Vor ein, zwei Wochen hat es nachts geknallt, vielleicht zehnmal in kurzen Abständen. Offenbar waren es Pistolenschüsse – nicht allzu weit weg. Aber so etwas passiert alle ein, zwei Wochen; mal in der Nähe, mal weiter weg; mal schießt ein Gewehr, mal eine Pistole. Wir stellen uns dann einen unausgegorenen Burschen vor, der den Mitmenschen zeigen muss, was für ein toller Kerl er ist, und mit einer Waffe in die Luft ballert – und schlafen weiter.
In unserem jetzigen Kabuler Büro leben und arbeiten wir schon gut zehn Jahre. Beim Einzug fragten wir uns, wo denn das Abwasserbecken ist. Wir vermuteten es ganz vorne, am Rand unseres Areals, oder noch weiter draußen auf der Straße. In Kabul haben viele Häuser einen eigenen Trinkwasserbrunnen, unseres auch. Für das Abwasser gibt es eine Jauchegrube, ein gemauertes oder betoniertes Becken. Das Brauchwasser aus den Duschen, Klos, Wasch- und Spülbecken wird in diese Abwassergrube geleitet. Die muss alle paar Monate geleert werden. Bei uns wurde aber nichts geleert. Damit kann man leben – nur darf man nicht ins Grübeln kommen.
Seit Jahren ließ sich nicht übersehen, dass Nässe in Wände des Hauses zog. Hier und da fiel der Putz ab, auch an den Außenwänden. Dieses Frühjahr ließen wir diese Stellen verputzen und alles neu anstreichen. Aber schon jetzt schlug wieder Feuchtigkeit durch den Putz. Wir konnten uns nicht ewig vor der Frage drücken, wo unsere Abwässer bleiben. Was passiert z.B. in der Küche? Dort ist ein Abwaschbecken. Außerdem ist unten auf dem Boden ein Abflussloch mit einem Gitterdeckel drauf. Da fließt alles rein, wenn die Küche gereinigt wird. Ja und weiter?
Naqib brachte einen riesigen Bohrer mit und einen Vorschlaghammer und bohrte den Fliesenboden rund um das Abflussloch weg. Unter dem Loch war nur nasser Dreck. Das Abflussrohr aus dem Abwaschbecken endete vielleicht 30 cm vor dem Abflussloch – einfach so. Später wurde nahe dem Abflussloch der Anfang eines eisernen Wasserrohrs gefunden, aber mindestens 20 cm tiefer. Etwas Wasser stand drin. Über dieses Rohr floss seit Jahren nichts mehr ab. Seit Ewigkeiten war das Abwasser aus der Küche einfach unter das Haus geflossen und hatte sich dort verteilt. An Arbeitstagen wird in der Küche für 20 Personen das Essen vorbereitet und das Geschirr abgewaschen.
Und was geschah mit den Abwässern aus den anderen Waschräumen und Klos? Eine Abwassergrube dafür war nicht zu finden.
Jeden Morgen warten an der Hauptstraße, dort wo unsere Nebenstraße einmündet, an die 50 Tagelöhner. Wer Arbeitskräfte braucht, holt sie sich dort. Ingenieur Nagib brachte zwei Arbeiter mit, eine Steinsäge, Kunststoffrohre, und Zement. Was dann im Haus geschah, war nicht leise. Unter der Wand zwischen der Küche und dem Badezimmer wurden Rohre gelegt. Alle Abflüsse, auch vom Oberstock, wurden unter dem unteren Badezimmer zusammengeführt und ein Stück aus dem Haus rausgeleitet. Am Abend war innerhalb des Hauses alles ordentlich verrohrt. Alles war wieder verkachelt und verfliest.
Was aus der Brühe wird, wenn sie das Haus verlassen hat, wissen wir nicht. Ein Abwasserbecken muss angelegt werden. Dorthin müssen Rohre vom jetzigen Abfluss vergelegt werden. Aber im November mutet man sich dergleichen nicht zu. Jederzeit kann Frost einbrechen.
Für den kommenden Winter und vielleicht sogar für danach hat der Ingenieur beruhigende Ahnungen: Als er ein kleiner Junge war, wurde unsere Gegend landwirtschaftlich genutzt. Einige Kareze führten hier entlang. Das sind jahrhundertealte nicht abgestützte Tunnel. Menschen hatten die angelegt, um in ihnen Wasser aus weit entfernten Quellen unterirdisch dorthin zu führen, wo man es braucht. Der Ingenieur hofft, dass unser Abwasser in ein still gelegtes Karez fließt. „Da geht viel rein. Dann brauchen wir nicht mal ein Abwasserbecken.“
„Haus seit mehr als zehn Jahren von Abwässern unterspült. Akut einsturzgefährdet. Muss sofort geräumt werden.“ In Deutschland hätte eine zuständige Behörde eingegriffen. Tatsächlich geschah so etwas zeitgleich in Augsburg. In Afghanistan gibt es Behörden. Aber die sind nicht zuständig. Drei Tage später steckte das Haus einen kurzen Erdstoß souverän weg. In Kabul ist der Umgang mit dem Risiko anders als in Deutschland.
In unsere Straße mündet eine Gasse. Die Anwohner haben die Einmündung gerade mit verschließbaren Eisenpfeilern gesichert. Jetzt können dort keine fremden Autos mehr reinfahren. Die eingangs erwähnten Schüsse waren dort gefallen. Jemand war über die Mauer eines Anwesens geklettert, hatte den Einwohner erschossen, sein Geld gestohlen und war mit dessen Auto davongefahren, einem ziemlich neuen Toyota Corolla. Die Polizei hat diesen Fall vermutlich zu den Akten genommen. Ein Täter wird nicht gesucht werden. Ein politischer Hintergrund ist unwahrscheinlich. Das hätte in Johannesburg oder Karachi genauso passieren können; allerdings kaum in unserem Bürogrundstück.
OFARIN stand plötzlich vor einer ganz anderen existentiellen Bedrohung: Die Leistungen der AIBank, bei der wir seit mindestens 15 Jahren Konten haben, wurden immer schlechter. Über die Arbeitsweise dieser Bank, die eine hundertprozentige Tochter einer niederländischen Großbank war, dann der Commerzbank gehörte und jetzt der britischen Standard Chartered, könnten wir einen Sonder-Rundbrief füllen. Die ausländischen Besitzer sahen zu, wie die AIBank nach vollkommen veralteten Verfahren vor sich hinwurstelte und sich mit immer unqualifizierterem Personal aufblähte. Seit einigen Jahren werden Kontogebühren erhoben und alle paar Monate erhöht.
Vor allem nervte uns die Bank mit unverschämten Forderungen. So verlangte man von den vier Personen, die für OFARIN zeichnungsberechtigt sind, Auskünfte über ihre Privatvermögen. Wir riefen empört an. Nun gut, dann sollten wir es sein lassen, hieß es. Als wir später Geld abheben wollten, verweigerte die Bank die Auszahlung, weil wir immer noch nicht die verlangten Auskünfte gegeben hätten. Das ließ sich damals gerade noch einrenken.
Anfang November wurden wir ultimativ aufgefordert von unserem Vorstand in Deutschland eine Bestätigung vorzulegen, wer in Afghanistan zeichnungsberechtigt ist. Diese Bestätigung muss von einem Notar beglaubigt sein, und eine Kopie des Passes des Notars braucht die Bank auch – und zwar bis zum 15.11.. Wir wollten Zeit gewinnen und schlugen vor, die geforderten Dokumente während unseres Heimataufenthaltes zu besorgen und im nächsten Jahr vorzulegen. Nein, hieß es, der 15.11. sei der Termin. Ihnen in Europa mag so etwas absurd vorkommen. Für uns war es sehr real. Wenn wir bis 15.11. keine Papiere brächten, hätte uns die Bank jede Abhebung verweigert. Wir wären wehrlos gewesen. Unsere Konten waren fast leer. Wir hatten für unsere Unterrichtsstätten Heizmaterial für den Winter besorgt. Für die Oktoberlöhne reichte es nicht mehr. Wir brauchten Geld.
Wir werden bei einer anderen Bank Konten eröffnen. Das half aber jetzt nicht weiter. Ein Konto zu eröffnen kostet bei jeder Bank Zeit. So beschlossen wir, noch 100.000 € auf das Konto der AIBank zu überweisen. So viel Geld reicht bis Februar. Dann sind wir wieder hier und können weitersehen.
Am 10.11. teilte die AIBank mit, dass das Geld eingetroffen sei. Am 11.11. wollten wir es abheben. Aber die Bank hatte weder Euros noch Dollars. Wann wieder Euros verfügbar seien, wisse man nicht, am 12. bestimmt noch nicht. Ab 15. drohte der Auszahlungsstop.
Schlaflose Nächte bringen manchmal rettende Ideen. Welche Währungen brauchen wir in Afghanistan? In erster Linie Afghanis. Fünf Mitarbeiter verbrachten auf der AIBank von elf Uhr bis nach fünf Uhr nachmittags, um Hunderttausend Euro in Afghanis und Dollars umzutauschen und nachzuzählen – über fünf Millionen in alten welken Fünfhunderter und Hunderter Afghani-Scheinen. Am Tag drauf wurden die Reste von den anderen Konten der AIBank abgehoben. Das war geschafft.
Aber der nächste Anschlag auf unsere Nerven lief schon. Unser Partnerministerium ist das für Religiöse Angelegenheiten. Dort ist für uns eine Abteilung zuständig, deren Leiter den Titel eines Präsidenten trägt. Lange Jahre war der Präsident ein gebildeter Mann, der unserem Programm sehr zugetan war. Er sorgte dafür, dass auch der Minister und seine Stellvertreter unsere Arbeit schätzten. Der Minister war sehr an Bildung interessiert.
Dann wechselte der Präsident. Ein alter Herr übernahm die Abteilung, den man in Deutschland als „jenseits von Gut und Böse“ beschreiben würde. Schulunterricht sagte ihm nichts. Eigentlich war es seine Pflicht, den Religionsunterricht unserer Lehrer zu betreuen. Er hat aber nie eine unserer Klassen besucht. Mir gegenüber gab er sich freundlich. Doch Abdul Hussain, der die meisten Kontakte zu ihm wahrnimmt, nervt er beständig mit dem Wunsch nach monatlicher Entlohnung durch OFARIN.
Wenn wir unseren Schulklassen Feuerholz zuteilten, verlangte er ein persönliches Deputat. Abdul Hussain lehnte dergleichen freundlich aber bestimmt ab. Dafür erledigte die Abteilung des Präsidenten viele „Vorgänge“ der Zusammenarbeit mit uns nicht. Berichte von OFARIN und monatliche Aufstellungen unserer Moscheen können im Ministerium nicht aufgefunden werden, nachdem sie dort abgegeben worden waren. Das verzögerte die Lohnauszahlungen. Briefe an den Präsidenten kamen nicht an. Ich drängte Abdul Hussain, ein Treffen mit dem Minister zu vereinbaren, damit wir dort in guter Erinnerung blieben.
Hussain tat das, und wir fuhren guter Dinge ins Ministerium. Dort wartete überraschend auch der Präsident. Der Minister eröffnete uns, dass sein Ministerium seit zwei Jahren keinen Bericht mehr von OFARIN erhalten habe. Dieser Vorwurf war so unzutreffend, dass wir nicht darauf vorbereitet waren. Der Minister wird eine Untersuchung unserer Arbeit anordnen. Gerade hatte OFARIN die Bedrohung durch die gefährdete Überweisung überlebt, da verloren wir den Rückhalt beim Minister.
2016 entließen wir Mitarbeiter, die uns schweren Schaden zugefügt hatten. In der Buchhaltung hatten wir Leute beschäftigt, die für die Unterrichtsbetreuung nicht besonders geeignet waren. Dass sie der Finanzverwaltung auch nicht gewachsen waren, fiel viel zu spät auf. Ihre Berichte für das Wirtschafts- und das Finanzministerium in der Sprache Dari konnte ich in der Masse nicht lesen, und fand mich damit ab, dass man mir berichtete, dass man in den Ministerien zufrieden mit den Berichten sei. Dass das nicht der Fall war, äußerte sich nur in sachfremden kleinlichen Reibereien mit den Ministerialbürokraten.
Jetzt haben wir mit Zaker Akbari einen Finanzbuchhalter, der zwar nur sechs Jahre lang eine Moscheeschule besucht hat, dem aber Strukturen ins Gehirn eingebrannt zu sein scheinen, und der bis zur Sturheit gründlich und ehrlich ist. Unterstützt wird er von Sultan. Die beiden haben mit großem Arbeitsaufwand die Versäumnisse der Vergangenheit aufgearbeitet. In den Ministerien verkehren sie freundschaftlich und sind hochgeachtet.
Einige Mühe wurde darauf verwandt, die Beziehungen zu den Provinzverwaltungen in Logar und Pandschir zu intensivieren. Dort war man sehr erfreut darüber. OFARIN schien sich mit allen Teilen der Bürokratie, die für uns relevant sind, in bestem Einvernehmen zu befinden.
Dass ausgerechnet der Chef unseres Partnerministeriums, sehr ernste Beschwerden gegen uns vorbrachte, war ein böser Rückschlag. Der Rückhalt beim Minister für Religiöse Angelegenheiten war immer eine feste Größe in OFARINs Planungen.
Wieder schlief ich schlecht. Morgens steckte Abdul Hussain auch noch voller Zorn. Aber er trieb schon zur Gegenoffensive an. Ich schrieb einen Brief an den Minister, in dem ich dessen Vorwürfe zerpflückte. Der Vizeminister war noch auf einer Auslandsreise. Er ist uns persönlich verbunden. Ihm kann man offen sagen, dass der Präsident von OFARIN Gehaltszahlungen und Sachleistungen verlangt und sich nun mit absurden Beschuldigungen revanchiert, weil wir das verweigern.
Einige von den Trainern in den Gegenden von OFARINs Unterricht boten uns sofort gute persönliche Beziehungen nach „oben“ an, die in einer solchen Lage hilfreich sein könnten. Nach einigen Stunden war ich sicher, dass wir uns durchsetzen werden. Wir werden zur Bedingung machen, dass der Präsident nicht mehr für die Zusammenarbeit mit uns zuständig ist. Dazu ist noch etwas Geduld nötig – aber die hat man, wenn man seiner Sache sicher ist.
Abdul Hussain hatte sich gedanklich schon jenseits des Ministeriums für Religiöse Angelegenheiten umgetan. Es gäbe auch andere Ministerien, die sicher gerne mit uns zusammenarbeiten würden. Selbst im katastrophalen Erziehungsministerium gäbe es jetzt eine neue unabhängige Abteilung. Da könnten wir eine bedeutende Rolle spielen. So etwas weiß Hussain über persönliche Bekanntschaften. Hussains Vorschlag löste in mir Abwehrreflexe aus. Das vollkommen inkompetente Erziehungsministerium war für mich als Partner unvorstellbar – aber wenn es dort eine ganz neue Abteilung gibt …
Ich brauchte etwas Zeit, um mich an den Gedanken zu gewöhnen, aber dann erkannte auch ich neue Möglichkeiten in solch‘ einer Verbindung. Vielleicht sollte man zusätzlich Kontakte zum Arbeits- und Sozialministerium pflegen. So kletterten wir gedanklich aus der engen Bindung an das Ministerium für Religiöse Angelegenheiten heraus. Vermutlich werden wir doch mit diesem Ministerium weiter zusammenarbeiten. Aber andere Möglichkeiten werden wir jetzt immer mitdenken und vielleicht in zusätzlichen Abmachungen und Verträgen berücksichtigen.
Sind diese tollen Perspektiven nicht nur realitätsferne Spekulationen, zumal in der nicht gerade komfortablen wirtschaftlichen Lage, in der sich OFARIN befindet? Wer sind wir, dass wir uns von einem Minister nichts gefallen lassen und dass wir administrative Anbindungen an Ministerien wechseln könnten, wie Kleider? Für unsere Zuversicht gibt es nur einen Grund: Den Rückhalt bei unseren Lehrkräften, bei den Schülerinnen und Schülern und ihren Eltern, bei den Mullahs und Karis in den Moscheen, in denen wir arbeiten, bei unseren internen und externen Trainerinnen und Trainern. Die stehen fest hinter uns.
Denen geht es nicht nur darum, dass man bei uns Schulisches lernen kann. Die sehen, wie man bei uns arbeitet. Wir kommen bestens miteinander aus. Alle arbeiten daran, einen guten Unterricht durchzuführen. Probleme werden gemeinsam besprochen. Unterrichtsmaterial wird zügig zur Verfügung gestellt. Keine Hefte oder Bleistifte verschwinden und tauchen im Basar wieder auf. Keiner versucht jemand anderen zu übervorteilen.
In Europa mag so etwas in ordentlich geführten Betrieben und Behörden die Regel sein. In Afghanistan ist es die ganz seltene Ausnahme. Hier sucht jeder den Vorteil für sich und seine Familie. Man plündert die eigene Firma oder Behörde aus. Man spinnt Intrigen gegen die Kollegen. Man betrügt die Kunden. Schulverwalter betrügen die Lehrer, Schulleiter die Schüler, Ärzte die Patienten. Kaum jemanden interessiert die eigentliche Aufgabe seiner Behörde, seiner Firma, seines Krankenhauses oder seiner Schule. Alle haben längst resigniert. „Es nutzt ja doch nichts.“ sagt man sich und wendet sich den laufenden Intrigen zu. Die Allgemeinheit sieht, dass nichts klappt. Alles versinkt in Hoffnungslosigkeit.
Von diesem Hintergrund her sehen die Menschen unsere Art zu arbeiten. Bei OFARIN geht es fröhlich zu. Die Mitarbeiter sorgen sich nur darum, dass der Unterricht gut ist. Das macht denen offenbar Spaß. Und die Ergebnisse sind gut. Jeder würde da gerne mitmachen. Die Bezahlung ist doch gar nicht so wichtig. Ja, so wie bei OFARIN sollte es überall in Afghanistan zugehen. Sicher, OFARIN ist eine kleine Organisation in einer riesig gewordenen Stadt. Die meisten Kabuler haben noch nie von uns gehört. Aber dort, wo wir aktiv sind, haben wir einen legendären Ruf.
Institutionen, die sich noch nicht aufgegeben haben, und noch den Wunsch haben, etwas zu tun, das ihr Land voranbringt, sind interessiert daran, mit Organisationen wie OFARIN zusammen zu arbeiten.
Jetzt habe ich Sie, lieber Rundbriefleser, durch die Aufs und Abs der letzten Tage mitgenommen. Sie werden Verständnis für unseren Wunsch nach Urlaub haben. OFARINs Bemühungen, während dieses unseres Afghanistanaufenthaltes, sollen das, was wir erarbeitet haben, ordnen und sichern.
Fortgeführt wurde der Unterricht und die Seminare, in denen die Lehrer auf neue Aufgaben vorbereitet werden, sowie die Ausarbeitung von Unterrichtstexten. Hier sind wir etwas vorangekommen. Allerdings wurden richtig neue Unterrichtsgebiete nicht erschlossen. In der Mathematik träume ich von der Bruchrechnung, von Dezimalzahlen, vom Dreisatz und der Prozentrechnung und von etwas mehr Geometrie in der Ebene. Für die Berufstätigkeit der meisten Menschen wären das ausreichende mathematische Voraussetzungen.
Sehr wichtig wäre das aktive Schreiben (Berichte, Briefe, Aufsätze, Nacherzählungen) in der Muttersprache. Wir hatten uns schon in Deutschland von gestandenen Lehrkräften beraten lassen. Aber bei diesem Aufenthalt in Afghanistan werden wir nicht über vorbereitende Diskussionen mit den Kollegen hinauskommen. Sehr hilfreich wäre auch eine grammatische Grundbildung. Das würde dabei helfen, vieles zu erklären und es den Schülern erleichtern, sich Fremdsprachen oder die zweite Landessprache zu erschließen – was aber nicht unbedingt bei OFARIN geschehen muss.
Viel Personal wurde für die Fortentwicklung der organisatorischen Strukturen eingesetzt und für ihre Einpassung in die Anforderungen afghanischer Behörden. Vieles lief bei OFARIN schon immer nach festen Regeln ab, etwa die Einkäufe von Waren und Dienstleistungen. Nur war so etwas bisher nie schriftlich fixiert worden. Die Lagerhaltung wird mit dem Computer erfasst, um eine sichere Übersicht über das Unterrichtsmaterial zu haben. Auch wenn hier im Moment kein Anlass besteht, mehr Aufwand zu betreiben, ist es auf die Dauer nötig, dass in der Materialverwaltung ein echtes Controlling möglich ist.
Schon seit Jahren verharrt die statistische Erfassung des gesamten Unterrichtswesens in den Startlöchern. Die Computerprogramme sind geschrieben. Aber bis jetzt fehlte es immer am Personal. Hier können wir frühestens loslegen, wenn die beiden Finanzexperten Zaker Akbari und Sultan die Aufarbeitung der Dokumentationen für das Wirtschafts- und das Finanzministerium hinter sich gebracht haben und für andere Aufgaben frei werden.
Für das Wirtschaftsministerium mussten fehlerhafte Berichte früherer Buchhalter nachgearbeitet werden. Hier ist inzwischen alles auf dem Laufenden. Sehr mühsam ist die Aufarbeitung der Steuerschulden. OFARIN zahlt keine Steuern ist aber verpflichtet, die Lohnsteuern der Mitarbeiter und die Steuern für die Miete des Hauswirts abzuführen. Frühere Buchhalter hatten sich von Beamten des Finanzministeriums betrügen lassen. Die Beamten ließen sich von unseren Buchhaltern Geld als abgeführte Steuern geben und gaben ihnen dafür wertlose Quittungen. Steuergelder müssen auf einer Bank eingezahlt und von dieser quittiert werden. So hatten wir etliche Jahre keine Steuern abgeführt. Solche Versäumnisse wurden mit sehr hohen Strafen belegt.
Im Sommer erließ die Regierung eine Amnestie für alle diejenigen, die alle Steuerschulden bis zu einem Termin im September erstatteten. Als Strafe wurde während dieser Frist nur eine Pauschale von 5 % auf die zu erstattenden Steuern erhoben. Unsere Leute nutzten die Chance und stellten die Steuerschulden von über zehn Jahren zusammen, ein gigantischer Arbeitsaufwand. Zum Abtransport der Unterlagen ins Finanzministerium war ein großer Rollkoffer nötig. Alles wurde rechtzeitig eingereicht. Die Schulden waren nicht sehr hoch und sind inzwischen beglichen. Jetzt gehen unsere Leute mit Beamten des Finanzministeriums alle Unterlagen noch einmal durch. Das wird noch einige Wochen dauern. Aber OFARIN hat diese Bürde abgeworfen.
Ein ganz wesentlicher Eckstein in unseren Bemühungen um die Vervollkommnung unserer Verwaltung wird diese Woche endlich eingefügt werden: Unsere Finanzberichtserstattung mit Liquiditätsvorschau. Thomas Brüggemann hatte schon die Finanzbuchhaltungen des Deutschen Caritasverbandes und der Deutschen Welthungerhilfe in Kabul betreut. Jetzt tut er das für die Organisation Ipso. Er war gerne bereit, auch OFARINs Finanzberichterstattung transparenter zu machen. Bisher werden die Einnahmen und Ausgaben in Deutschland mit dem Buchhaltungsprogramm Lexware erfasst und in Afghanistan mit dem Programm Quickbooks. Das bleibt so. Nun werden monatlich beide Berichte zusammengeführt und mit den Bank- und Barbeständen abgeglichen. Das ergibt den monatlichen Finanzbericht. Zusätzlich wird eine Schätzung der monatlichen Einnahmen- und Ausgaben für ein gutes Jahr im Voraus aufgestellt, die Liquiditätsvorschau. Der Vergleich der Finanzberichte mit der Liquiditätsvorschau ermöglicht ein effizientes Controlling.
Angekündigt war, dass Thomas im September mit uns nach Afghanistan kommt und dieses System mit den hiesigen Mitarbeitern einführt. Im September klappte es bei Thomas nicht, im Oktober erhielt er kein Visum, weil in Afghanistan Parlamentswahlen stattfanden, und auch im November musste alles noch einmal verschoben werden. Aber am 20.11. kommt er tatsächlich, so dass wir zum Jahreswechsel eine professionelle Finanzberichterstattung haben werden.
Wir ringen also noch um eine grundsolide Verwaltung und befinden uns auf dem Weg zu einer Lieblingsorganisation der Behörden. Der Rückschlag beim Minister für Religiöse Angelegenheiten wird sich ausbügeln lassen. Die inhaltliche Fortentwicklung des Unterrichts leidet unter den gegebenen Umständen an Personalmangel.
Und dieser steht natürlich im Zusammenhang mit OFARINs Hauptproblem, dem Geldmangel. Daran hat sich leider noch nichts geändert. Wir haben uns bei größeren Geldgebern aufgedrängt und müssen jetzt geduldig warten, wie die sich entscheiden, meist erst im Frühjahr. Bisher haben wir ganz wesentlich von den Spenden von Privatpersonen und einigen kleineren Stiftungen gelebt. Kleineren Geldgebern und persönlichen Spendern fühlen wir uns sehr verbunden. Die kann man sich vorstellen: Einzelne Personen oder eine kleine Gruppe von Menschen, die sich ganz bewusst entschieden haben, mit ihrer Spende bei uns mitzumachen. Es wäre schön, wenn unsere Arbeit von noch mehr Einzelspendern getragen würde. Auch wenn wir einen großen Geldgeber finden sollten, wäre es für uns wichtig, dass viele Menschen durch Einzelspenden zeigen, dass sie unser Programm für gut und richtig halten.
Deshalb drängen wir auch unsere Rundbriefempfänger dazu, sich enger an uns zu binden. Wir haben die Möglichkeit der Fördermitgliedschaft. Rein technisch besteht kaum ein Unterschied zwischen einer Dauerspende und einer Fördermitgliedschaft. Aber eine Fördermitgliedschaft gibt das Gefühl einer dauerhafteren Bindung und ermöglicht es dem Verein mit etwas mehr Gewicht aufzutreten. Bisher haben wir nur wenige Fördermitglieder.
Wir hatten auch gehofft, dass mehr von Ihnen die Ethno-Krimis erwerben. Wir versprechen uns davon mehr Verständnis für unsere afghanischen Freunde. Wir können uns aber auch vorstellen, dass das Herunterladen dieses Textes für Sie nicht gerade ansprechend ist. Für uns war es eine möglichst einfache Lösung. Hätten wir da etwas anders machen sollen? Für Rückmeldungen wären wir dankbar.
Herzliche Grüße, Peter Schwittek.