Afghanistan: Von der Freude Mathe-Aufgaben zu lösen

Foto: Uli Reinhardt /Zeitenspiegel

Wieder gibt es nicht viel über unser Tun in Afghanistan zu berichten. Die Arbeit läuft. Aber wir sind weit weg. Gerne würde ich im Seminar sitzen, in dem Lehrkräfte auf ihren Unterricht vorbereitet werden. Auch den Unterricht selbst möchte ich wieder besuchen.

In Mathematik werden Verfahren eingeübt, die zu bestimmten Ergebnissen führen. Das muss wiederholt und wiederholt werden, bis man es beherrscht. Das ist nicht nur langweilig. Man stolpert auch immer wieder über Klammern und Vorzeichen und landet schlussendlich bei einem Resultat … dem sieht man an: Das kann doch nicht stimmen. „Na klar, Du Schafskopf! Was hast Du da gerechnet? 3 * 9 ist doch nicht 29. Und 10-3 ist nicht 1/9. Also, alles wieder von vorne!“

Genau das war für mich immer Mathematik.“ werden manche Leser sagen. Auch ich habe die Schulmathematik nicht anders erlebt. Da es fast allen Klassenkameraden (Hier wird übrigens niemand diskriminiert. Wir waren eine reine Jungenschule.) so erging, sagten sich die Kultusbürokraten: Wenn die Schüler mit diesen Rechentechniken immer noch Probleme haben, können wir ihnen nichts Anspruchsvolleres zumuten. Dann müssen sie weiter üben. Also: Noch mehr Aufgaben, mit noch mehr Klammern und noch mehr Vorzeichenfallen.

An der Universität war Mathematik etwas anderes. Auch dort lösten wir Aufgaben. Manchmal übten wir auch dort das Errechnen bestimmter Größen nach vorgegebenen Verfahren. Aber sehr viele Aufgaben waren wie Rätsel. Man musste sich konzentrieren, um die wesentlichen Aspekte der gegebenen Voraussetzungen zu verstehen. Dann ließ man die Gedanken schweifen. Gab es irgendetwas, das man gelernt hatte und das jetzt helfen könnte? Welche Zusammenhänge waren auf das Problem anwendbar? Was konnte man erkennen, wenn man Spezialfälle des Problems untersuchte?

Wir hatten eine Woche Zeit, um solche Probleme zu lösen. Dann musste man die Lösungen abgeben. An vielen Aufgaben grübelte man etliche Stunden. Dann gab man auf. Es ließ einen aber nicht los. Man fing wieder damit an und versuchte es von einer ganz anderen Seite. Plötzlich blitzte es. Das sollte es doch sein. Tief Luft holen! Und alles noch einmal ordentlich durchgehen! Ja, das war es.

Wenn sich nach zwei Tagen Grübelei, Resignation und Neuanfang ganz unvermutet die Lösung einstellt, ist man einfach nur glücklich. Kein anderes Studienfach kann das bieten.

Natürlich gab es Aufgaben, die man auch nach einer Woche nicht gelöst hatte. Die Lösungen wurden in der Übungsstunde vorgeführt. Man konnte sich dort über die Pfiffigkeit freuen, die nötig war, um auf die Lösung zu kommen. Diese Freude war immerhin noch ein Abglanz des Glücksgefühls, das sich eingestellt hätte, wenn man die Lösung selber gefunden hätte.

Aber in Afghanistan ist doch wohl höchstens ein Unterricht wie an unseren Schulen möglich? Nein! Das ist nicht der Fall. Auch in der ganz elementaren Mathematik und ihren Anwendungen gibt es Fragen, die für Schüler neu und knifflig sind. Wenn die Schüler die ein- und zweistelligen Zahlen mit Ziffern schreiben können, können Sie selbst herausfinden, wie die natürliche Zahl geschrieben wird, die auf 99 folgt. Oder es sind zwei Punkte auf einem Blatt Papier vorgegeben, und es geht darum mit einem Zirkel alle Punkte auf dem Papier zu finden, die von den gegebenen Punkten den gleichen Abstand haben. So etwas kriegen Schüler selber raus.

Sicher, es kostet Zeit. Die Lehrer muss den Schülern Zeit geben, damit sie über das Problem nachdenken können. Wenn einige Schüler wissen, wie es geht, darf einer seinen Lösungsweg erklären. Der Schüler hat richtig gedacht. Aber er drückt sich unglücklich aus. Seine Mitschüler verstehen nicht, was er will. Ein anderer Schüler versucht sich mit einer Erklärung. Inzwischen sind schon 35 Minuten vergangen. Der Lehrer wird unsicher: Soll noch ein Schüler versuchen, die Lösung verständlich vorzutragen? Oder soll er lieber selber eingreifen?

Wäre es nicht von Anfang an besser, wenn der Lehrer selber zwei Punkte auf der Tafel markiert und dann mit Hilfe eines Zirkels erklärt, wie man Punkte findet, die von den ersten beiden den gleichen Abstand haben? Dann ist die Frage nach acht Minuten erledigt und die meisten Schüler haben verstanden, wie es geht. Ein deutscher Lehrer hat immer im Kopf, was er dieses Halbjahr noch alles durchnehmen muss. Und meist ist er schon etwas im Verzug.

In Afghanistan wird OFARIN von keinem Ministerium genötigt, eine bestimmte Stoffmenge durchzuarbeiten. Wir können es uns leisten, die Schüler möglichst viel selbst herausfinden zu lassen. Jeder Schüler, der ein knackiges Problem selber löst, ist glücklich und stolz. Er merkt, er kann etwas. Er wird sich wieder etwas zutrauen, wenn es darauf ankommt. Was sich beim selbständigen Lösen von Problemen im Kopf der Schüler abspielt, kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Diese Überzeugung prägt OFARINs Programm.

Schon vor 2006 hatten wir ein erfolgreiches Alphabetisierungsprogramm entwickelt. Die Schüler lernten alle Buchstaben schreiben, und sie konnten lesen. Vor allem verstanden sie das, was sie lasen. 2006 stellten wir um. Der Rechenunterricht begann erst nach der Alphabetisierung. Lehrbücher wurden eingesetzt, die wir selber geschrieben hatten. Dort wurden mathematische Begriffe ordentlich erklärt. Und es wurden Aufgaben gestellt. Der Lehrer forderte die Schüler nur noch auf, die Aufgabe 5 b) zu lösen. Dann lasen die Schüler die Aufgabe 5 b) schweigend durch und begannen sie zu lösen.

Bis zur Einführung der Mathematiklehrbücher hatten die Lehrer ein Anweisungsbuch mit Aufgaben benutzt. Diese Aufgaben stellten sie den Klassen mündlich. In den Hauptgebetsräumen einer Moschee, in denen acht bis zwölf Klassen gleichzeitig unterrichtet werden, war das eine akustische Herausforderung. Außerdem zweifelten wir daran, dass jeder Lehrer etwas komplexere Aufgaben mündlich korrekt „rüberbrachte“. Jetzt las der Schüler die Aufgabe, die wir formuliert hatten. Jetzt waren richtig knackige Aufgaben möglich.

Die neuen Mathematiklehrbücher wurden zuerst in der Logar-Provinz eingesetzt. Dort war damals Mirakhan für den Unterricht verantwortlich. Er kam ganz aufgeregt nach Kabul. Die Lehrbücher waren ein umwerfender Erfolg. Die Schüler waren begeistert. Alle versuchten die schwierigen Aufgaben zu lösen, auch die, die im Unterricht noch nicht durchgenommen wurden. Junge Mädchen, die OFARINs Programm durchlaufen hatten, baten ihre jüngeren Geschwister, die noch den Unterricht besuchten, ihnen die neuen Bücher mitzubringen. Sie wollten auch versuchen, die Aufgaben zu lösen.

Die Umstellung auf Lehrbücher und das selbständige Lösen von Aufgaben waren „genau richtig“; auf Dari oder Paschtu: „Ofarin“.

OFARINs Unterricht steht im krassen Gegensatz zu dem, was man in Afghanistan für guten Unterricht hält. Dort gilt ein Unterricht als gut, wenn die Schüler Texte auswendig und ohne Verständnis aufsagen können. Diese Vorstellung vom guten Unterricht legt nicht jeder Mensch ab, der bei OFARIN als Lehrerin und oder Lehrer anheuert.

Sicher, die Trainer, die bei uns die Lehrbuchtexte ausarbeiten und Seminare für die Lehrkräfte abhalten, arbeiten an einem Unterricht, wie wir ihn wünschen. Aber wie geht der Lehrer, wenn er mit seiner Klasse allein ist, mit seiner Pflicht um, die Schüler selber Lösungen schwieriger Aufgaben finden zu lassen? Je mehr er den Schülern zutraut, desto schwieriger wird es, den Unterricht zu steuern.

OFARIN hat überall lokale Trainer, die den Unterricht oft besuchen. Aber welche Priorität hat die Selbständigkeit der Schüler für diese Trainer? Riskieren sie deswegen eine Auseinandersetzung mit der Lehrkraft? Wenn wir selber den Unterricht inspizieren, fragen wir nur Inhalte ab, die schon durchgenommen wurden. Wie lief dieses Durchnehmen ab? Hat der Lehrer den Lösungsweg erklärt? Oder hat die Klasse gegrübelt, bis schließlich die eine oder der andere den entscheidenden Einfall hatte. So etwas erfährt man bei Inspektionen nicht. Darauf wollen wir Einfluss nehmen. Darüber müssen wir endlich wieder mit Trainern und Lehrkräften sprechen.

Auch geht es uns darum, dass möglichst viele Schüler erleben, eine schwierige Aufgabe selber zu lösen. Unsere Beobachtung ist: Im Klassenverband dominieren einige Überflieger den Unterricht. Die kommen meist auch auf die richtigen Lösungen. Ihre Mitschüler resignieren vorzeitig und warten nur noch darauf, dass die Überflieger das Problem lösen. Wird dagegen ein Problem während des Unterrichts nur formuliert und das Lösen für zu Hause aufgegeben, kommen sehr oft Schüler auf gute Lösungen, von denen man das nicht erwartet. Die haben in der Klasse nicht das Selbstvertrauen, um ihr Können einzubringen und zu entfalten. Von ähnlichen Beobachtungen berichten derzeit deutsche Lehrkräfte aller Schularten. Pandemiebedingt geben sie der Klassengemeinschaft keine Aufgaben. Sie schicken den Schülern die Aufgaben elektronisch in die Abgeschiedenheit ihres Zuhauses. Und dort blühen bisher unauffällige Schüler auf und liefern Leistungen ab, die man ihnen nie zugetraut hätte. Solche Beobachtungen sollten ein grundsätzliches Nachdenken auslösen, nicht nur bei OFARIN. Haben Sie Ideen dazu, die auch uns weiterhelfen könnten?

Vielleicht doch etwas Aktuelles aus Kabul! Unser Unterrichtszentrum in Bini Hissar ist eine Moschee. Mullah Mukhtar, der Imam dort, fragte jetzt an, ob wir 13 weiße Schultafeln einsetzen wollen, die ein Herr aus der Moscheegemeinde stiften möchte. Solche Fragen werden auch mit mir diskutiert. Weiße Tafeln erregen nicht meine Begeisterung. Wir hatten vor Jahren einige beschafft und auch die Stifte dazu. Die Stifte sind teuer. Vor allem muss die Lehrkraft immer darauf achten, dass der Stift nach dem Benutzen mit einer Kappe verschlossen wird. Sonst trocknet er nach kurzer Frist aus.

Wir verwarfen die weißen Tafeln und ließen weiter Holztafeln mit schwarzer Tafelfarbe anstreichen. Für Holztafeln gab es geeignete Kreide. Die war erschwinglich. So blieb es bei schwarzen Tafeln.

Und nun kam ein Mensch mit weißen Tafeln daher. Für jede Hilfsorganisation sind Eigenbeiträge von Betroffenen ein ersehnter Ausweis für hohe Akzeptanz. Trotzdem mäkelte ich an den Kosten für die Stifte herum. Das hatten unsere Leute aber auch schon getan. Der Spender hatte daraufhin zugesagt, für den Nachschub der Stifte zu sorgen. Da konnte ich nur noch mahnen, immer die Kappe auf den Stift zu setzen, und dem Deal zustimmen.

Vielleicht muss man etwas relativieren. Die religiösen Vorschriften verpflichten den Gläubigen dazu, einen vorgeschriebenen Anteil seines Jahresgewinns für fromme Zwecke abzuführen – an religiöse Stiftungen, an arme Menschen oder eben auch an seine Moscheegemeinde. OFARINs Zusammenarbeit mit den Moscheen und den Mullahs trug Früchte.

Herzliche Grüße,

Peter Schwittek

www.OFARIN.de