Wer als Gewaltopfer Hilfe vom Staat braucht, sollte besser nicht auf Niedersachsen setzen: Das Landesamt für Soziales, Jugend und Familie hat im vergangenen Jahr den größten Anteil der Entscheidungen der Anträge nach dem Opferentschädigungsgesetz als „erledigt aus sonstigen Gründen“ abgestempelt (45,3 Prozent). Das geht aus der Dokumentation des WEISSEN RINGS hervor, Deutschlands größter Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer.
Sonstige Gründe können etwa die Übertragung des Falls in ein anderes Bundesland, der Tod des Antragstellenden oder die Rücknahme des Antrags durch den Betroffenen sein.
27,1 Prozent der Fälle wurden abgelehnt. „Weil es so viele ‚Erledigungen aus sonstigen Gründen‘ gibt, erscheint die Zahl der Ablehnungen erstmal nicht so hoch. Im Prinzip sind diese ‚Erledigungen‘ in vielen Fällen allerdings als eine Form der Ablehnung zu verbuchen, denn die Betroffenen erhalten keine Unterstützung“, sagt der Landesvorsitzende des WEISSEN RINGS Steffen Hörning. „Ich halte es nicht für unwahrscheinlich, dass viele Betroffene im vergangenen Jahr ihren Antrag zurückgezogen haben, weil das Verfahren zu lange gedauert und zu viel Kraft gekostet hat.“ Große Sorgen bereitet Hörning auch der niedrige Wert der Anerkennungen (27,6 Prozent): „Ganz offensichtlich wird hier zu wenigen Opfern geholfen. Das kann nicht im Sinne dieses Gesetzes und staatlicher Fürsorgepflicht sein. Das muss sich schnellstmöglich ändern.“
Mit dem 1976 verabschiedeten Opferentschädigungsgesetz (OEG) verpflichtet sich der Staat, Opfer von Gewalttaten, wie etwa Körperverletzung, häusliche Gewalt oder sexueller Missbrauch, zu unterstützen. Sie sollen vor gesundheitlichen und wirtschaftlichen Nachteilen durch die Tat geschützt werden, der Staat soll laut Gesetz zum Beispiel Kosten für medizinische Behandlungen oder Rentenzahlungen übernehmen. Die Entscheidung über die Anträge liegt bei den Ämtern auf Landesebene.
Wie das OEG in der Praxis umgesetzt wird, hat die Redaktion des WEISSEN RINGS analysiert und im Juni im Magazin „Forum Opferhilfe“ und online unter www.forum-opferhilfe.de/oeg veröffentlicht. Die Ergebnisse zeichnen ein erschütterndes Bild.
Die wichtigsten Erkenntnisse:
- Viel zu wenige Gewaltopfer stellen einen Entschädigungsantrag. Das Gesetz ist weitgehend unbekannt.
- Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen den Bundesländern bei den Anerkennungs- und Ablehnungsquoten.
- Gewaltopfer empfinden die Verwaltungsverfahren als unsensibel, belastend und vielfach sogar als retraumatisierend.
„2021 war ein sehr schlechtes Jahr für Opfer, die von Gewalt betroffen waren. Das OEG ist ein gutes Gesetz, aber der Staat hält sein Hilfsversprechen nicht. Die Unterstützung kommt nicht bei den Betroffenen an“, ordnet der Bundesvorsitzende des WEISSEN RINGS Prof. Jörg Ziercke die Gesamtlage im Bund ein. Vor allem brauche es jetzt einen Kulturwandel in den Ämtern: „Die Behörden müssen auf Anerkennung prüfen, nicht auf Ablehnung. In Deutschland muss der Leitsatz gelten: Im Zweifel für das Opfer!“ Der Landesvorsitzende des WEISSEN RINGS Steffen Hörning fügt hinzu: „Die Bearbeitungsdauer muss dringend verkürzt werden, damit sich die Zahl der ‚Erledigungen aus sonstigen Gründen‘ signifikant verringert.“
Der WEISSE RING wurde 1976 in Mainz gegründet als „Gemeinnütziger Verein zur Unterstützung von Kriminalitätsopfern und zur Verhütung von Straftaten e. V.“. Er ist Deutschlands größte Hilfsorganisation für Opfer von Kriminalität. Der Verein unterhält ein Netz von rund 2.900 ehrenamtlichen, professionell ausgebildeten Opferhelfern in bundesweit 400 Außenstellen, beim Opfer-Telefon und in der Onlineberatung. Der WEISSE RING hat rund 100.000 Förderer und ist in 18 Landesverbände gegliedert. Er ist ein sachkundiger und anerkannter Ansprechpartner für Politik, Justiz, Verwaltung, Wissenschaft und Medien in allen Fragen der Opferhilfe. Der Verein finanziert seine Tätigkeit ausschließlich aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden und testamentarischen Zuwendungen sowie von Gerichten und Staatsanwaltschaften verhängten Geldbußen. Der WEISSE RING erhält keinerlei staatliche Mittel.