Die Sache mit der Gesundheit und der Freiheit

„Der Schutz der Gesundheit ist ein hohes Gut, aber das höchste Gut unserer Verfassung, das ist und bleibt die Freiheit“, sagte FDP-Chef Lindner am 6.1.2022 beim Dreikönigstreffen seiner Partei.

Diese Worte unseres Finanzministers, so griffig sie klingen, machen mich ein wenig misstrauisch: Ist das denn wirklich so? Überlegen wir mal gemeinsam:

Am einfachsten ist vielleicht zunächst ein Blick auf’s Grundgesetz. ‚Ist und bleibt‘ Freiheit das „höchste Gut unserer Verfassung“? Lesen wir nach:

 

Art 1

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.

 

In Artikel 1 ist von Freiheit ausdrücklich nicht die Rede. Dennoch beinhaltet der Begriff der Menschenwürde die Vorstellung, dass der Mensch einen freien Willen habe, sich vernünftig steuert und für sein Handeln Verantwortung trägt. Dazu ist die Vorstellung der Freiheit Voraussetzung. Im nächsten Artikel wird u.a. das weiter ausgeführt:

 

Art 2 

(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

 

Einerseits wird freie Entfaltung und körperliche Unversehrtheit weiter betont. Andererseits werden auch Möglichkeiten der Einschränkung genannt (Rechte Anderer, Gesetz).

Auch der Schutz der Gesundheit findet in diesem 2. Artikel eine erste Begründung: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ In Artikel 3 heißt es dann noch: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

 

– Aber ist es überhaupt richtig, Freiheit und Gesundheit als „Güter“ gegeneinander abzuwägen? Dadurch, dass wir täglich mit diesen beiden Begriffen umgehen, werden sie nicht zu griffigen Gegenständen, sondern sie beschreiben eher Zustände.

Und auch diese ‚Zustände‘ sind kaum vergleichbar, oder nur bei ganz vordergründigem naivem Verständnis im Sinne von: „Ich bin nicht gesund, liege mit Fieber im Bett.“ bzw. „Ich bin nicht frei, bin wegen Diebstahls im Gefängnis.“

Mag Gesundheit noch ein wünschenswerter (ja auch ‚geschenkter‘) Zustand sein, ist Freiheit viel mehr: Zwar gibt es auch ‚geschenkte‘ Freiheit, aber Freiheit geht weit über diese Körperlichkeit hinaus:

Freiheit ist die Idee, die den bewusst handelnden Menschen verantwortungsvoll sein lassen kann. Sie beinhaltet die Voraussetzung, dass der Mensch einen freien Willen habe und stets so handele, dass Handeln in der Hinsicht ‚angemessen‘ ist, dass er (zusammen mit allen anderen Menschen) wollen kann, dass jeder so handelt. Dieser Gedanke, diese Idee, setzt eine große Erwartung in den Menschen; nämlich für wahr zu halten, dass der Einzelne – wenn auch nicht ununterbrochen, so doch prinzipiell – in der Lage ist, diesem Anspruch zu genügen. Dieses Bild vom Menschen verleiht ihm seine Würde.

Wenn wir uns im Alltag umschauen, so begegnen wir Personen, die diesem Bild entsprechen, eher selten. Keiner erfüllt das skizzierte Ideal ständig ununterbrochen, sondern wohl eher sehr selten, vielleicht auch nur einmal in einem ganzen langen Leben…

– Der Gedanke dieser nicht körperlichen Freiheit ist also eher Anspruch als Zustand oder gar ein „Gut“, wie Herr Lindner ihn nennt. Daher werden wir auch stets Gesetze brauchen…

Auch lassen sich Freiheit und Gesundheit nicht strikt getrennt voneinander denken: Ein Minimum an Gesundheit scheint praktisch stets Voraussetzung von Freiheit zu sein. – Und umgekehrt?

Mein Fazit: Als Vorsitzender einer Freiheits-Partei sollte man dafür sorgen, dass der Freiheitsbegriff nicht auf ein plump-naives ‚Freiheit ist die Möglichkeit zu tun, was ich will‘ verengt wird, sondern etwas tiefer greifen: Freiheit ist ohne Verantwortung nämlich nichts.

 

Anmerkung:

Wem der oben beschriebene Freiheitsbegriff (mit der Annahme eines freien, vernünftigen Willens) zu kompliziert ist und meint, er sei nur frei, wenn er tun und lassen könne, was wonach im gerade so sei, lässt nicht sein eigentliches ‚Ich‘ über sich herrschen, sondern sein ‚Es‘, seinen Trieb oder Instinkt… Das kann zwar lustvoll und für den Moment entspannend sein, ist aber nicht frei, sofern die eigene willentliche Steuerung nicht greift.