Afghanistan im Schwebezustand

Das Opferfest ist gefeiert. Im September beginnt der Schulunterricht wieder – zunächst aber nur in Privatschulen und in den Oberstufen staatlicher Gymnasien.

Meine afghanischen Kollegen erzählen, sie hätten inzwischen alle Corona gehabt. Woher wissen sie, was sie hatten? Zaker Akbari, der Buchhalter, war auf dem Wege der Besserung. Aber der Geruchssinn war noch vollkommen weg. Zaker hat offenbar Corona gehabt. „Und was macht Tooba?“ Nein, die war noch nicht krank. Tooba ist herzkrank. Hoffentlich bleibt sie weiter von Corona verschont.

In Afghanistan sind die Folgen der Pandemie weit schlimmer als in Deutschland. Der Wunsch, das Unheil endlich abzuhaken, ist verständlich. Doch dass Afghanistan bereits die Herdenimmunität erreicht hat, ist unwahrscheinlich. Es ist auch fraglich, ob es für Corona so etwas gibt. Wir, meine Frau und ich, sind skeptisch und feige. Eine Reise nach Afghanistan ohne Impfung planen wir nicht.

Politisch befindet sich Afghanistan im Schwebezustand. Offiziell hatte der Staatspräsident Aschraf Ghani die Stichwahl um die Präsidentschaft gegen seinen bisherigen Nebenregenten Dr. Abdullah Abdullah gewonnen. Aber dieser erkannte das Ergebnis nicht an. Immerhin einigten sich die Kontrahenten darauf, gemeinsam gleichberechtigt zu regieren. Das scheint zu klappen. Beide sprächen mit einer Stimme, berichten unsere Kollegen.

Diese Einigung war vernünftig und plausibel. Dr. Abdullah und Abdul Ghani sind nämlich nicht die einzigen Matadore im Kampf um die Macht. Die westlichen Truppen – die aus den USA, aber auch die aus Deutschland und anderen Ländern – die bisher die afghanische Regierung unterstützt haben, sollen abgezogen werden. Die USA haben mit den Taliban vereinbart, dass diese mit der afghanischen Regierung Friedensgespräche führen sollen. Voraussetzung dafür ist der Austausch aller Gefangenen. Hier hakt es. Frankreich wendet sich gegen die Entlassung einiger Taliban, die französische Staatsbürger ermordet haben. Andere Länder, haben ähnliche Vorbehalte. Auch die Taliban haben nicht alle Gefangenen entlassen.

Es fanden auch wieder Anschläge auf staatliche Einrichtungen statt. In der Regel verkünden dann die Taliban, dass sie nichts damit zu tun haben. Erfahrungsgemäß sind solche Behauptungen der Taliban glaubhaft. Vermutlich werden die Anschläge von den Da’esch, dem Islamischen Staat, durchgeführt, einem weiteren Spieler um die Macht.

Die Regierung beschuldigt dennoch die Taliban, solche Anschläge zu begehen, und begründet damit weitere Verzögerungen beim Austausch der Gefangenen und dem Beginn der Friedensgespräche. Die Regierung spielt auf Zeit. Sie will verhindern, dass die Voraussetzungen für den Abzug der westlichen Truppen erfüllt sind, bevor in den USA gewählt wird. Den Abzug der amerikanischen Soldaten hatte ihr Präsident schon vor seiner Wahl erwähnt. Mit dem Beschluss, tatsächlich abzuziehen, hat er dann aber Afghanen, Verbündete und auch die US-Administration sowie das eigene Militär überrascht, besser: überrumpelt. Die deutsche Bundeswehr hat ihre Ausbildungsmission in Afghanistan bisher nicht reduziert, weil auch die Amerikaner ihre Truppenpräsenz noch nicht abbauen.

Geht das Kalkül der afghanischen Regierung auf und die westlichen Truppen bleiben im Land, wird sich der Krieg mit den Taliban und dem Islamischen Staat weiter hinziehen – wie bisher.

Ein Abzug der westlichen Truppen würde die Regierung zu einem Arrangement mit den Taliban zwingen. Die Frage, was das für das zivile Zusammenleben bedeutet, erregt Hoffnungen, vor allem aber Ängste. Regierung wie Taliban sehen in den Da’esch einen Feind. Der Islamische Staat hat im Osten Afghanistans und in Kabul durch grausame Massaker Angst und Schrecken verbreitet. Viele seiner Kämpfer sind Paschtunen aus den Stammesgebieten Pakistans. Seine personelle Basis in Afghanistan scheint schwach zu sein. Diesen Feind könnten Regierung und Taliban gemeinsam bekämpfen und vermutlich auch besiegen.

Ein gemeinsames Vorgehen von Regierung und Taliban gegen die Da’esch kann Frieden bringen und eine Zusammenarbeit der Taliban mit der Regierung erleichtern. Doch wer sind die heutigen Taliban? Den Menschen sitzen die Schrecken der Taliban-Herrschaft von 1995 bis 2001 noch tief in den Knochen. Besonders die Frauen müssen fürchten, dass die Taliban wieder Einfluss auf das Leben gewinnen.

Die Taliban, die 1996 Kabul eroberten, wurden vom pakistanischen Geheimdienst ISI gesteuert. Sie hingen von den Waffenlieferungen und dem Geld der Pakistaner ab. Der ISI hatte die Ideologie der Taliban entworfen. Diese ging von den konservativsten Vorstellungen der Landbevölkerung aus und übertrieb diese noch kräftig. Ziel des ISI war es, Afghanistan schwach und rückständig zu halten. Mädchen durften nicht zur Schule gehen und Frauen nicht berufstätig sein.

Wenn sich die Taliban mit der afghanischen Regierung arrangieren, befreien sie sich von ihrer Abhängigkeit von Pakistan. Die Taliban-Ideologie wäre dann überflüssig.

Auch die afghanischen Da’esch, die sich als „Islamischer Staat“ bezeichnen, werden vermutlich wesentlich vom ISI geführt und finanziert. Der Name „Islamischer Staat“ wurde gezielt gewählt. Er

droht mit dem religiösen Fanatismus und der Brutalität, für den das gleichnamige Terrorregime in Syrien und im Irak berüchtigt war. Weitere Beziehungen zwischen den afghanischen und den syrisch-irakischen Da’esch scheint es kaum zu geben.

Sollte die westliche Truppenpräsenz nach den amerikanischen Präsidentschaftswahlen fortgesetzt werden, blieben die Taliban für den ISI ein wichtiges Mittel, um Afghanistan zu destabilisieren und vielleicht eines Tages zu beherrschen. Wenn sich die Taliban und die afghanische Regierung aber arrangieren, kann sich Pakistan in Afghanistan nur noch auf die Da’esch stützen. Die geben sich zwar brutal, sind aber für Pakistan kein mit den Taliban vergleichbares Instrument der Einflussname in Afghanistan.

Diese Einschätzung der Lage stützt sich auf Gespräche mit meinen Freunden. Persönliches Wunschdenken konnte dabei nicht ganz herausgefiltert werden. Die Menschen leben seit Jahrzehnten im Krieg. Den erleben die meisten zwar nicht intensiv. Aber jeder träumt von einem echten Frieden. Ein Weiterwursteln der jetzigen Regierung mit ihrer korrupten Verwaltung, die jeden Fortschritt erstickt, bietet keine Perspektiven. Die Aussicht auf ein Arrangement mit den Taliban lässt vom Frieden und von einer besseren Zukunft träumen.

Aber was ist von den Taliban zu erwarten? Können die ihren Kriegern zumuten, dass sie ihre Brüder und vor allem ihre Schwestern in den Städten ihr Leben leben lassen? Die Taliban sind keine einheitliche Bewegung. Die Masse ihrer Anhänger lebt als Bauern auf dem Land. Nach Feierabend sind sie dann Taliban. Außerdem gibt es bei der Talibanbewegung entwurzelte Desperados, die von Pakistanern und Arabern nach Afghanistan gebracht wurden, um die bis 2001 regierenden Taliban zu unterstützen. Meist sind das Tschetschenen. Dann sind da noch die afghanischen Terrorspezialisten der Haqqani-Sippe. Die haben alle Anschläge, die im Namen der Taliban in der Stadt Kabul verübt wurden, in enger Absprache mit dem ISI durchgeführt.

Sollten Friedensgespräche erfolgreich sein, gäbe es ein Arrangement der Regierung mit großen Teilen der Freizeit-Taliban. Wahrscheinlich würden sich zunächst nicht alle Freizeit-Taliban anschließen. Einige Taliban-Clans sind untereinander erbittert verfeindet. Wenn ein Clan mit der Regierung Frieden schließt, tut der Feindesclan das noch lange nicht und verharrt im Kriegszustand. Der ISI wird versuchen, aus solchen Abspaltungen eine neue Taliban-Bewegung zu formen. Die Desperados und die Haqqani-Sippe passen ohnehin in kein Übereinkommen. Vermutlich kämen die bei den Da’esch unter.

Mehr als vermuten kann man jetzt nichts, denn dieses Ringen um den Frieden muss im Geheimen stattfinden. Entscheidend wird sein, ob man unbeeinflusst von ausländischen Kräften verhandeln kann und ob man sich auf eine praktikable Aufteilung der staatlichen Aufgaben und Ressourcen einigen kann. Ich bin sicher, dass Gespräche schon jetzt stattfinden. Entscheidungen wird es erst weit nach den amerikanischen Präsidentschaftswahlen geben – wenn überhaupt.

Diese Einschätzungen sind nicht aus der Zeit gefallen, aber sie sind nicht brandaktuell. Sie wollen vermutlich wissen, wie die Corona-Hilfe von OFARIN konkreter aussieht und wann unser Unterricht beginnt. Wir wollten Ihnen gerne noch im August mitteilen, wie Sie und andere Menschen in Zukunft bei uns spenden können. Aber die Mühlen des Sparkassenverbandes und seiner Vorfeldorganisationen mahlen und mahlen und mahlen … . An OFARIN hat es nicht gelegen, dass wir noch keine neue Spendenmaske einbauen konnten. Wir mussten sogar einen Antrag an die Deutsche Bundesbank stellen.

Wir haben beschlossen, einen weiteren Rundbrief zu versenden, sobald sich der Sparkassenverband ausgetrödelt hat. Darin können wir das künftige Spendenprozedere erläutern und noch Aktuelleres aus Afghanistan mitteilen, als es heute möglich wäre. Wir gehen davon aus, dass das in wenigen Tagen möglich sein wird.

Herzliche Grüße Peter Schwittek.