„So schleicht sich in Kabul Normalität ein und durchdringt Talibanisches.“

Wpir warten immer noch darauf, dass die Taliban-Regierung Schritte unternimmt, für uns Visa auszustellen. Die Türkei hatte seit vielen Jahren ein Gymnasium in Afghanistan aufgebaut. Die türkische Schulleitung wartet nun schon fünf Monate auf Visa, die ihr erlauben, wieder nach Kabul zu kommen.

Das Problem für die Leitung der türkischen Schule wie für die Projektkoordinatoren von OFARIN ist offenbar die interne Abstimmung innerhalb der Taliban. Die Taliban haben sich vor der Machtübernahme keine Gedanken gemacht, wie man das Land regieren soll:

– Was für eine Verwaltung brauchen wir für unseren Staat?

– Woher nehmen wir das Geld, um die Staatsbeamten zu besolden?

– Wie finanzieren wir den Staat? Wollen wir Steuern einnehmen?

– Was sollen unsere Schüler lernen?

– Wozu brauchen wir Universitäten? Was soll dort studiert werden?

– Welche Fernstraßen müssen wir reparieren?

Fragen wie diese hatten sich die Taliban überhaupt nicht gestellt, bevor sie an die Macht kamen. Für sie waren andere Fragen wichtiger:

– Sollen Mädchen in die Schule gehen?

– Wie gehen wir mit Beamten, Soldaten, Polizisten der ehemaligen Regierung um?

– Dürfen Frauen einen Beruf ausüben? Dürfen sie alleine reisen?

– Soll Musik verboten werden?

– Dürfen Frauen unverschleiert auf die Straße gehen?

– Dürfen Männer sich rasieren oder wenigstens den Bart pflegen?

– Soll man das Fotografieren erlauben?

Die „alten Taliban“, die von 1996 bis 2001 in Kabul herrschten, hatten es Frauen verboten, einen Beruf auszuüben und unverschleiert auf die Straße zu gehen. Männer durften ihre Bärte nicht trimmen. Mädchen durften nicht in die Schule gehen. Jede Musik war untersagt. Fotografieren war verboten. Nur Passfotos waren erlaubt. Den Gläubigen hatte man gesagt, dass sie ins Gefängnis kommen, wenn sie gegen diese Regeln verstoßen, und nach ihrem Tod in die Hölle.

Während des Krieges waren sich die Taliban einig: Nach einem Sieg wird das Scharia-Recht eingeführt. Das wird solche Fragen beantworten. Aber die Scharia löst die genannten Probleme nicht. Die Gebote der alten Taliban kann man nicht aus der Scharia ableiten.

Dennoch halten viele Taliban das Einhalten dieser Regeln für wichtig für ihren Zugang zum Paradies. Dafür haben sie gekämpft. Darüber diskutiert haben sie kaum.

Die Anführer der Taliban müssen davon ausgehen, dass es für viele ihrer Anhänger richtig und wichtig ist, dass Mädchen nicht in die Schule gehen und Musik verboten ist. Ein Teil der Anführer hat sich dafür entschieden, Wortführer des konservativeren Fußvolks der Taliban zu werden und Einschränkungen für das Leben der Frauen zu beschließen. Wie diese Entscheidung durchgesetzt wurde und ob eine erhebliche Minderheit dagegen war, lässt sich von außen nicht feststellen.

So wurde Mädchen der Unterricht in der Oberstufe der staatlichen Schule vorläufig verwehrt. Man wolle erst geeignete Schulgewänder für junge Mädchen entwerfen. Damit dürften sie dann in die Schule gehen. Frauen sollen nur noch voll verschleiert ihr Haus verlassen dürfen. Im Fernsehen müssen die Sprecherinnen verschleiert sein.

Ob diese Bestimmungen dauerhaften Bestand haben, muss sich zeigen. Das Verschleierungsgebot in der Öffentlichkeit wird moderat durchgesetzt. Taliban-Kommandos ermahnen Passantinnen, die nicht voll verschleiert sind, sich vorschriftsmäßig zu kleiden. Dagegen schlug die Religionspolizei der alten Taliban mit Stromkabeln auf Frauen ein, die nicht voll verschleiert waren, und inhaftierte sie.

Die Taliban werden vom Islamischen Staat bedrängt. Diese Gruppierung, von der Bevölkerung „die Da’esch“ genannt, kämpft militärisch gegen die Taliban. Sie verübt Anschläge auf Bildungseinrichtungen und auf schiitische Moscheen. Die Da’esch vertreten die „Errungenschaften“ der alten Taliban mit brutaler Konsequenz. Da die Da’esch ihre Kämpfer auch besser bezahlen, fürchten die Taliban, dass ihr konservatives Gefolge zur radikalen Konkurrenz überläuft, wenn sie die Regeln der alten Taliban vernachlässigen.

Auch der Umgang mit ausländischen Hilfsorganisationen dürfte unter den Taliban umstritten sein. Grundsätzlich misstraut man den Fremden. Die sind gegen die Regeln der alten Taliban. Die meisten sagen offen, dass Frauen gleichberechtigt sein sollten. Andrerseits leisten die Ausländer manche Dienste, die auch die Taliban als wertvoll anerkennen, z.B. im medizinischen Bereich. Auch im Bereich von Schulen und Ausbildung, von dem die Taliban zugebener Maßen nichts verstehen, ist ausländische Unterstützung erwünscht.

Schließlich geht es den Taliban um die Anerkennung ihrer Regierung durch Staaten, von denen man wirksame Hilfe bekommen kann. Solche Staaten erkennen die Taliban-Regierung nicht an, weil ihre Vorstellungen von Menschen- und Bürgerrechten nicht mit denen der Taliban vereinbar sind. Verträge mit ausländischen Organisationen, ohne die diese in Afghanistan nicht arbeiten dürfen, sind kein vollwertiger Ersatz für die staatliche Anerkennung aber mehr als nichts.

Für einen Taliban-Minister ist es daher eine heikle Angelegenheit, sich in seinem Bereich auf die Zusammenarbeit mit Ausländern einzulassen, zumal, wenn er von dem Arbeitsbereich nichts versteht. Da kann er schnell Bedingungen zustimmen, die andere führende Taliban ihm später vorwerfen. Ein Taliban-Minister glaubt sich eher auf der sicheren Seite, wenn er nichts tut. Deshalb warten die türkischen Schulexperten und die Leitung von OFARIN immer noch auf Visa.

Dennoch hat sich in den letzten Wochen viel bei OFARIN getan. Unterricht für Jungen in Moscheen ist kein Problem mehr. Mädchen können in Gebäuden im Umkreis von Moscheen, die selber keine Moscheen sind, unterrichtet werden. Unterricht in Privatwohnungen ist nach einer Verfügung des Ministers unseres Partnerministeriums nicht erlaubt. Seit Monaten war es nicht möglich, mit dem Minister über diese Art des Unterrichts zu sprechen. Es sollte dann kein Problem sein, die Einwände des Ministers zu entkräften. Bis auf weiteres hat OFARIN diesen Unterricht aus dem Schulbudget herausgenommen und finanziert ihn über einen Nothilfehaushalt, der nicht der Aufsicht der Taliban unterliegt. Entsprechend wird dieser Unterricht nicht von den Taliban beaufsichtigt.

Nach der langen Pause beim Unterricht hat es in den Klassen aber auch unter der Lehrerschaft größere Fluktuationen gegeben. Neue Lehrkräfte müssen in Seminaren auf ihre Aufgaben vorbereitet werden. Ein Talib, den die Taliban als Beamten in unser Partnerministerium entsandt haben, ist jetzt ein begeisterter Anhänger unseres Programmes.

Alle Probleme, die hier angesprochen wurden, gelten für die Stadt Kabul, wo die Taliban ihre offiziellen Regeln ausbuchstabieren. Um unser Programm im Bezirk Paryan in der Provinz Pandschir müssen wir uns Sorgen machen. In dieser Provinz finden immer noch Kämpfe statt. Hier konnten wir die Arbeit noch nicht wieder aufnehmen.

In den meisten Provinzen setzen sich dagegen die Wünsche der Bevölkerung durch die lokalen Behörden durch. Die agieren zwar auch als „Taliban“, vertreten aber die Interessen ihrer Region. Hier haben wir große Freiheiten. Praktisch gilt das für die Provinz Logar. Es liegen aber auch Bitten um Zusammenarbeit aus der Provinz Khost und aus dem Hazaradschat im östlichen Zentralafghanistan vor. Doch das ist Zukunftsmusik. Wir werden diesen Möglichkeiten nachgehen, wenn wir in Afghanistan sind. In Deutschland wird sich danach die Frage der Finanzierung solcher wünschenswerten Engagements stellen.

Die Taliban haben vor, alle Hilfsorganisationen aufzusuchen, um sich ein Bild zu machen und eventuell einen Vertrag über die weitere Zusammenarbeit abzuschließen. Im OFARIN-Büro waren sie noch nicht. Bisher kam lediglich eine Delegation aus dem zuständigen Polizei-Revier vorbei. Die Delegation bestand aus zwei Polizisten, die schon unter der alten Regierung im Revier gearbeitet hatten, und einem Talib, der jetzt auch dort als Freund und Helfer arbeitet. Sie wollten nur wissen, ob OFARIN Sicherheitsprobleme habe und hinterließen Telefonnummern, an die wir uns in Notfällen wenden können.

So schleicht sich in Kabul Normalität ein und durchdringt Talibanisches. Auch der Wiederbeginn unseres Unterrichts ist Normalität, die zurückkehrt. Aber er ist mehr. Der Unterricht hat den Menschen Halt gegeben und Gemeinschaft geschaffen. Er hat den Lehrerinnen und Lehrern, den Schülern und Schülerinnen Selbstbewusstsein und Entscheidungskompetenz vermittelt. Das tut er auch unter den Bedingungen der Talibanherrschaft. Doch ist das jetzt besonders wichtig.

Andrerseits richtet sich OFARINs Unterricht gegen Niemanden. Die alten Taliban haben unser Unterrichtsprogram angeregt und gefördert. Inzwischen ist es viel leistungsfähiger geworden. Taliban, die es kennen gelernt haben, schätzen es auch heute. Seit dem Wiederbeginn kann sich jeder ein Bild machen. Die Taliban von heute sehen, dass sich OFARINs Unterricht im Einklang mit ihrer Religion befindet.

Unser Programm wird, wenn es aktiv ist, von selbst viel Sympathie erwerben. Unsere Kollegen in Kabul haben durch ihren hartnäckigen Einsatz diesen Neuanfang ermöglicht und damit viel für die Zukunft von OFARIN getan.

Nun noch etwas ganz Anderes! Unser Programm in Afghanistan befindet sich mitten in der Welt. Es braucht regelmäßige Unterstützung. Aber auch in anderen Teilen der Welt herrscht Not. Wenn es einem Verbrecher beliebt, über sein Nachbarland herzufallen und Hunderttausende von Menschenleben auszulöschen, so geht uns das alle an. Wir können nicht nur auf Afghanistan starren.

In diesem Sinne ist es auch, wenn ich hier für unser OFARIN-Mitglied, Meenaxi Barkataki-Ruscheweyh, Reklame mache. Meenaxi ist eine indische Mathematikerin und Ethnologin, die das Leben nach Deutschland verschlagen hat. Sie möchte in Ihrer ursprünglichen Heimat Assam ein Altenheim aufbauen und sucht Menschen, die Ihr dabei mit Rat und Tat helfen wollen. Für Mitglieder und Sympathisanten gibt es bei OFARIN nicht viel zu tun. Wir sind hinter Spenden her und das auch weiterhin. Aber viel praktische Arbeit gibt es nicht. Die üblichen Vereinsarbeiten sind verteilt und werden erledigt. Aber schon die Berichterstattung über die Aktivitäten in Afghanistan bleiben an mir hängen. Wer nur mal besuchshalber in Afghanistan war, kennt sich nicht genug aus, um kompetent zu berichten. Die Hauptarbeit erledigen unsere afghanischen Kollegen. Vielleicht kann Meenaxi denjenigen unter Ihnen, die hier von Deutschland aus etwas tun möchten, Möglichkeiten anbieten, aktiv mitzuarbeiten. Für alle, die Interesse haben, hier ihre E-Mail-Adresse: Meenaxib@googlemail.com. Meenaxi spricht Deutsch und Englisch.

Herzliche Grüße,

Peter Schwittek.

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