Die Bedeutung von „Verstehen“ in unterschiedlichen Kulturen

Seit einem halben Jahr meldet jeder OFARIN-Rundbrief, dass wir kurz vor der Abreise nach Afghanistan stehen. Wir stehen immer noch davor und werden auch diesen Monat davor stehen bleiben.

Doch die Prozedur schreitet voran. Man darf diejenigen, die jetzt für die Prozedur zuständig sind, nämlich die afghanische Botschaft in Berlin und das Konsulat in München, loben. Nach Berlin sind wir fast unverrichteter Dinge gereist. Der Herr Konsul war nicht anwesend und man rechnete nicht mit seiner Rückkehr vor dem Opferfest. Aber die Assistentin das Botschafters sorgte dafür, dass die Visa jetzt in München ausgestellt werden. Dort wohnt jemand, der mit uns reisen möchte, so dass vieles leichter werden wird. Das Münchener Konsulat ist sehr kooperativ.

Versuchen Sie bitte, sich in das afghanische diplomatische Personal hinein zu versetzen! Die wurden alle von der alten Regierung nach Deutschland geschickt. Keiner weiß, wie lange er noch arbeiten wird. Die Taliban-Regierung kann keinen neuen Botschafter schicken. Sie ist nicht anerkannt. Ein von ihr entsandter Botschafter würde nicht akkreditiert werden. Immerhin, Visa werden ausgestellt – sofern der Konsul anwesend ist. Auch kann das Konsulat Pässe afghanischer Staatsbürger verlängern. Für neue Pässe fehlen die Rohlinge.

Langsam stellt sich die Frage nach der Reiseroute. Das Reisebüro, über das wir bisher unsere Flüge buchten, kann uns helfen bis nach Istanbul oder Dubai zu kommen. Von dort müssten wir uns afghanischen Linien wie Kam-Air oder Ariana anvertrauen. Die fliegen nicht regelmäßig. Über unser Reisebüro können wir die nicht buchen. Immerhin hat ein technisch potenteres Land – Qatar oder Dubai – die Betreuung des Kabuler Flughafens übernommen. Den nächsten Rundbrief schreiben wir in Kabul. Wir glauben daran.

Was wird darin stehen? Vieles können wir von hier aus nicht vorhersagen. Wir wollen die Situation selber sehen und dann darüber berichten. Bisher haben wir viele persönliche Eindrücke kennen gelernt. Jeder davon gibt eine individuelle Sicht der Dinge wieder. Das reimt sich nicht zu einem stimmigen Bild zusammen. Auch wir werden mehr als einen Blick auf die Lage benötigen, um uns ein Urteil zuzutrauen. Also, da müssen Sie wohl auch im August geduldig bleiben.

In vorangehenden Rundbriefen haben wir berichtet, dass wir gebeten wurden, in den Provinzen Khost und Baghlan sowie in Zentralafghanistan tätig zu werden. Realistisch sind diesmal Besuche in Baghlan und Khost und vielleicht das Setzen von ersten kleinen Pflänzchen in diesen Provinzen. Aber dafür müssen wir geeignete Strukturen schaffen. Diese entfernten Gebiete müssen angemessen betreut werden. In Paryan im Pandschirtal haben wir gezeigt, dass das möglich ist. Allerdings wird in der Provinz Pandschir noch gekämpft. Wir haben dort den Unterricht noch nicht wieder begonnen.

In Logar läuft der Betrieb wieder. Doch die lange Abwesenheit von OFARINs Kabuler Mitarbeitern hat der Qualität des Unterrichts nicht gut getan. Da Logar von Kabul aus relativ gut erreichbar ist, können wir hier Erfahrungen sammeln, wie man den Unterricht verbessert, indem man einen leistungsfähigen Trainerstab aufbaut.

Wie man es falsch macht, haben wir in den Jahren 2018 und 2019 in der Stadt Charikar erfahren. Ein Mann, der in Kabul lebt, aber aus Charikar stammt und dort Einfluss hat, hatte uns ermuntert, unser Programm in seiner Heimatstadt zu beginnen. Die Anreise von Kabul nach dort dauert über eine Stunde. Wir haben die Fahrt etliche Male zu viert und zu fünft auf uns genommen. Zuerst verstand man uns nicht. Wir Kabuler vom OFARIN-Büro mussten einige Male den Unterricht selber halten. Danach machten es die lokalen Lehrkräfte viel besser. Schließlich wurde uns ein junger Mann als Trainer vorgestellt. Der verstand alles. Wir konnten ihn nach allen Details des Unterrichts fragen. Er konnte es erklären. Unser Programm in Charikar hatte Wurzeln geschlagen.

Der Trainer von dort kam zu den Treffen, die alle zwei Wochen in unserem Kabuler Büro stattfinden. Jeder Trainer berichtet dort über den Unterricht in seinem Bereich. Der Mann aus Charikar gab an, dass bei ihm die Alphabetisierung abgeschlossen sei. Wie bitte? Wir waren doch erst ein halbes Jahr dort aktiv. Die Alphabetisierung dauert, wenn alles gut geht, ein volles Jahr. Ein neu installiertes Programm braucht 15 Monate und mehr. Tags darauf fuhr eine Delegation von OFARIN nach Charikar. Es war, wie befürchtet: Die Schüler hatten nichts gelernt und nichts verstanden. Der Trainer hatte die Lehrer angespornt, ihr Programm schnell abzuspulen, wahrscheinlich weil er glaubte, das werde uns positiv beeindrucken. Aber in den Köpfen der Schüler war nichts angekommen. Wir grübelten, wie noch etwas zu retten war, fanden aber nichts. Wir gaben Charikar auf.

Ja, so sind sie, die Ausländer, die helfen wollen. Ein junger Afghane versteht es, ihnen nach dem Mund zu reden. Und schon glauben sie „Der denkt wie wir. Der versteht seine Aufgabe wie wir.“ Für einen Menschen aus dem Westen ist es selbstverständlich, dass es das Ziel aller Mühen des Unterrichts ist, dass die Schüler den Stoff erlernen, der vermittelt werden soll. Und wir – auch die afghanischen Mitarbeiter von OFARIN – glaubten, dass es dem jungen Mann ebenso selbstverständlich sei wie uns. Uns war dieses Ziel so selbstverständlich, dass wir es gegenüber diesem Trainer nie erwähnt hatten.

Wir hätten es ahnen können. Schließlich kannten wir Bestimmungen, die das Erziehungsministerium für den Schulunterricht erlassen hatte. Z.B. mussten Schulanfänger, noch bevor sie die ersten Buchstaben kennen gelernt hatten, die Zahlen von eins bis zehn mit Buchstaben schreiben lernen. Afghanische Schulbehörden haben keine Ahnung davon, wie man Schüler zum Verstehen und Lernen anleitet. Wie sollte unser Trainer aus Charikar das ahnen?

Doch das interkulturelle Missverständnis liegt tiefer. „Verstehen“ ist für Afghanen etwas anderes als für uns. Wenn wir sagen, dass jemand einen „Text versteht“, dann hat der den gelesen und weiß, welche Personen und Gegenstände darin vorkommen, welche Beziehungen zwischen ihnen bestehen und welche Handlungen sich ereignen; dann kann er das alles mit eigenen Worten beschreiben. In diesem Fall sprechen wir hier von „inhaltlichem Verstehen“.

Wenn ein Afghane jemandem bestätigt, dass er einen „Text versteht“, drückt er damit aus, dass die Person den Text wortwörtlich wiedergeben kann. Dabei wird nicht verlangt, dass der Leser die Inhalte des Textes zur Kenntnis genommen hat. Auch ein Afghane, der einen arabischen Text wortwörtlich wiedergeben kann, ohne dass er des Arabischen mächtig ist, hat nach afghanischem Sprachgebrauch diesen Text „verstanden“.

Man sollte dieses afghanische „Verstehen“ nicht allein auf die Koran-Rezeption zurückführen. Entwicklungshelfer aus Lateinamerika berichten davon, dass auch in den Schulen ihrer Gastländer auswendig gelernte, oft unverstandene Texte abgefragt werden. Wenn der Lehrer „Peru liegt in Südamerika.“ vorgegeben hat und der Schüler wiedergibt „Peru ist ein Land in Südamerika.“, so wertet der Lehrer die Wiedergabe als falsch, weil sie nicht wörtlich ist. Doch das liegt wohl an einer weltweit verbreiteten Unart von Lehrern, sich ihre Arbeit bequem zu machen. So etwas gab es früher auch bei uns.

Im islamischen Raum hat die wörtliche Wiedergabe vermutlich ihren Ursprung tatsächlich in der Koranrezeption. Die „alten Taliban“, also die, die bis 2001 an der Macht waren, verfügten, dass blinde Männer, die den Koran auswendig wiedergeben können, als Regierungsräte anzustellen und zu besolden seien. Ein Mensch, der den Koran in sich aufgenommen hat und für andere wiedergeben kann, wird als Gefäß wahrgenommen, das Wertvolles enthält.

Diese Wertschätzung wörtlich wiedergegebener Texte haben die Taliban nicht erfunden. Zu jeder Moschee gehören Qaris, deren Aufgabe es ist, fromme Texte – oft Suren des Korans – zu Beerdigungen, Hochzeiten und religiösen Feiern gesangsmäßig vorzutragen. In der islamischen Welt gibt es also ausreichend menschliche Gefäße köstlichen religiösen Inhaltes. Auch der Koran in Buchform wird als Behälter seines Inhaltes hoch geachtet. Er muss in jedem Raum, in dem sich andere Bücher befinden, die höchste Position einnehmen.

Die Erfindung des Buchdrucks drohte der Buchform des Koran das Übergewicht gegenüber den Menschen, die den Koran aufsagen können, zu verschaffen. Die islamische Welt verbot daher jahrhundertelang den Buchdruck. Das schadete ihr erheblich und verhinderte viele Entwicklungen, die sich seither im Westen ergaben.

OFARINs Unterricht vermittelt das inhaltliche Verstehen. Das soll nicht ausschließen, dass auch Gedichte auswendig gelernt werden. Aber dabei soll dann der Text inhaltlich verstanden werden.

OFARINs Unterricht ist also in etwa der, den Sie, lieber Leser – hoffentlich – während Ihrer Schulzeit erlebt haben. Unsere Schüler sollen einen gegebenen Text „lesen“. Dabei sollen sie sich die darin genannten Personen und Sachen und das, was zwischen ihnen passiert, vorstellen. Und sie sollen Ereignisse „beschreiben“, d.h. in ihrer Sprache schriftlich wiedergeben. Dabei wählen sie selbständig geeignete Wörter und Sprachregeln aus, um einen geeigneten Text zu bilden.

Stellen Sie sich nun den Schüler einer afghanischen staatlichen Schule vor, der einen Text vor sich hat, den er auswendig lernen soll! Er soll sich Wort für Wort einprägen. Der Inhalt des Textes lenkt den Lernenden nur ab. Wenn er nämlich den Wortlaut noch nicht gut genug beherrscht, könnte er auf den Ausweg geraten, den Text mit eigenen Worten weiter zu führen, um den Inhalt mitzuteilen. Das ist nicht erwünscht, sondern die wörtliche Wiedergabe. Also verkneift er sich lieber jeden Gedanken an den Inhalt. Das ist Quälerei.

Noch krasser wird es in der Mathematik. Ist eine Aufgabe gegeben, muss man überlegen, welche Regeln man anwenden kann. Bei einfachen Aufgaben ist das Übung, meinetwegen auch Stumpfsinn. Aber je komplizierter eine Aufgabe ist, desto mehr wird sie zum Rätsel. Solche Aufgaben begeistern jeden Schüler. Verbeamtete Lehrer seien dennoch vor knackigen Mathematikaufgaben gewarnt! Man kann schlecht kalkulieren, wieviel Unterrichtszeit die „verbrennen“.

Einst besuchte ich eine afghanische Schulklasse. Der Lehrer schrieb an die Tafel 18, darunter 17. Darunter zog er einen Strich und schrieb noch darunter 35. Dann sprach er: „18 plus 17 ist 35.“ Diese Wahrheit mussten acht Schüler mündlich wiederholen. Was geht im Kopf einer siebenjährigen Schülerin vor, wenn sie die Aufgabe lösen soll? Die addiert 18 + 7 und zum Ergebnis noch einmal 10. Der erste Schritt hat es in sich. Das ist ein Zehnerübergang. Den muss die Schülerin im Kopf haben. Danach noch 10 zu addieren, ist nicht so schwer.

Ja, so muss sich eine deutsche Schülerin abmühen. Wenn sie es geschafft hat, ist sie stolz. In dem Fall, den ich beobachtet habe, musste aber kein afghanischer Schüler nachdenken. Alle sollten „18 plus 17 ist 35.“ auswendig lernen. Das gab der Lehrer vor. Wie man das Problem 19 + 17 = ? löst, hatte kein Schüler gelernt. Manche afghanischen Schüler lernen auch das Anwenden einiger Rechenregeln. Doch Methodik ist Glückssache. Mein Erlebnis ist eher Regel als Ausnahme.

OFARINs Unterricht wird von seinen Schülern begeistert aufgenommen. Journalisten haben gegenwärtige und ehemalige Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte von OFARIN befragt. Viele von denen haben OFARINs Unterricht als etwas vollkommen anderes empfunden als den Unterricht an staatlichen Schulen. In Afghanistan sind auch private Schulen zugelassen. Diese sind aber verpflichtet, die Curricula und Methoden der staatlichen Schulen anzuwenden.

Wir halten es in der gegenwärtigen Situation des Umbruchs für sehr wichtig, unserem Programm zu größerer Bedeutung zu verhelfen. Dabei muss das Programm weiterhin für Mädchen und Frauen offen bleiben. Nach den bisherigen Erfahrungen sollte das möglich sein – vielleicht nach einigen Anfangsschwierigkeiten.

Der Unterricht soll in Kabul, in Logar und in Pandschir weitergeführt werden. Wünschen von Honoratioren aus den Provinzen Khost und Baghlan, unseren Unterricht dort zu beginnen, werden wir nach Möglichkeit, nachkommen. Entscheidend ist, dass wir in allen Gebieten unser Unterrichtsniveau anbieten. Gute Leistungen werden wir weiterhin durch eine vertrauensvolle Zusammenarbeit von OFARINs Belegschaft erreichen. Unsere Trainerinnen und Lehrer genießen, wenn sie dank unserer Unterstützung erfolgreich unterrichten, die Wertschätzung der Gemeinschaft, in der sie leben. Dabei wird von keiner Lehrerin und keinem Trainer Übermenschliches verlangt. Wenn der Unterricht so ist, wie bisher in Kabul, reicht das. Die Kommunikation mit den Provinzen stellt zusätzliche Anforderungen. Hier sind weitere Strukturen nötig – Mitarbeiter, die reisen, auf dem Land Schulungen durchführen und den Unterricht besuchen. Der Einsatz elektronischer Mittel könnte eine hilfreiche Ergänzung solcher Aktivitäten sein.

Jeder, der etwas mit Entwicklungshilfe zu tun hat, weiß dass „zusätzliche Strukturen“ ziemlich wörtlich mit „mehr Geld“ übersetzt werden muss. Nach allem, was bisher ausgeführt wurde, wird Sie das nicht überraschen. Bitte, helfen Sie uns, die nötigen Mittel aufzutreiben, um unser Programm weiter zu verbreiten! OFARIN kann grade jetzt einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung Afghanistans leisten. In diesen Sommermonaten, in denen auch Hilfe für Völker in unserer Nachbarschaft erforderlich ist, reicht unser Spendenaufkommen nicht aus. Mir ist klar, dass Sie, die Empfänger unserer Rundbriefe, vieles tun, um OFARIN zu unterstützen. Aber vielleicht können Sie andere Mitbürger auf unser Programm aufmerksam machen und auf die Chancen, die es den Afghanen bietet.

Wenn wir von Ausdehnung unseres Programmes sprechen, so denken wir schon lange auch an eine inhaltliche Erweiterung des Unterrichtsstoffes. Eine solcher Weiterbau ist sehr sinnvoll. Doch in der gegenwärtigen Situation wollen wir damit abwarten. Eine inhaltliche Erweiterung verlangt eine deutliche Stärkung der Strukturen, also mehr Geld. Das, was wir bisher unterrichten, ist elementar. Aber für Afghanistan ist es mit seiner „fremden“ Methodik ein großer Schritt vorwärts. In Gegenden, in denen wir jetzt neu beginnen, kann zusätzlicher Unterrichtsstoff ohnehin frühestens in zwei Jahren unterrichtet werden, wenn das bisherige Programm durchgenommen ist.

Wenn wir ein Lehrbuch schreiben, stammt ein erster Vorschlag in englischer Sprache meist von mir. Die Kollegen übersetzen das und dann diskutieren wir die Version in Dari bis wir uns einig sind. Unsere Lehrbücher liegen folglich nur in Dari und in Paschtu vor. Wir werden beginnen, die vorliegenden Lehrbücher ins Englische und Deutsche zu übertragen und in die Homepage zu setzen. Das soll es Interessierten, die aktiver bei uns mitarbeiten wollen, ermöglichen, sich in unsere Arbeit hinein zu denken. Es wäre schön, wenn sich dadurch mehr aktives Mitmachen in Deutschland ergäbe.

Herzliche Grüße,

Peter Schwittek.

 

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