Zögerliche Taliban – doch auch der erste Unterricht für Mädchen steht bevor

Wir sitzen weiterhin in Deutschland und beobachten die Lage in Afghanistan. Langsam schleicht sich dort Normalität ein und der Wiederbeginn unseres Unterrichtes macht Fortschritte.

Die Taliban haben den Krieg gegen den Westen gewonnen. Sie wollen ein Staatswesen installieren, das ihren Wertvorstellungen entspricht. Wenn man sie danach fragt, was damit gemeint ist, erklären sie, dass das Scharia-Recht gelten muss. Dieses Recht wurde im neunten Jahrhundert für den gesamten islamischen Raum zusammengestellt. Ein Rechtssystem für alle Moslems sollte entstehen. Die islamischen Gebiete reichten im neunten Jahrhundert von Indien bis Spanien. Sie umfassten blühende Kultur- und Handelsstädte wie Damaskus, Bagdad oder Kairo, aber auch riesige Steppen und Wüsten, in denen seit Jahrtausenden patriarchalisches Stammesrecht praktiziert wurde.

Gleiche Rechte für die Bauern im Zweistromland, die Seeleute an den Küsten des Mittelmeers und Arabiens, die Nomaden in der Sahara und die Gelehrten und reichen Kaufleute in Aleppo? Wie sollte das aussehen? Es wurden Regeln geschaffen, die für alle galten. Aber die meisten dieser Regeln konnte man nach Bedarf in vielen Gebieten suspendieren oder abändern. So entstand ein Rechtswesen, das man an die jeweiligen Erfordernisse anpassen konnte. Diese Flexibilität trug sehr zum Rechtsfrieden bei.

Dieses Scharia-Recht ist sogar so flexibel, dass man es mit allen UN-Menschenrechtskonventionen vereinbaren könnte. Die Iranerin Schirin Ebadi hat nachgewiesen, dass das möglich ist. Dafür wurde sie 2003 mit dem Friedensnobelpreis geehrt. Das Mullah-Regime in ihrer Heimat war entsetzt über die weiten Möglichkeiten, die im Scharia-Recht stecken. Es zwang Frau Ebadi, ihre Heimat zu verlassen.

Den meisten afghanischen Taliban sind die weiten Möglichkeiten dieses Rechtssystems vollkommen unbekannt. Sie dürften unter Scharia-Recht die archaischen Stammestraditionen verstehen, die im ländlichen Afghanistan schon immer gegolten haben. Wenn Taliban „Scharia“ hören, denken sie – genau wie wir – an gesteinigte Ehebrecherinnen und an Hände, die man Dieben abhackt.

Man hört und liest von solchen monströsen Bestrafungen – vor allem in Berichten von Afghanen, die ins Ausland geflohen sind. Die Vorfälle, über die diese Menschen berichten, haben sich während der Herrschaft der alten Taliban zwischen 1996 und 2001 ereignet; und die Flüchtlinge fürchten, dass die jetzigen Taliban ebenso handeln werden, sobald sie ihre Macht gesichert haben.

Inzwischen haben die Taliban ihre Macht gesichert. Ihr Umgang mit ihren Gegnern entspricht oft nicht unseren Rechtsvorstellungen. Aber massenhafte Gräueltaten wie um die Jahrtausendwende verüben sie nicht. Die Taliban sind an der Macht. Aber offenbar sind sie sich nicht einig, wie sie diese Macht nutzen sollen.

Afghanistan steht vor einer Hungersnot. Ohne die Hilfe des Auslands, also der Mächte, gegen die sie gerade den Krieg gewonnen haben, wird eine Katastrophe nicht zu vermeiden sein. Die Führer der Taliban wissen das. Sie versuchen mit den Gegnern von gestern zurecht zu kommen. Sie unterstützen sie dabei, Lebensmittel zu verteilen und bitten sie darum, Krankenhäuser wieder arbeitsfähig zu machen und Löhne für staatliche Lehrer zu übernehmen.

Auch OFARINs Belegschaft erlebt in ihrem Bereich die Praxis solcher Zusammenarbeit. OFARINs Verwaltung drängt die Vertreter des Partnerministeriums dazu, dem Wiederbeginn unseres Unterrichtes zuzustimmen. Das Ministerium reagierte zunächst unsicher und abwehrend.

– Unterricht für Mädchen in Moscheen? – Um Himmels Willen! Wenn Mädchen in die Pubertät kommen, verunreinigen sie die Moscheen in einer für die Taliban-Scharia gefährlichen Weise. – Gut, dann beschränken wir den Unterricht auf kleine Mädchen. – Das geht auch nicht. Mädchen müssen wegen der Geschlechtertrennung von Lehrerinnen unterrichtet werden. Wenn Unterricht für Mädchen erlaubt wird, kommen erwachsene Lehrerinnen in die Moscheen.

– Unterricht in Privatwohnungen? – Das geht grundsätzlich nicht. Die Taliban respektieren die Privatsphäre der Familie. Regelmäßige Kontrollen des Unterrichts durch OFARIN oder durch Taliban halten sie für unzumutbar. Bei OFARIN ist man ratlos. Wie sollen wir denn überhaupt Mädchen unterrichten? Die Belegschaft von OFARIN entschied, unter diesen Bedingungen den Unterricht noch nicht wieder zu beginnen und auf bessere Zeiten zu hoffen.

– Die Lehrkräfte müssen entlohnt werden. Für das Ministerium ist das ein klarer Fall: OFARIN muss dem Ministerium das Geld überlassen. Das Ministerium zahlt dann aus. Dazu protestierte ich aus der Ferne: Wenn wir uns darauf einlassen, erhalten wir von der Bevölkerung keine Spenden mehr. Dann ist unser Programm erledigt.

Solche Treffen von OFARINs Vertretern mit dem Personal des Partnerministeriums finden häufig statt. Die Atmosphäre verbessert sich. Man lacht auch mal während der Verhandlungen. Einer unserer Leute meint: „Die sind nicht feindselig. Sie wissen nur nicht, wie es geht und haben Angst, etwas falsch zu machen.“ Inzwischen drängen in vielen Gegenden, in denen wir aktiv sind, Schüler und Lehrkräfte darauf, den Neuanfang doch zu riskieren.

Im Moschee-Komplex von Qalatscha kann man eigentlich Unterricht für Mädchen abhalten. Der Komplex besteht aus der Moschee und einigen weiteren Gebäuden. Jenseits der Gasse zur Moschee gehört ein Gebäude dazu. Im oberen Stockwerk wohnt der Mullah mit seiner Familie. Das Untergeschoss ist ein großer Raum, in dem wir schon seit Jahren Mädchenklassen unterrichten. Das Gebäude selber ist keine Moschee. Also könnte hier wieder Unterricht für Mädchen stattfinden. Schülerinnen, Lehrerinnen, Trainerinnen und auch der Mullah drängen darauf. Dort beginnt der Unterricht für Mädchen tatsächlich. Die Jungen fangen in der Moschee an.

Immer wieder wird dem Ministerium erläutert, wie wir bisher die Lehrkräfte entlohnt haben. Jeden Monat haben wir dem Ministerium die Lohnliste vorgelegt. Das Ministerium hat sie gegengezeichnet. Dann konnten wir die Lehrer besolden. Dazu luden wir das Ministerium ein, Beamte zu schicken, die die Auszahlung beobachten. Oft kamen tatsächlich Beamte mit.

Die Taliban müssen zugeben, dass das alte Verfahren ihnen die nötige Transparenz gewährt. Sie stimmten versuchshalber einer gemeinsamen Lohnauszahlung in der Provinz Logar zu. Vor einigen Tagen reiste eine Karawane in diese Provinz. Vier Taliban aus dem Ministerium waren dabei. Auf Seiten OFARINs kamen sogar zwei Trainerinnen mit.

OFARIN stützt sich auf die Geschlechtertrennung, die den Taliban wichtig ist. Mädchen müssen von Lehrerinnen unterrichtet werden. Über den Lehrkräften arbeitet bei OFARIN eine Schicht von Trainern, die den Unterricht der einzelnen Klassen regelmäßig besuchen und betreuen. Die Trainer bilden einen kostenintensiven Posten in OFARINs Budget. Sie sind aber entscheidend für die Qualität des Unterrichts. Den Unterricht für Mädchen beaufsichtigen natürlich Trainerinnen. So erzwingt die Geschlechtertrennung die Beschäftigung von Frauen auf allen Ebenen und fördert die Gleichberechtigung.

In Logar tifft sich die Karawane mit den dortigen Lehrern in der Provinzverwaltung. Die Beamten und Lehrkräfte der Provinz freuen sich, dass OFARIN wieder anfängt. Den mitgereisten Taliban entgeht nicht, welchen Rückhalt OFARIN bei der Bevölkerung hat.

Der gemeinsame Ausflug fördert das Zwischenmenschliche. OFARIN riskiert jetzt sogar Unterricht in einigen Privatwohnungen und lädt Mitarbeiter des Ministeriums dazu ein, die zuständigen Trainer bei ihrem Besuch der Klassen zu begleiten. Die Taliban sollen sehen, dass der Unterricht in Privatwohnungen kaum das Leben der Familien belastet. Die Familie hat für eine festgelegte Zeit ein Zimmer für OFARINs Unterricht zur Verfügung gestellt. Trainer und andere Mitarbeiter von OFARIN behelligen die Familie darüber hinaus nicht. Die Familie ist stolz auf ihren Beitrag zu unserem Programm.

Die Taliban aus dem Ministerium verstehen besser und besser, was OFARIN da treibt. Sie sehen nichts, was die islamische Ordnung gefährdet. Einige von ihnen finden selber Gefallen an OFARINs Tun. Dieser Effekt wird sich noch verstärken, wenn noch mehr Taliban sehen, dass die Schüler von OFARIN wirklich etwas lernen.

Aber dadurch werden noch nicht alle anderen Taliban Anhänger von OFARINs Programm. In Afghanistan hatte sich seit hundert Jahren ein Staat entwickelt, der sich in viele Lebensbereiche der Menschen hineindrängte. Wehrpflicht und Schulpflicht wurden eingeführt und staatliche Gerichte – wie in Europa. Die Mullahs wurden aus dem Bildungsbereich und der Justiz verdrängt. Sie opponierten gegen die wachsende Macht des Staates. Staatliche Schulen waren ihnen ein Graus. Auch förderte der Staat die Berufstätigkeit von Frauen. Die Taliban-Bewegung ist ein Ausdruck des Unbehagens über diese „modernen Tendenzen“. Die Taliban wollen die alte Zeit zurückhaben. Wenn das Scharia-Recht das Leben bestimmte, müsste doch alles wieder wie früher sein.

Wie das im Einzelnen aussehen soll, haben die Taliban nie untereinander besprochen. Viele von ihnen wollen nicht, dass Mädchen in die Schule gehen. Wenn sie ihre Ehefrau ins Krankenhaus bringen, soll diese dort kein Mann untersuchen. Doch woher sollen Ärztinnen kommen, wenn Mädchen nicht in die Schule gehen?

So sind die Taliban zwar an der Macht, wissen aber oft nicht, wie in der Praxis zu entscheiden ist. Die Rücksichtnahme auf die alten Feinde, auf deren Hilfe man angewiesen ist, kommt dazu.

OFARIN braucht Geduld, um die Unentschiedenheit der Taliban auszuhalten. Die Unterrichtsaktivitäten müssen vorsichtig ausgeweitet werden. Dadurch vergrößert sich das wohlwollende Umfeld. Auch zur Zeit der alten Taliban hatte sich bald eine Reihe einflussreicher Afghanen hinter unser Programm gestellt. Doch im Jahr 2022 ist unser Programm wirklich leistungsfähig und in der Lage, das Selbstbewusstsein und den Gemeinsinn seiner Schüler und Lehrer zu stärken. Je mehr das Programm wieder arbeitet, desto besser wird es sich behaupten und andere für sich einnehmen.

Um diese Entwicklung noch zu fördern, halten wir, meine Frau Anne Marie und ich, es für wichtig, möglichst bald selber nach Afghanistan zu reisen. Aber auch solche Vorhaben leiden an den Schwierigkeiten der Entscheidungsfindung im Reich der Taliban. Es könnte noch etwas dauern bis wir ein Visum bekommen.

In Kabul hoffen wir Möglichkeiten auf eine Weiterentwicklung unseres Programmes zu erschließen. Erste Kontakte bestehen. Sie werden solche erfreulichen Perspektiven daran erkennen, dass wir Sie mit Bitten um weitere Spenden bedrängen werden.

 

Herzliche Grüße,

Peter Schwittek.


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