Afghanistan: Welche Rolle werden die Taliban spielen?

Nach dem Blick in die demokratische Vergangenheit Afghanistans, jetzt zu Mutmaßungen über die vermutlich talibanisch dominierte Zukunft!

Welche Rolle werden die Taliban spielen?

In der Zeitung finde ich einen Artikel über die afghanische Aktivistin Sima Samar. Frau Samar war nach dem Sturz der Taliban Gesundheitsministerin. Später war sie für westliche Ansprechpartner eine Expertin für Menschen- und Frauenrechte. Frau Samar fürchtet, dass sie sich in Zukunft nicht sicher sein wird, was ihr passiert, wenn sie das Haus verlässt. Ihre Erinnerungen an die Herrschaft der Taliban vor 20 Jahren machen ihr Angst.

Vor einigen Wochen wurde in einem Kabuler Schiitenviertel ein Bombenanschlag auf eine Mädchenschule verübt. Über 70 Schulmädchen und Lehrerinnen kamen um.

Noch in Deutschland fragte mich ein deutscher Freund, ob ich ihm raten könne, ein gut laufendes Krankenhaus in der afghanischen Provinz zu besuchen, das von einer deutschen Krankenschwester aufgebaut worden war. Die Gegend um das Krankenhaus war lange umkämpft. Inzwischen wird sie von den Taliban beherrscht. Ich riet dringend davon ab. In Kabul arbeiten zwei Mitarbeiter der Krankenhausorganisation in Räumen von OFARINs Büro. Die meinten dagegen, das ließe sich arrangieren. Sie informierten die Leitung des Krankenhauses. Die sprach mit beiden Kriegsparteien. Der Besuch konnte stattfinden. Dann musste er noch um einen Tag verschoben werden, weil leitende Taliban den Besucher im Krankenhaus begrüßen wollten aber nicht schnell genug anreisen konnten. Danach lief alles problemlos. Mein Freund konnte das Krankenhaus zusammen mit den Ärzten inspizieren und fotografieren. Die Taliban ließen sich nicht ablichten. Aber sie überreichten dem Besucher eine kalligrafisch gestaltete Urkunde, auf der ihm und den deutschen Förderern des Krankenhauses für ihr Engagement gedankt wird, sowie zwei wunderschöne Blumensträuße aus einfachen Wiesenblumen. Kommentar des Freundes: „Die haben bestimmt Frauen zusammengestellt.“ So geschmackvolle Blumensträuße traute er den Herren mit den Kalaschnikows nicht zu.

Die Talibanbewegung wurde von Pakistan, namentlich von seinem Militärgeheimdienst ISI, in den 90er Jahren geschaffen, um Afghanistan unter pakistanischen Einfluss zu bringen. Der ISI verpasste den Taliban eine ultra-islamistische Ideologie. Die sollte der Bewegung religiöses Prestige bei der konservativen Landbevölkerung verleihen und Afghanistan wirtschaftlich rückständig und schwach halten. Die meisten Länder isolierten Afghanistan und überließen es damit Pakistan und islamistischen Radikalen.

Nach der Vertreibung der Taliban durch die US-Luftwaffe im Jahr 2001, fand die Talibanbewegung wieder Anhänger, weil sich die westlichen Truppen, namentlich die Amerikaner, unnötig brutal aufführten. Pakistan rüstete die Taliban wieder auf. Ein zäher Krieg zwischen afghanischen Regierungstruppen, die von westlichen Kontingenten unterstützt wurden, und den Taliban entwickelte sich.

Die afghanische Regierung hatte es aber auch mit anderen Feinden zu tun, insbesondere mit dem „Islamischen Staat“. Vermutlich sind diese afghanischen Da’esch, wie sie im Orient heißen, auch eine Schöpfung des ISI. Der Name der syrischen und irakischen Islamisten wurde übernommen, um mehr Schrecken zu verbreiten. Die Da’esch haben in Afghanistan viele Überfälle auf Bildungseinrichtungen und auf schiitische Institutionen verübt. Der oben erwähnte Anschlag auf die Mädchenschule trägt die typische Handschrift der Da’esch.

Die Kabuler Regierung hat die Taliban beschuldigt, diesen Anschlag begangen zu haben. Die Taliban haben sich aber nie zu der Tat bekannt, was sie nach eigenen Anschlägen gerne tun. Die Taliban sind erbitterte Feinde der Da’esch.

Seitdem die USA beschlossen haben, sich militärisch aus Afghanistan zurück zu ziehen und ihre Verbündeten sich anschlossen, ist klar, dass sich die Taliban in Afghanistan durchsetzen werden. Es fragt sich, was sie für ein Regime etablieren wollen.

Wenn sie ein Regime installieren wie vor 2001, wird es Widerstand geben. Schiitische Gegenden aber auch afghanische Tadschiken, Turkmenen und Usbeken werden sich wehren. Das Ausland wird solchen Widerstand mit Geld, Waffen und sogar mit Personal stärken.

Die Taliban haben den Wakhan-Zipfel, also den östlichsten Landstreifen Afghanistans, besetzt, der an Chinas islamische Provinzen heranreicht. Wenn die Taliban sich streng islamistisch geben, kann China das aus eigenem Interesse nicht dulden. Ähnliches gilt für Tadschikistan und Usbekistan. Der Iran wird jeden aggressiven sunnitischen Nachbarn bekämpfen. Alle diese Länder haben gute Gründe, afghanische Widerstandsbewegungen gegen die Taliban zu unterstützen und stark zu machen. Russland und die Türkei sind immer an Einmischungen interessiert, schon um von inneren Schwächen abzulenken.

Der Westen hat signalisiert, ein gemäßigtes Talibanregime in gewissem Maße unterstützen zu wollen. Das kann er vor der eigenen Bevölkerung nur rechtfertigen, wenn die Taliban sich wirklich mäßigen. Die Taliban werden also einen furchtbaren Bürgerkrieg, der vom Ausland befeuert wird, nur vermeiden, wenn sie nicht aggressiv gegenüber potentiellen Gegnern im In- und Ausland auftreten. Ein radikal-islamisches Auftreten kann nicht in ihrem Sinn sein.

Offizielle Stellungnahmen der Taliban zeigen diesen Willen zur Mäßigung. Afghanen, die für das westliche Militär gedient haben, werden aufgefordert im Land zu bleiben, wo sie als Spezialisten gebraucht werden. Ausländische Hilfsorganisationen werden gebeten, weiter in Afghanistan zu bleiben und zu arbeiten.

Vermutlich sieht die Talibanführung sogar, dass eine angemessene Aufgabenteilung mit der jetzigen Regierung opportuner ist als ein Endsieg. So könnten einige einigermaßen funktionstüchtige Institutionen auch in Zukunft genutzt werden. Das Militär der Regierung, insbesondere die Luftwaffe, könnte helfen die Da’esch zu vertreiben.

Das alles wäre zu schön, um wahr zu sein. Aber es könnte durchaus das sein, was die Talibanführung anstrebt. Doch die afghanischen Realitäten sind nicht so eindeutig. Sicher, viele Regierungsstützpunkte werden derzeit nach vorherige Absprache von den Taliban überrannt. „Wir greifen übermorgen an.“ – „Ok! Wir haben uns bis morgen Abend zurückgezogen.“ Man kann es keinem Beteiligten verdenken, dass er nicht noch für eine Auseinandersetzung sein Leben hingeben will, die entschieden ist. Aber nicht immer geht das Überrennen von Regierungsposten unblutig ab.

Denn die Motivationen der Talibankämpfer und ihrer zahlreichen Kontingente sind sehr verschieden. Manche mögen den ultra-islamistischen Vorstellungen anhängen, mit denen die Taliban im vorigen Jahrtausend Angst und Schrecken verbreiteten. Davon war schon damals nur eine Minderheit überzeugt. Für solche Alt-Taliban geht es wirklich um den Aufbruch zum wahren Islam. Sie halten ihre Kriegsgegner für Feinde ihrer Religon.

Vielerorts steht man sich seit über einem Jahrzehnt verfeindet gegenüber und hat sich gegenseitig vieles angetan. Man hat sich hassen gelernt. Männer haben sich den Taliban angeschlossen, weil Verwandte umgebracht wurden. Die wollen sie rächen.

Wieder andere sind Taliban geworden, weil sie sich vom Ausland keine Staatsformen aufdrängen lassen wollen, die sie nicht verstanden. Deren Aufgabe ist jetzt erledigt. Doch ihre Teilnahme an einem siegreichen Frieden verspricht persönliche Aufstiegsmöglichkeiten.

Und so kommt es immer wieder zu Gräueltaten, die den Menschen, die auf den Frieden hoffen, diesen Frieden fürchten lehren. Die halten die Signale der Talibanführung, die eine friedliche Zukunft versprechen, für eine Falle, die die Sehnsucht der Menschen nach Frieden ausnutzt. Wenn die Taliban einmal an der Macht sind, können sie wie damals wüten. Ausschließen kann man das nicht, auch wenn es nicht wahrscheinlich ist. Sobald sie an der Macht sind oder an ihr teilhaben, werden die leitenden Taliban Mühe haben, dass ihre Anhänger so auftreten, dass wirklich Frieden einkehren kann.

Die Regierungsseite tut sich schwer damit, die gegebene Lage zu akzeptieren. Sie half den Ausländern dabei, ein demokratisches System aufzubauen. Dafür wurde sie von ihnen militärisch geschützt. In dieser Konstellation hatte man sich eingerichtet. Plötzlich wurde dieses Verhältnis gekündigt und man blieb schutzlos allein. Immer wieder versucht die Regierung die ehemaligen Verbündeten in das Bündnis zurück zu nötigen, indem sie die Gräuel der Taliban herausstellt. „Das ist nur passiert, weil Ihr uns im Stich gelassen habt.“

Die Regierung rechnet alle Gräuel, die sich ereignen, den Taliban zu, auch wenn sie vom Islamischen Staat oder von Anhängern von Al Qaida begangen wurden. Die entsprechenden Organisationen sind untereinander bitter verfeindet, ebenso wie mit den Taliban. Aber solche erschreckenden Prädikate machen darauf aufmerksam, dass die Absicht von Donald Trump, mit den Taliban zu vereinbaren, dass Afghanistan nicht wieder eine Brutstätte des islamistischen Terrorismus werden darf, eine naive Illusion war, und suggerieren, dass man mit den Taliban auch den islamischen Staat bekämpft.

Auch gibt es Meldungen, dass sich Pandschabis, also Pakistaner, am Kampfgeschehen beteiligen. Das deutet darauf hin, dass Pakistan versucht, seinen Einfluss auf Afghanistan zu sichern. Bisher waren die Taliban von der Unterstützung Pakistans mit Waffen und Geld abhängig. Wenn sie gegen die afghanische Regierung gewinnen oder sich mit ihr arrangieren, haben sie Zugriff auf afghanische Ressourcen und brauchen den ISI nicht mehr. Das Verhältnis zwischen den Taliban und Pakistan war nie eine Herzenssache. Pakistan hätte nach einem Friedensschluss kein Mittel, um die Taliban und damit Afghanistan zu beherrschen. Dazu bräuchte es eine regelrechte Besatzungsmacht. Was Briten, Sowjets und die NATO nicht geschafft haben, wird sich Pakistan mit seinen Pandschabis kaum zumuten. Eher ist Gerüchten zu trauen, dass auch die afghanischen Da’esch ein Produkt des ISI sind und dass sich die Pandschabis in Afghanistan aufhalten, um den Islamischen Staat zu unterstützen. Pakistan musste schon länger damit rechnen, dass es den Einfluss auf die Taliban verliert und hat sich die Da’esch als Ersatz geschaffen. Die afghanische Regierung greift Meldungen über Pandschabis gerne auf, weil sie damit auf die düstere Rolle hinweisen kann, die Pakistan und der ISI in Afghanistan gespielt haben und spielen, ohne dass das offen ausgesprochen wird.

Noch verhandeln die Regierung und die Taliban in Doha unter Beteiligung der USA und regionaler Mächte. Dabei gibt es gewisse Fortschritte. Vielleicht arrangiert man sich und erspart sich einen militärischen Endkampf. Aber auch in diesem Fall wird es nicht sofort Ruhe geben. Die Anführer der Taliban werden Mühe haben, ihre Anhänger zu dem Frieden zu bekehren, den sie geschlossen haben.

Unser Büroleiter Abdul Hussain hat es auch für den Fall des Endsieges so ausgedrückt: „Die ersten zwei Monate nach dem Ende des Krieges werden schlimm sein. Aber danach geht es dann aufwärts.“

Liebe Leser, nach diesen Mutmaßungen über die Taliban drängt sich die Frage auf, welche Rolle OFARIN in dieser vermuteten Zukunft spielen könnte. Darum wird es im nächsten Rundbrief gehen.

Herzliche Grüße,

Peter Schwittek.