Spenden über Betterplace und das Gymnasium für Mädchen

Schulklasse von OFARIN in Paryan

Liebe Freunde, liebe Leserinnen & Leser,

schon wieder ein Rundbrief? Ja, das ergab sich zwangsläufig. In der letzten Woche hatten wir einen Rundbrief fertig. Dann wurde ich aus aktuellem Anlass von vielen Seiten gefragt, wie es denn nun in Afghanistan weiter geht. Vermutlich bedrängt auch Sie diese Frage. Deshalb habe ich mich dazu geäußert. Anderes ist liegen geblieben, insbesondere Überlegungen zu einem „Mädchengymnasium“ in Paryan, die ich mir gemacht hatte. So etwas wollte ich nicht wegwerfen, weil es dem Leser die Situation von afghanischen Landschulen verstehen hilft.

Außerdem wollte ich mich bei einem Partner bedanken, über den ein Teil der Spenden zu uns kommt, bei der Organisation Betterplace. Betterplace ist eine deutsche gemeinnützige Organisation, wie OFARIN. Andere Hilfsorganisationen, z.B. ORARIN, können sich bei Betterplace anmelden und müssen beschreiben, was sie tun und wieviel Geld sie für welches Vorhaben brauchen. Betterplace bietet dann Menschen, die etwas Gutes tun wollen, eine Liste „seiner“, d.h. der bei Betterplace angemeldeten Organisationen, an und jeder kann sich aussuchen, für welches dort aufgeführte Projekt er spenden will. Natürlich können diejenigen, die vorher wissen, dass sie für OFARIN spenden wollen, ihr Geld über Betterplace an uns schicken. Betterplace hält einen kleinen Teil der Spende für seine eigenen Aufwendungen zurück, der Rest wird für die Hilfsorganisation, der die Spende gilt, gesammelt. Wenn der Betrag für das Vorhaben der Hilfsorganisation zusammengekommen ist, überweist Betterplace das Geld an diese.

Betterplace wirbt für „seine“ Hilfsorganisationen und übernimmt einen erheblichen Teil von deren Verwaltungsarbeit. Insbesondere stellt Betterplace die Spendenbescheinigungen aus. OFARIN bestätigt dafür gegenüber Betterplace, einmal im Jahr den Betrag, den es im Laufe des Jahres über Betterplace erhalten hat.

Und Betterplace veranstaltet auch Sonderaktionen, so z.B. zum Weltfrauentag, den 3. März. Da sammelte Betterplace eine Woche lang Spenden für zehn Organisationen, die sich besonders für Frauen einsetzen. Da OFARIN das auch tut, gehörten wir zu diesen zehn. Betterplace erhöhte jede Einzelspende unter 200 € um 19 % und jede Einzelspende ab 200 € um 38 €. Die Summe, die so zusammen kam wurde gleichmäßig auf die zehn Organisationen verteilt. Wir erhielten 2.316,39 €. Wie kam Betterplace auf die 19 %? In Deutschland verdienen Männer im Durchschnitt 19 % mehr als Frauen. Nun wollen wir nicht an der guten Tat herumnörgeln und meinen, in unserem Fall hätte man den Gender-pay-gap von Afghanistan anwenden müssen. Wir wollen uns stattdessen ganz herzlich bei Betterplace für die gute Zusammenarbeit bedanken.

Mädchengymnasium im hohen Hindukusch

Oft werde ich gefragt, ob ich etwas über die Zukunft unserer ehemaligen Schüler sagen könne, insbesondere über deren beruflichen Karrieren. Bisher hatte ich es vermieden, darauf einzugehen. Während die Schüler zu uns kommen und meist noch lange danach, besuchen sie auch die staatliche Schule. Eine berufliche Karriere beginnt erst danach, lange nachdem die Schüler OFARINs Unterricht verlassen haben. Dann haben wir die meisten längst aus den Augen verloren.

Aber etwas mehr könnten wir über einzelne Absolventen schon wissen. Wo OFARIN aktiv ist, arbeiten lokale Trainer. In Bini Hissar ist z.B. Mullah Mukhtar der Imam der Moschee. In Schindowal ist der altgediente Abdul Rassul der Cheftrainer. Leute wie Mullah Mukhtar und Abdul Rassul wissen, was aus ehemaligen OFARIN-Schülern ihres Sprengels geworden ist.

Wir können also durchaus einiges über ehemalige OFARIN-Schüler erfahren und wollen darüber demnächst in der Homepage und in den Rundbriefen berichten. Auch in Logar und in Pandschir können wir fragen, was aus OFARIN-Schülern geworden ist. Gerade als diese Überlegungen aufkamen, machten sich einige Kabuler Kollegen auf den Weg nach Paryan, ans äußerste Ende des Pandschirtales in eine Höhe von 3000 m.

Auf dem Weg nach Paryan/ Pandschir

Und die fragten gleich mal Mudir Yahyah, unseren Verantwortlichen dort, was Mädchen machen, die bei uns lesen, schreiben und rechnen gelernt haben. Yahyah antwortet: „Mehrere von denen sind Lehrerinnen am Mädchengymnasium.“

Wie, bitte? Das ist ja Wahnsinn, ein kaum glaublicher Erfolg der Methoden von OFARIN. Aber bevor uns die Hype überrumpelt, sollten wir uns aus der Nähe ansehen, was wirklich passiert.

Was kann ein Mädchen, das unseren Unterricht in Paryan besucht hat, beruflich werden? Vielleicht heiratet sie und zieht mit ihrem Mann in eine Stadt. Und vielleicht findet sie dort eine Anstellung.

Aber die meisten Mädchen bleiben für den Rest ihres Lebens in Paryan bei ihrer Familie und später bei der ihres Mannes. Sie erledigen den mühsamen Haushalt und helfen dabei, eine kärgliche Landwirtschaft zu betreiben. Auf den Feldern gibt es spät im Jahr eine Ernte. Die Äpfel der wenigen Obstbäume, die sich hier halten können, werden Ende Oktober reif. Schafe und Ziegen werden auf die Alm getrieben. Dort bleiben die Frauen mit den Tieren den Sommer über. Mädchen und Frauen, die bei OFARIN waren, können ihren kleineren Geschwistern bei den Schularbeiten helfen – und später den eigenen Kindern. Die Zeit bei OFARIN war also nicht ganz verschwendet. Manches, was man da lernte, hat Spaß gemacht. Außerdem kam man dabei mit Gleichaltrigen zusammen.

Nun aber wurde in Paryan ein Schulhaus für ein Mädchengymnasium gebaut, ganz oben, wo unser Programm läuft. Ein Jungengymnasium gibt es seit 15 Jahren dort. Aber wo nimmt man die Lehrerinnen her? Mädchen müssen von Frauen unterrichtet werden.

Der Staat kann keine Frauen von irgendwoher nach Paryan versetzen. Eine fremde Familie kann sich nicht dort niederlassen, wo sie keinen Grundbesitz und keine Verwandten hat. Und eine alleinstehende Frau kann nirgendwo allein leben, nicht einmal in Kabul. Also von „auswärts“ kann man keine Lehrerin nach Paryan holen.

In Rokha – weit weg von Paryan – gibt es eine Hochschule, wo Lehrer und Lehrerinnen für die Pandschir-Provinz mehr schlecht als recht ausgebildet werden. Mädchen aus Paryan haben dort nie studiert.

Woher nimmt man die Lehrerinnen für das Mädchengymnasium? Ganz einfach! Man stellt Mädchen ein, die bei OFARIN lesen und schreiben gelernt haben. Ich fürchte, jetzt schlägt Ihre Euphorie von vorhin in Entsetzen um. Ein Gymnasium, in dem junge Mädchen unterrichten, die selber nur lesen, schreiben und etwas rechnen können. Rechnen können sie mit natürlichen Zahlen. Dezimalzahlen, den Durchschnitt oder den Dreisatz kennen sie nicht.

Übt sich hier eine künftige Gymnasiallehrerin?

Bitte, entschuldigen Sie! Das Stichwort Gymnasium war äußerst irreführend für Paryan. Auch das „Jungengymnasium“ von Paryan würde in Deutschland nicht als Grundschule durchgehen.

Aber wer braucht ein deutsches Gymnasium in Paryan? Wer braucht hier den Tangens, den Logarithmus oder die Differentialrechnung? Nehmen wir an, OFARINs Schülerinnen, die jetzt Lehrerinnen sind, können alles, was sie bei uns gelernt haben, ordentlich weitergeben! Was von dem, was sie jetzt unterrichten, werden ihre Schülerinnen jemals in ihrem Leben gebrauchen? Gut, sie können ihren kleineren Geschwistern bei den Schularbeiten helfen. Aber sonst? …

Hat OFARINs Bemühen um Landschulen in Afghanistan einen Sinn?

Auf dem Land tauchen in Afghanistan ab und zu neue Techniken auf, die das Leben erleichtern. Hier und da wird Strom mit Generatoren hergestellt mit Diesel oder Wasserkraft. Man kann eine Leitung zu einem Stromerzeuger legen, um eine Lampe anzuschließen oder ein Bügeleisen. Dann muss man mit dem Stromlieferanten einen Vertrag abschließen, in dem steht, wieviel Strom man bekommt und wieviel man dafür bezahlen muss. Es ist gut, wenn jemand diesen Vertrag lesen kann und jeden Monat ausrechnet, wieviel zu zahlen ist.

Zwei Jahre später erzeugt ein weiterer Anbieter ebenfalls Strom. Jetzt würde man gerne eine Waschmaschine anschließen. Leider braucht die mehr Strom, als der bisherige Anbieter liefern kann. Mit dem hat man jedoch einen Vertrag für fünf Jahre abgeschlossen. Wenn man diesen Vertrag vorzeitig kündigt, muss man eine Strafgebühr zahlen. So steht es im Vertrag. Will man jetzt richtig entscheiden, muss man lesen und rechnen können.

Übrigens stellt der neue Anbieter viel Strom her. Über 40 Kunden hat er schon. Mit allen hat er Verträge abgeschlossen. Bei allen sammelt er jeden Monat Gebühren ein. Für den Generator braucht er immer rechtzeitig Treibstoff. Er hat eine Schreibkraft eingestellt, die ihm hilft, Verträge zu schreiben und alles zu berechnen.

Jetzt kann man sogar Strom aus Solaranlagen gewinnen, die man sich auf das Haus stellt. Damit ist man unabhängig von einem Anbieter. Man sollte aber einen Unternehmer kennen, der nach Paryan kommt und die Anlage wartet und repariert. Will man sicher sein, dass er kommt, schließt man einen Service-Vertrag ab. Lohnt sich das?

Manchmal sind es technische Entwicklungen wie die Elektrifizierung, die das Leben verändern und normalen Bürgern Schreib-, Lese- und Rechenkenntnisse abverlangen. Man kann auch neuartiges Saatgut erwerben. Damit kann man seine Ernteerträge vervielfachen. Doch dieses Saatgut muss jedes Jahr neu gekauft werden.

Es kann auch sein, dass der Staat Neuerungen in den Provinzen anbietet, z.B. Kredite für Saatgut oder Baumaßnahmen. Auch hier muss man die Bedingungen lesen und verstehen und man muss ausrechnen können, ob es sich lohnt.

Noch werden viele Einwohner von Paryan bis an ihr Lebensende nie ein Schriftstück lesen müssen. Aber immer mehr neue Angebote werden es Menschen möglich machen, ihr Leben umzustellen. Die Bedingungen, unter denen diese Angebote gemacht werden, sind oft schwer zu verstehen. Aber sie liegen als Text vor. Man kann darüber nachdenken und mit anderen darüber sprechen. Wenn man dann nicht lesen und rechnen kann, wird man resignieren. „Das ist mir zu kompliziert.“ Wenn man aber überlegt und die Möglichkeiten durchkalkuliert, gewöhnt man sich an ein Denken, das mehr und mehr gebraucht wird. Jemand, der nicht in der Schule war, wird selten Möglichkeiten erkennen, sein Leben zu verbessern.

Vor 200 Jahren war das bei uns nicht anders. Die Obrigkeit zwang die Bürger dazu, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Dann entschlossen sich immer mehr Menschen zur Teilhabe am Wirtschaftsleben, an der Politik und an der Kultur. Stadt und Land rückten zusammen.

Das, was den Menschen erste Kontakte mit der Moderne erleichtern kann, ist das, was die Schülerinnen im „Mädchengymnasium“ von Paryan und bei OFARIN erlernen: schreiben, mit Verständnis lesen und die Grundrechenarten beherrschen. Ich gebe zu, dass sie auch mit Brüchen und Prozenten rechnen sollten. Aber mehr als diesen Schulstoff braucht man in Paryan vorerst nicht. Dieser Schulstoff lässt sich in sechs Jahren vermitteln.

Der afghanische Staat wünscht, dass alle Kinder und Jugendlichen zwölf Jahre lang in die Schule gehen. In dieser langen Zeit wird dort den Schülern nicht einmal das elementare Grundwissen vermittelt, das man bei OFARIN erlernt. Mittel des Staates werden sinnlos verschwendet und schlimmer noch: Lebenszeit der Schüler. Vielleicht kann man in Paryan mit den Menschen darüber sprechen.

 

Fereschda, unsere Schülerin mit dem geschädigten Auge, ist schon mit ihrem Vater nach Islamabad/ Pakistan gereist und hat einen Augenarzt besucht. Der bestätigte, was zu befürchten war. Das Auge ist nicht mehr zu retten. Das Unglück war schon vor einigen Jahren passiert. Das Auge muss entfernt und durch ein Kunststoffauge ersetzt werden. Das wird mindestens 1200 € kosten. Vermutlich wird OFARIN die Kosten übernehmen.

Herzliche Grüße

Peter Schwittek.

www.ofarin.org