm oder eine Richtung vertritt. Es gibt Seilschaften unter den führenden Taliban. Beobachter warten darauf, dass eine von denen nach der Macht greift. Aber es ist wohl unsere Vorstellung, dass dieses führungslose Schweben ein Ende finden müsse. Die Taliban-Führer sind immer auch Anführer in der Stammesgesellschaft. Sie sind es gewohnt ohne Führung, Zielsetzung und Programm zu leben.

Neu ist für die Taliban in Regierungspositionen, dass sie eigentlich auch für das Funktionieren von Fachministerien sorgen sollen. Aber dazu fehlt fast allen jede Kompetenz. Alle Entscheidungspositionen in den Behörden haben die Taliban mit ihren Leuten besetzt. Unter denen sind keine Fachleute, die in der Lage wären, kompetente Entscheidungen im Bergbau- oder im Gesundheits- oder im Verkehrsministerium zu fällen. Nur die untersten Ränge der Ministerien sind noch mit Beamten besetzt, die schon vor den Taliban dort arbeiteten. Aber diese unteren Ränge haben nicht das Fachwissen, dass der Minister bräuchte, damit sein Ministerium seine Aufgaben erfüllen kann.

Die Zusammenarbeit mit Regierungsstrukturen der Taliban

Ein trauriges Kapitel ist OFARINs Verhältnis zu seinem Partnerministerium, dem für Religiöse Angelegenheiten. OFARINs Programm wurde zur Zeit der alten Taliban in Zusammenarbeit mit diesem Ministerium geschaffen. Die Kooperation war über lange Zeiten erfolgreich. Der jetzt von den Taliban eingesetzte Minister hat einen Neffen zum Ra’is gemacht und mit der Leitung der Abteilung betraut, die für die Zusammenarbeit mit OFARIN zuständig ist. Das Protokoll, d.h. der Grundsatzvertrag für die Zusammenarbeit zwischen dem Ministerium und OFARIN, ist ausgelaufen. Ein neues Protokoll muss abgeschlossen werden. Der Ra’is erläuterte nach unserem Eintreffen im August, dass er Bedingungen dafür stellen werde. Die werde er uns schriftlich zustellen. Wenn wir die ablehnten, müssten wir uns einen anderen Partner suchen. Diese Bedingungen sind bis jetzt, also Ende Oktober, nicht eingetroffen.

OFARIN hatte seit Monaten keine Löhne an seine Lehrer ausgezahlt, weil das Ministerium dazu für jeden Monat eine schriftliche Zustimmung geben müsste aber nicht gab. OFARIN bat den Ra’is schriftlich um Zustimmung zu den fälligen Nachzahlungen. Darauf wurde uns die Auszahlung per Brief untersagt, solange kein neues Protokoll abgeschlossen sei. Es wurde uns auch schriftlich untersagt, Unterricht zu erteilen, solange kein Protokoll vorläge. Das empörte die Trainer, die sich alle zwei Wochen bei uns treffen. Die männlichen Trainer verlangten ein Treffen mit dem Ra’is. Sie wollten wissen, wie sie mit dieser Entscheidung umgehen sollen. Der Ra’is empfing unsere Trainer und behauptete, solche Briefe nie an unser Büro geschrieben zu haben. Tatsächlich wird der Unterricht von den Lehrkräften weitergeführt. Um diesen Weiterbetrieb nicht zu gefährden, besuchen die Mitarbeiter von OFARINs Büro den Unterricht nicht.

Es ist nicht auszuschließen, dass der Ra’is wirklich nicht mitbekam, was seine Abteilung in seinem Namen an OFARIN geschrieben hat. Die Briefe werden in Dari geschrieben. Das kann der Ra’is nicht lesen. Die Briefe haben Untergebene verfasst, die schon seit Jahren in untergeordneten Positionen in der für OFARIN zuständigen Abteilung arbeiten. Einige dieser nachgeordneten Angestellten, hatten mehrmals verlangt, auf die Lohnliste von OFARIN gesetzt zu werden. Solche Schmiergeldverhältnisse lehnten wir ab. Jetzt konnten die Herrschaften uns das heimzahlen. Der Ra’is hatte die feindseligen Briefe unterschrieben, ohne sie verstanden zu haben. Aber es kann auch anders gewesen sein.

In der letzten Woche wurde ich mit einem Mitarbeiter in diese Abteilung gebeten. Dort trugen uns die Untergebenen des Ra’is die Bedingungen vor, die die Abteilung für die weitere Zusammenarbeit erarbeitet hatte. Unsere Lehrer und Trainer müssten sich vom Ministerium prüfen lassen, bevor sie weiterarbeiten dürfen. Einkäufe von Unterrichtsmaterial, wie Hefte und Bleistifte, müsse das Ministerium überwachen oder selber durchführen. OFARIN muss dem Wirtschaftsministerium alle sechs Monate Finanzberichte vorlegen. Solche Berichte sollten in Zukunft monatlich an das Ministerium für Religiöses gehen. Weitere Bedingungen folgten. Ich erspare Ihnen Einzelheiten, denn auch ich hatte bei dem Treffen längst abgeschaltet und mir die einzelnen Zumutungen nicht mehr angehört. Eine so giftige Partnerschaft konnten wir nicht eingehen. Wir baten um die schriftliche Aufstellung der Bedingungen. Die wurde für den nächsten Tag zugesagt, kam aber nicht. Stattdessen reichte der Ra’is eigene Bedingungen nach: Viel mehr Religionsunterricht müsse in das Curriculum aufgenommen werden. Wieder baten wir um Zusendung. OFARIN bemüht sich längst um Partnerschaften zu anderen Ministerien. Sobald solch‘ eine neue Beziehung abgeschlossen ist, werden wir dem Ministerium für Religiöse Angelegenheiten mitteilen, dass wir seine Bedingungen ablehnen, auch wenn diese immer noch nicht bei uns eingetroffen sein sollten.

Was ist seit dem Eintreffen der Taliban aus OFARINs Partnerschaft mit dem Religionsministerium geworden? Die Taliban haben einen Ra’is eingesetzt, der mit der Partnerschaft inhaltlich aber auch technisch überfordert ist. Er kann den Schriftverkehr der Abteilung nicht lesen. Nachgeordnete Beamten, die schon immer dort waren, nehmen ihm diese Aufgabe ab. Der Ra’is weiß nicht, was die Beamten tun. Die gestalten die Partnerschaft so, wie sie es für richtig halten. Sie wollen die Verwendung des fremden Geldes bis ins Kleinste kontrollieren. So schaffen sie etliche Möglichkeiten, die Arbeit zu blockieren, um dann Schmiergeld für die Aufhebung von Blockaden zu verlangen.

So wie hier verliert die afghanische Verwaltung an vielen Stellen die Kontrolle von oben nach unten. Die Taliban setzen Entscheidungsträger ein, die mit ihrer Aufgabe überfordert sind und vieles falsch machen. Die nachgeordneten Verwalter entscheiden statt des formal Verantwortlichen nach eigenem Gusto.

Schlimm ist auch, dass die Taliban-Führer sich in vielen Fragen uneinig sind. Nie haben sie versucht, Gegensätze auszudiskutieren, um gemeinsame Positionen zu finden. Wenn jetzt jemand vor einer Entscheidung steht, so weiß oder ahnt er, welche der Anführer damit nicht einverstanden sein werden. Die werden lauthals protestieren und klar machen, dass die Entscheidung nicht von der Taliban-Führung getragen werden kann. Sie muss dann rückgängig gemacht werden. Wer sich nicht unbeliebt machen will, entscheidet lieber garnicht.

Überall wartet man auf Entscheidungen. Anträge von Bürgern werden nicht beantwortet. Investitionen unterbleiben. Was noch nicht ganz stagniert, braucht Zeit, unendlich viel Zeit.

Ein erschreckender Aspekt trat bei der Auseinandersetzung mit dem für uns zuständigen Ra’is im Religionsministerium auf. Der Ra’is ist in einem Dorf in der Umgebung von Kabul aufgewachsen. Doch seine Lebenserfahrung ist nicht sehr verschieden von der anderer Taliban, die im Gebirge oder in der Steppe gelebt haben. In der Dorfschule hat er einiges über die islamische Religion erfahren. Er weiß Gut von Böse und Feind von Freund streng zu trennen. Die Kontakte von OFARINs Büro zum Ra’is waren zunächst sachlich professionell. Doch als ich ihn in seiner Abteilung besuchte, ging es um ein längeres Schreiben seiner Abteilung, in dem festgelegt wurde, wie unser Unterricht im afghanischen Emirat stattzufinden habe. Unser Büro hatte das Schreiben, wie es sich gehört, vervielfältigt und an die Trainer der verschiedenen Gegenden, in denen wir aktiv sind, verteilt. Dieses Schreiben wurde in einer iranischen Illustrierten veröffentlicht. Der Ra‘is zeigte mir auf seinem Mobiltelefon Bilder von Mädchenklassen, die zum Artikel erschienen waren. Der Text, der von seiner Abteilung an unser Büro geschickt worden war, sei von einem Mitarbeiter unseres Büros abgeändert und an die iranische Zeitung lanciert worden, um das Emirat der Taliban im Iran schlecht zu machen. Offenbar war der Text, den unser Büro pflichtgemäß verteilt hatte, von einer Lehrerin oder einem Trainer iranischen Journalisten gezeigt worden. So wurde er in der iranischen Illustrierten abgedruckt, allerdings unverändert. Die Journalisten brauchten den Text nicht abzuändern, um das talibanische Emirat lächerlich zu machen. Der unveränderte Text sorgte bereits dafür.

Diese hübsche Geschichte hat es in sich. Der brave Ra’is hat alle Vorurteile eines paschtunischen Sunniten verinnerlicht. So erkannte er sofort, dass unser Mitarbeiter, ein Schiit, ein iranischer Spion war.

Afghanische Kollegen drängten mich, den der Spionage verdächtigten Kollegen für einige Wochen verschwinden zu lassen. Er solle sich nicht im Büro sehen lassen und zu Verwandten in die Provinz ziehen. Der Ra’is habe sich in seine Vision verbissen und auch gegenüber anderen geäußert, dass unser Kollege ein iranischer Spion sei. Wenn jetzt ein Taliban-Kommando käme und den Kollegen verhaftete, könnten wir nicht helfen. Ich stimmte zu. Der Kollege kehrt ins Büro zurück, wenn wir mit dem Ministerium des Ra’is nichts mehr zu tun haben.

Das ist die Rechtslage normaler Bürger im Reich der Taliban. Jeder Amtsträger, der zu den Taliban gehört, ist Herr eines kleinen Königsreiches, in dem er nach Belieben richten kann. Andere Taliban mischen sich kaum in den Bereich der Herrschaft eines solchen Kleinkönigs ein. Die Tatsache, dass ein Afghane, der für eine ausländische Organisation oder gar für das Militär, z.B. als Übersetzer, gearbeitet hat, nun schon über ein Jahr unbehelligt gelebt hat, ist keine Garantie dafür, dass er ungefährdet ist.

Was haben wir erreicht?

Wir stehen kurz vor der Heimreise. Gestern hatten wir etwas geschafft: Nach acht Wochen eifrigen Bohrens erhielten wir Exit-Reentry-Visa für ein halbes Jahr. Damit kann man jederzeit ein- und ausreisen. Vielleicht war dieser Aufwand überflüssig. Aber es dauert länger und länger, um afghanischen Behörden etwas abzuringen. Wer weiß, wie lange es dauern würde, wenn wir im Frühjahr ein Visum beantragen müssten?

Während unseres gesamten Aufenthaltes waren stets zwei bis drei Mitarbeiter damit beschäftigt, wegen dieser Visa Anträge zu schreiben, vom Amt zum Ministerium und zurück zu laufen und die nötigen Belege zu transportieren. Manchmal mussten sie nur in ein Ministerium fahren, um dort die Unterlagen von einer Abteilung in eine andere zu tragen. Meist war der zuständige Ra’is nicht anwesend, manchmal war niemand von der Belegschaft anzutreffen. Dann wurden Arbeitsverträge von Anne Marie und mir mit OFARIN verlangt. Bei OFARIN sind die nach deutschem Vereinsrecht nicht erforderlich und folglich nicht vorhanden. Aber ehe wir überlegt hatten, wie man afghanischen Bürokraten das deutsche Vereinsrecht erklären soll, hatte OFARINs Büro Arbeitsverträge ausgedruckt, die wir nur noch unterschreiben mussten.

Neue Perspektiven

Mindestens so aufwendig werden nach einem tastenden Anfang OFARINs Bemühungen um Kontakte zu anderen Ministerien mit dem Ziel, neue Partner zu finden. Lange Darstellungen von OFARINs Tun wurden in Dari und Paschtu verfasst. Dann wurde das Erziehungsministerium besucht. Dort gibt es eine Abteilung, in der Partner eigene Unterrichtskonzepte durchführen können, ohne dass solche Projekte als Teile des staatlichen Schulwesens gewertet werden. Ein späteres Hineinwachsen in das staatliche Programm ist aber möglich. Dieses Konzept verträgt sich gut mit den mittelfristigen Absichten von OFARIN.

Qari Sediq, OFARINs Cheftrainer in Qalacha, hatte die nötige persönliche Beziehung geschaffen. Der für diesen Zweig des Erziehungsministeriums zuständige Vizeminister lebt in Qalacha. Er kennt unser Programm und freute sich, dass OFARIN bei ihm vorsprach. Da sollte was draus werden – aber wann?

Ausländische Hilfsorganisationen sind beim Wirtschaftsministerium registriert. Außer dieser Beziehung braucht die ausländische Organisation als Partner ein Fachministerium. Diese Partnerschaft muss über das Wirtschaftsministerium beantragt werden. Dazu muss man dem Wirtschaftsministerium unglaublich viele Auskünfte geben. Auch gegenüber dem künftigen Partnerministerium muss man viele Auskünfte geben und auch Festlegungen eingehen. So muss man angeben, in welcher Provinz man wieviel Klassen einrichten wird. Eine Hilfsorganisation, die von den Spenden ihrer Landsleute lebt, kommt bei solchen Festlegungen ins Schwitzen, denn möglicherweise reicht die Finanzierung nach einigen Monaten für die angegebene Klassenzahl nicht mehr oder man würde gerne neue Gegenden für den Unterricht erschließen. Dazu heißt es, es sei leicht möglich, einmal gemachte Festlegungen zu ändern. Bei mir sträuben sich die Nackenhaare, wenn ich so etwas höre. Ich rieche Papierkram und Bürokratenwillkür. Der freundliche Empfang durch hohe Würdenträger im Erziehungsministerium, ist die eine Sache. Die andere ist die Zusammenarbeit mit den untergeordneten Beamten.

Aber immerhin, im Ministerium für Religiöses zeigen weder die Führung noch die niederen Bürokraten auch nur das geringste Interesse an OFARINs Tun. Freundlich willkommen geheißen wurden wir auch im Ministerium für Grenzfragen und Stammesangelegenheiten. Auch dieses Ministerium ist für einige Schulen zuständig und würde gerne mit uns zusammenarbeiten. Doch trotz dieser ermutigenden Begrüßungen wird es Geduld erfordern, bis wir mit neuen Partnern eine konstruktive Zusammenarbeit vereinbart haben.

Letztlich ist es entscheidend, dass OFARINs Arbeit von einigen einflussreichen Personen als wertvoll für die Zukunft Afghanistans erachtet wird. Wir brauchen einen gewissen Schutz und etwas Förderung. Wahrscheinlich hatte ich zu große Hoffnungen, als wir nach Afghanistan reisten, schnell auf solche Unterstützer zu stoßen. War ich doch 1998 in solch‘ eine Gruppe einflussreicher Taliban hineingestolpert, die nach Verbündeten für die Förderung von Schulen und Ausbildung suchten. Damals war ich ein blutiger Anfänger. Diesmal haben wir schon ein exzellentes Programm. Dennoch drängen sich die Förderer nicht auf.

Doch das wird kommen. Der eindringliche Ruf nach Bildung kommt aus allen Teilen der Bevölkerung. Solange die Taliban versuchen, diesen Ruf zu überhören, haben sie nur Stagnation zu bieten. Das wird nicht lange möglich sein. Was derzeit in Afghanistan als Bildung angeboten wird, ist Schrott und kostet meist noch Geld. Afghanistan ist nicht in der Lage, aus sich heraus ordentliche Unterrichtsprogramme zu entwickeln. OFARINs Programm ist ein unschlagbares Angebot. Es wird sich durchsetzen.

So hat unser Aufenthalt noch nicht den Durchbruch zu erfolgreicher Arbeit gebracht. Wir haben aber Voraussetzungen dafür geschaffen. Der Ausstieg aus der unerfreulichen und perspektivlosen Partnerschaft mit dem Ministerium für Religiöse Angelegenheiten ist eingeleitet. Wir starren nicht mehr nur auf die nächste Bedrohung, die sich der Ra’is und seine Kollegen ausdenken könnten, und haben den Kopf frei, die Zukunft zu planen.

Beglückend war für uns, die Arbeit unseres Kabuler Büros aus der Nähe zu erleben. Hier klappt einfach alles. Die gegenseitige Rücksichtnahme der Kollegen aufeinander ist einfach großartig. Auch die Offenheit bei der Zusammenarbeit ist wunderbar. Wenn einer für längere Zeit ausfällt, wissen genug andere, wo welche Korrespondenz abgeheftet ist. Da gibt es keine Geheimhaltung. Für dieses Klima, in dem sich jeder wohlfühlen kann, dürfen wir unserem Manager Abdul Hussain Khavari danken. Der hat das so hinbekommen. Aber alle haben gerne mitgemacht.

So war es auch möglich, den sehr plötzlichen Verlust von Zakeer Akbari zu verkraften. Dieser geniale Buchhalter – ich weiß, das scheint ein Widerspruch in sich zu sein. Aber wer Zakeer erlebt hat, weiß, dass ein Buchhalter genial sein kann. – also Zakeer nutzte eine Möglichkeit, nach Australien auszuwandern. Jetzt klebt er dort zusammen mit Verwandten Kacheln an die Wand. Wir vermissen ihn als einen lieben Freund. Aber als Buchhalter vermissen wir ihn überhaupt nicht. Neben Zakeer war nämlich Hewad Tanai herangewachsen, der inzwischen alles beherrscht, was wir in der Buchhaltung brauchen. Trotzdem wären wir sehr glücklich, wenn Zakeer wieder bei uns wäre.

Entschuldigen Sie, dass ich sentimentales Zeug von mir gebe! Aber, wenn Sie die zehn Wochen hier gewesen wären, hätten auch Sie das Bedürfnis, unsere afghanischen Kollegen zu loben.

Herzliche Grüße,

Peter Schwittek.