Die fetten Jahre sind vorbei

Kommentar der Mittelbayerischen Zeitung von Gerd Schneider:

An den Börsen wird die Zukunft gehandelt. Das heißt nicht, dass man mittels der Kursverläufe künftige Entwicklungen vorhersagen kann. Stattdessen bildet das Hoch und Nieder an den Finanzmärkten nur die Erwartungen der Marktteilnehmer ab. Und die sind in diesen Wochen, nicht unüblich für Krisenzeiten, vollkommen uneinheitlich. Seit die russische Armee in die Ukraine einmarschiert ist, fahren die Börsen Achterbahn. Mal fallen die Kurse ins scheinbar Bodenlose, dann geht es steil nach oben, ohne dass sich dahinter ein schlüssiges Muster erkennen ließe. Spekulanten mit eisernen Nerven mag dieses Chaos beglücken. Insgesamt sind Kurskapriolen mit extremen Ausschlägen kein gutes Zeichen.

Tatsächlich mehren sich die Anzeichen, dass gerade wir Deutschen uns mit dem Gedanken vertraut machen müssen, dass die fetten Jahre hinter uns liegen. Für das Gros der Gesellschaft ist das eine ganz neue Erfahrung. Wir haben uns daran gewöhnt, dass all die Turbulenzen und Erschütterungen, die wir in den vergangenen 30 Jahren erlebt haben, irgendwie an uns vorüberzogen. Die Anschläge vom 11. September 2001, der Krieg in Afghanistan, die Finanzkrise 2008, Russlands Besetzung der Krim, Trumps Wahl zum US-Präsidenten: All das spielte sich vor unseren Augen ab, ohne dass es direkte Folgen für unsere Art zu leben hatte und ohne dass wir den Gürtel enger schnallen mussten. Die Blase, die das Land umgab, schien unzerstörbar zu sein.

Der Krieg, der seit ein paar Wochen in Europa tobt, hat uns diese Gewissheit genommen. Für die meisten Deutschen ist das ein Schock. Die Ereignisse in der Ukraine könnten uns lehren, dass ewiger Wohlstand und die Abwesenheit von existenziellen Krisen kein Naturrecht sind. Noch lässt sich nur ahnen, welche Zumutungen aus dem Krieg und dem Wirtschaftsembargo des Westens erwachsen. Das betrifft viele Länder; aber ganz besonders die Exportnation Deutschland. Man muss sich hüten, Panik zu schüren. Doch wenn man manchen Wissenschaftlern glaubt, könnte es wirklich hart werden. Vor allem dann, wenn sich die Regierung doch noch dazu aufraffen sollte, den russischen Gasröhren den Hahn zuzudrehen.

Neben dem Krieg vor unserer Haustür gibt es noch einen weiteren „schwarzen Schwan“, der das Land auf eine schwere Probe stellt: die Rückkehr der Inflation. Selbst die Europäische Zentralbank, die mit ihrer expansiven Geldpolitik die Geister rief und sie lange ignoriert hat, räumt inzwischen ein, dass sie mit ihrer Einschätzung falsch lag. Noch ist in den meisten Köpfen nicht angekommen, was es bedeutet, jährlich fünf oder sechs Prozent seiner Ersparnisse durch Geldentwertung zu verlieren. Vermutlich wird man sich daran gewöhnen müssen. Inflation, das zeigt die Geschichte, gibt nur selten ein kurzes Gastspiel.

Dazu kommen hausgemachte Probleme. 100 Milliarden will die Regierung allein in die Bundeswehr stecken. Die Folgen des Ukraine-Krieges werden uns noch viel mehr kosten. Jetzt fällt uns auf die Füße, dass die Regierung in den vergangenen Jahren Wohltaten wie Rente mit 63 und Mütterrente verteilt hat, als gäbe es kein Morgen. Der Anteil der Sozialausgaben im Bundeshaushalt hat ein Maß erreicht, das selbst Ökonomen mit sozialdemokratischem Hintergrund unverantwortlich nennen. Auch die Staatsquote, der Anteil der Ausgaben für die Erfüllung der staatlichen Aufgaben, wächst uferlos. Ministerien und Verwaltungsapparate werden immer weiter aufgebläht, die allgegenwärtige Bürokratie legt sich wie Mehltau übers Land. Man könnte diese Liste des Grauens noch weiter fortsetzen. Da ist der Fachkräftemangel als Folge der Überalterung. Oder die Frage, wie sich Schwund und Wohlstandsverlust auf die Akzeptanz der Energiewende auswirken. Der Ukraine-Krieg könnte für Deutschland eine Zäsur sein, eine Revision unseres Lebensstils.

Es gibt Wichtigeres als Wohlstand, die Freiheit. Gegen sie vor allem führt Putin Krieg.