Vor einer Reise nach Afghanistan: OFARIN und die Taliban

Ein wichtiger Schritt für die Reise von Anne Marie und mir nach Afghanistan ist getan. Das Kabuler Außenministerium hat nach beharrlichen Bemühungen von OFARINs Kabuler Büro Code-Nummern für unsere Visa an die afghanische Botschaft in Berlin geschickt. Wir sind noch nicht reisefertig. Erst müssen wir in Berlin die Visa beantragen. Für die Ausstellung braucht die Botschaft zwei Wochen.

Natürlich beobachten wir die laufenden Nachrichten aus Afghanistan. In Telefonaten mit den Kollegen fragen wir nach vielem. Eigentlich sollten wir informiert sein – fühlen uns aber trotz zahlreicher Informationen – unsicher.

Auch wenn in den Medien die Ereignisse in der Ukraine Vorrang haben, findet man immer wieder etwas über Afghanistan in der Zeitung, im Rundfunk oder im Fernsehen. Man hat den Eindruck, die Journalisten geben sich immer wieder mal einen Schubs: „Über Afghanistan müssen wir auch mal wieder was bringen.“ Und dann wird einer ausgeguckt, der etwas über Afghanistan schreiben, filmen oder besprechen muss. Für die Regionalzeitung genügt es, wenn man Flüchtlinge, die es in die Gegend verschlagen hat, auftreibt und sich von ihnen erzählen lässt, wie es in Afghanistan aussieht. Größere Agenturen und Anstalten leisten es sich, einen Journalisten für ein paar Tage nach Afghanistan zu schicken. Auf solch‘ abenteuerliche Missionen lassen sich eher junge Menschen ein, die sich noch einen Namen machen müssen.

In solchen Reportagen erfährt man interessante Details. Einige machen einen betroffen. Doch eine ausgewogene Darstellung der Lage, fundierte Erläuterungen des Hintergrundes und eine seriöse Einschätzung der weiteren Entwicklung darf man nicht erwarten.

Verstehen Sie mich nicht falsch! Ich singe hier nicht das Lied von der „Lügenpresse“. Diese setzt gezielt falsche Tatsachen in die Welt. Das gibt es leider auch. Nein, ich denke an gewissenhafte Berichterstatter, die nur das beschreiben, was sie gehört und gesehen haben. Aber dem schwierigen Thema Afghanistan kann nur eine sehr aufwändige Berichterstattung gerecht werden. Und die kostet. Für ein fremdes Land, das weit weg liegt und zum Geschehen in Europa nur Flüchtlingsströme beiträgt, ist nicht viel Interesse vorhanden. Für Medien rechnet es sich nicht, viel Personal und Geld für die Berichterstattung über Afghanistan einzusetzen. Deshalb erfahren wir über dieses Land nur Einzelheiten. Über einige staunt man, andere erschrecken. Einordnen kann man sie kaum.

Wenn man – wie wir – in Afghanistan arbeiten will, muss man mehr wissen. Man muss ein Gefühl für die Gefahren und Möglichkeiten des Engagements haben. Und da sind wir uns nicht sicher genug. Man muss dort sein, bevor man aktiv wird.

Der größere Teil unseres Unterrichtsprogrammes läuft wieder. Insbesondere die Mädchenklassen machen uns Sorgen. In echten Moscheen dürfen wir keine Mädchen unterrichten. Aber auch in Privatwohnungen geht es nicht. Der Minister meint, die Privatsphäre der Familie dürfe nicht gestört werden. Das sehen die Betroffenen anders. Man müsste mit ihm darüber reden. Aber der Minister muss für Afghanistan die Hadsch organisieren. Vermutlich findet er trotzdem für einen ausländischen Besucher etwas Zeit, die er für einen Landsmann nicht hat. Unsere Leute haben Schleichwege gefunden, dennoch den Unterricht für Mädchen zu beginnen. Doch gefährden wir dadurch unser Programm, unsere Lehrerinnen und Schülerinnen? Das kann man von hier aus nicht einschätzen.

Schon vor zwei Monaten rief ein alter Bekannter aus Khost an. OFARIN solle zu ihm kommen und in seiner Provinz Unterricht beginnen. Das ist interessant, aber voller Haken und Ösen. Dazu muss man selber dorthin reisen. Khost scheint übrigens durch das schwere Erdbeben sehr betroffen zu sein. Bisher wissen wir nichts darüber.

Eine Gruppe junger Männer vom Volk der Hazara hat es nach München verschlagen. Sie stammen aus verschiedenen Provinzen ihres weiträumiges Siedlungsgebietes Hazaradschat. Die würden gerne mit uns zusammenarbeiten. Wir kennen dieses karge, wunderschöne Bergland in Zentralafghanistan. Das Volk der Hazara ist arm und sucht mehr als andere Afghanen Aufstiegschancen durch Bildung. Es wäre sinnvoll, einen Blick ins Hazaradschat zu werfen und dann mit den Afghanen in München darüber zu reden.

Grade traf ein E-Mail ein. Der Taliban-Minister für das Schulwesen der Provinz Baghlan hat sein Englisch zusammengerafft und beschreibt das Schulwesen in seiner Provinz. Er bittet uns in seiner Provinz tätig zu werden. Vermutlich hofft er, dass wir schnell mal das Schulwesen von Baghlan in die Hand nehmen. Solche Riesenprojekte sind Leckerbissen für Großbürokratien wie die amerikanische AID oder die deutsche GIZ. Die geben dafür viel Geld aus und erreichen in aller Regel nichts. OFARIN würde an einigen Orten mit wenigen Klassen beginnen und wenn wir dort Wurzeln geschlagen haben, solche Zentren langsam ausdehnen. Anderes können wir nicht.

Verlockend sind diese Möglichkeiten alle. Generell dürften wir in den meisten Provinzen mehr Freiheiten haben, als in Kabul, wo sich die Taliban bemühen, ihre Ideologie auszubuchstabieren. Ihnen, lieben Lesern schwant, dass unser Finanzbedarf durch diese Reise deutlich wachsen wird. Ich sehe das auch so und hoffe auf Sie und weitere Interessenten.

 

Aber wollen wir das überhaupt? Machen wir uns nicht von den Taliban abhängig? Lassen wir uns gar als Feigenblatt missbrauchen, das das Unrecht eines menschenverachtenden Regimes verstecken hilft?

Treten Sie bitte etwas zurück und holen tief Luft! 1992 hatten die Mudschaheddin, die für die Befreiung Afghanistans gekämpft hatten, die Kommunisten besiegt. Afghanistan war frei. Doch die Anführer der rund zehn Widerstandsparteien wollten jetzt die ganze Macht. Sie begannen einen brutalen Bürgerkrieg gegeneinander.

Am 11.9.2001 fanden die Angriffe auf das Word-Trade-Center in New York und auf das Pentagon in Washington statt. Die USA verlangten die Auslieferung von Osama bin Laden, der die Anschläge mitgeplant hatte und sich in Afghanistan aufhielt. Die damals regierenden Taliban lehnten das ab. Darauf verjagten die USA mit Einwilligung des Weltsicherheitsrates die Taliban aus Afghanistan.

Was sollte danach aus Afghanistan werden? Die USA hatten den alten Widerstandsparteien der Mudschaheddin, die gegen die Taliban gekämpft hatten, zum Sieg verholfen. Ihre Anführer waren fast die gleichen wie 1992. In der schlichten Denkungsart dieser Räuberhauptleute kam jetzt nichts anderes in Frage als wieder der Endkampf um die alleinige Macht. Durfte man das zulassen?

Die Alternative war das Eingreifen der Weltgemeinschaft. Die USA hatten gegen die Taliban bereits Militär im Land. Andere Länder waren bereit, Truppenkontingente zu stellen, um in Afghanistan den Wiederaufbau eines Staates militärisch abzusichern. Die Weltgemeinschaft beschloss, Afghanistan das Chaos eines endlosen Bürgerkrieges zu ersparen, und griff ein. Aber was für eine Staatsform sollte Afghanistan bekommen? Die Staaten, die sich engagierten, waren Demokratien. Sie kannten und konnten nichts anderes. Also sollte in Afghanistan eine Demokratie geschaffen werden.

Die Afghanen hatten bis dahin keine Demokratie erlebt. Aber sie wurden nicht gefragt. Wie hätten Vertreter der ausländischen Staaten damals auch mit der afghanischen Bevölkerung über die Staatsform verhandeln können? Wenn etwas schief gelaufen ist, sucht man in Deutschland gern nach Schuldigen. In diesem Fall, sollte man sich zurückhalten. Die damaligen Entscheidungen waren fast alternativlos, brachten aber kein Glück. Heute weiß man vieles besser.

Sicher ist beim Versuch, in Afghanistan eine Demokratie zu schaffen, vieles falsch gemacht worden. Mir fällt etliches ein. Inzwischen bin ich überzeugt davon, dass man in Afghanistan mit dem Versuch, eine Demokratie aufzubauen, scheitern musste, auch wenn man alles richtig gemacht hätte. Es war schlicht zu verwegen, aus Afghanistan eine Demokratie machen zu wollen. Das konnte nicht gut gehen.

Sehen Sie sich einige östliche Nachbarländer Deutschlands an! Alle wollten 1989 die Demokratie. Für die Menschen hieß das: Wahlen. Doch dass Wahlen allein keine stabile, dauerhafte Demokratie schaffen, zeigte sich erst später. Dann erkennt man, dass zur Demokratie die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz gehören und auch die Pressefreiheit und die Pluralität. Die EU hat viel Geld und Mühen in Länder wie Ungarn oder Rumänien gesteckt. Aber die Oligarchen-Strukturen, die Korruption, die Staatsanwälte, die ein rechtsstaatliches Justizwesen vereiteln, das alles lebt dort munter weiter.

In Ungarn oder Rumänien wird es noch lange dauern, bis man die Zusammenhänge sieht. In allen islamischen Ländern des Mittelmeerraumes sind Versuche, Demokratien aufzubauen gescheitert. Für die afghanische Gesellschaft mit ihren ganz anderen Traditionen liegt die Demokratie noch viel weiter weg.

Durchgesetzt hat sich in Afghanistan die Herrschaft der Taliban. Es gibt afghanische Bürger, die hatten sich mit der Demokratie arrangiert. Die hatten erkannt, welche Vorteile für alle in dieser Staatsform stecken. Oft waren das Menschen, die in ausländischen Organisationen arbeiteten. Auch eine kleine Schicht von Geschäftsleuten, Ärzten, Computerspezialisten, Künstlern und Journalisten wusste die Demokratie zu schätzen. Mir fällt auf, dass es kaum Konzepte gab, kleine Handwerker und Menschen auf dem Land in eine sich entwickelnde moderne Gesellschaft mitzunehmen.

Als die Taliban die Macht übernahmen, wurde den Anhängern der Demokratie klar, welche persönlichen Perspektiven ihnen verloren gingen. Einige konnten noch fliehen. Alle beklagen die Verluste. Manchmal hat man den Eindruck, sie wollen mit ihren Klagen den Westen dazu bewegen, seine Rückzugsentscheidung zu revidieren.

Die Taliban sind an der Macht und sie werden es für absehbare Zeit bleiben. Damit müssen wir leben. Die Taliban haben für ihre Ziele gekämpft und sie haben sich durchgesetzt.

Aber was sind das für Ziele? Sie wollen die Menschenrechte einschränken, insbesondere die der Frau. Auch die Pressefreiheit ist den Taliban ein Dorn im Auge. Bei den Verhandlungen über den Rückzug der westlichen Truppen gab sich die Trump-Regierung mit einigen Floskeln zu den Grundrechten zufrieden. Auch sollten alle Ethnien angemessen an der Macht beteiligt werden.

Die alten Taliban, also diejenigen, die bis 2001 herrschten, waren deutlich restriktiver als diejenigen, die jetzt an der Macht sind. Mädchen durften nicht in die Schule gehen – auch nicht bis Klasse 6. Frauen war die Berufstätigkeit untersagt. Jede Musik war verboten. Männer durften ihren Bart nicht trimmen, geschweige denn abrasieren. Diese und andere absurde Ge- und Verbote waren damals von Pakistan durchgesetzt worden, um Afghanistan rückständig und abhängig zu halten. Damals waren die Taliban von pakistanischen Waffenlieferungen abhängig. Jetzt haben die Taliban genug Waffen.

Die Taliban sind sich offenbar uneinig, wie sehr sie ihre alten Regeln wieder durchsetzen sollen. Viele Taliban haben diese Regeln verinnerlicht und halten sie für einen Teil der Identität ihrer Bewegung. Andere denken an die Zukunft und würden den ideologischen Ballast gerne für ein besseres Verhältnis zu Ländern opfern, die Ihnen Aussichten auf wirtschaftliche Entwicklung bieten können.

Es ist im wohlverstandenen Eigeninteresse der westlichen Welt die auf die Zukunft setzenden Taliban zu fördern und zu ermuntern. Der Westen hat nichts davon, wenn er jetzt die Taliban wegen der alten Sünden von sich weist und Afghanistan dadurch in die Arme der Chinesen, Iraner oder Russen drückt.

OFARIN ist entschlossen, sein Unterrichtsprogramm in Afghanistan weiter zu entwickeln. Dieses Programm trägt erwiesenermaßen dazu bei, Menschen zu selbständigem Denken und Handeln anzuregen. Es schafft auch Solidarität unter seinen Schülerinnen, Schülern und Lehrkräften sowie deren Familien. Das sind Qualitäten, die die Afghanen benötigen, um ihren eigenen Weg zu finden, auch wenn der nicht direkt zur Demokratie führt.

Herzliche Grüße,

Peter Schwittek.

Empfehlung der Redaktion:

Sie möchten die Bemühungen der Familie Schwittek unterstützen?

Dies ist das (gemeinnützige) Spendenkonto von OFARIN:

IBAN: DE85 7905 0000 0360 1044 18
BIC: BYLADEM1SWU

Sparkasse Mainfranken Würzburg

Der Verein ist vom Finanzamt Würzburg als gemeinnützig anerkannt.

Mehr Informationen unter www.OFARIN.org