Dieser Artikel ist bereits am 19.1.2019 erschienen. Wir haben ihn in Folge einer internen Diskussion noch einmal hervor gekramt. Denn er umreißt den Horizont einer Einführung in die Philosophie der Erkenntnis, die vor Jahren auch schon einmal im LeineBlick erschienen ist, dann aber aus technischen Gründen verloren ging. Mal sehen, ob sich auch diese damals gut frequentierte Folge wieder herstellen lässt…
Norbert: Das ist wieder mal ein Thema! Wirk-lich-keit… – Mir fällt dazu nix ein.
Olaf: Wirklich ist das was wirkt.
Sofie: Das klingt doch schon mal ganz gut, da ist gewiss was dran.
Norbert: Na meinetwegen….
Sofie: Und so doof ist das Thema auch nicht. In Zeiten von fake news, Trump-Fantasien, facebook-Blasen usw. ist es wirklich an der Zeit sich mal Gedanken darüber zu machen, was wirklich ist, ob es etwas gibt, an dem sich alle orientieren können. Und – wie man das erkennt.
Daniel: In der Naturwissenschaft ist das eigentlich ein Dauerproblem und man hat lange daran gearbeitet…
Norbert: Bitte nicht so kompliziert. Wirklichkeit besteht einfach aus allem was ist. Seht ihr den Baum da draußen? – Der steht da ganz objektiv und der ist wirklich. Punkt.
Sofie: Schau mal genauer hin, Norbert! Das sind zwei Bäume!
alle lachen…
Norbert: Aus meiner Perspektive ist es nur ein Baum. Gut der Stamm verzweigt sich in knapp einem Meter Höhe in zwei…
Sofie (geht an ein seitlich gelegenes Fenster): Ich sehe von hier, dass deine beiden „Äste“ als einzelne Stämme im Abstand von einem knappen halben Meter hintereinander aus dem Boden kommen.
Olaf: Ich glaube, lieber Norbert, da hast du eine wesentliche Entdeckung bewirkt: Jeder hat eine andere Perspektive. Daher gibt es auch unterschiedliche Wirklichkeiten.
Norbert: Meinetwegen, aber dass da ein Baum ist, oder von mir aus auch zwei, das ist doch die Wirklichkeit.
Daniel: Ein Baum oder zwei? – Die Wirklichkeit muss klar definiert sein.
Sofie: Vielleicht sind es aus einer ganz anderen Perspektive ja auch drei Bäume, evtl. noch ein ganz kleiner, den wir von hier nicht sehen. – Und ist ‚Sehen‘ das entscheidende Kriterium?
Norbert: Komm mir jetzt nicht damit, dass wir den Baum auch träumen könnten usw.
Sofie: Woher willst du wissen, dass wir uns alle nicht doch in einem großen Traum befinden?…
Olaf: Da fällt mir auf, dass es einfacher wäre, nicht von Gegenständen da draußen, also der Wirklichkeit um uns herum zu reden, sondern nur von dem, was uns in unserem Denken unmittelbar gegeben ist. Das ist das Wirkliche! – Da brauchen wir uns über ‚Perspektiven‘, ‚Sehen‘, ‚Träume‘ oder auch nicht träumen gar keine Gedanken zu machen. Das Wirkliche ist, was dem Subjekt unmittelbar ins Gehirn gekommen ist. Das Wirkliche ist das Subjektive!
Sofie: Das erinnert mich an die Zweifel von Descartes in seinen „Meditationen“… – Was schließlich übrig bleibt, ist die bloße Tatsache, dass er überhaupt etwas denkt, das ‚Cogito‘, das ‚Ich denke‘.
Daniel: Aber das ist doch keine Lösung! Das ist doch gerade die Krankheit, an der wir heute leiden: Wir sind verliebt in die virtuellen Realitäten. – Jeder hat seine Privatwelt, seine Privatwirklichkeit. Jeder sucht Leute, die er für gleichgesinnt hält, mit ähnlicher Wirklichkeit – z.B. ein Reichsbürger den Anderen. Sie tun sich in einer durch künstliche Intelligenz bei facebook so automatisch konstruierten Meinungsblase zusammen und halten alle Anderen für unaufgeklärt. Sie leben in einer Wirklichkeit, die nur für wenige Subjekte gilt, halten diese aber natürlich für die Entscheidende.
Olaf: Daniel, du erwähntest vorhin doch die Naturwissenschaft, wie löst die das Problem der Wirklichkeit?
Daniel: Von Lösung kann keine Rede sein…. Aber vielleicht doch, es ist ein ständiges Bemühen, das im Idealfall jederzeit bereit sein muss sich selbst zu korrigieren.
Sophie: In der Naturwissenschaft haben wir es mit ‚objektiver Wirklichkeit‘ zu tun. Das klingt erfolgversprechend.
Daniel: Objektive Wirklichkeit in reiner Form gibt es auch in den Naturwissenschaften nicht, denn was wir erkennen, erkennt immer ein Subjekt (also wir) und damit ist es subjektiv. – Aber richtig ist: Wir bemühen uns um ‚objektive‘ Erkenntnis.
Norbert: Und wie macht ihr das?
Daniel: Wir schaffen zunächst eine Theorie. Den Gesamtzusammenhang versuchen wir meist mit Hilfe der Mathematik darzustellen.
Sofie: Dann rechnet ihr das durch und wenn’s stimmt, habt ihr die Wirklichkeit bewiesen – ja, ja.
Daniel: Sofie, das glaubst du doch nicht im Ernst! Beweise gibt es nur in der Mathematik und in der Logik. Alles Andere ist dummes Gerede!
Sofie: Ja entschuldige, ich war etwas vorschnell. – Aber du weißt, es wird ständig etwas „wissenschaftlich bewiesen“ – z.B. in der Werbung…
Olaf: Komm zur Sache Daniel! – Wie geht die Wissenschaft vor?
Daniel: Das ist jetzt schnell gesagt. Wir entwerfen eine Theorie und beschreiben diese in den wesentlichen Teilen mithilfe der (international verständlichen und exakten) Sprache der Mathematik.
Nun kommt es darauf an, dass die Theorie über ein einzelnes Phänomen (der „Wirklichkeit“) bei Anderen auf Interesse stößt und verstanden wird. Dann machen sich immer mehr daran, diese Theorie zu überprüfen, indem sie Experimente erdenken, die (Mess-)Ergebnisse liefern, die mit den Vorhersagen der Theorie (innerhalb möglichst enger Fehlertoleranzen) übereinstimmen.
– Dies findet immer und immer wieder statt, auf die unterschiedlichste Art und Weise, möglichst auch mit Theorien, die sich bereits bewährt haben und in die sich dieses ’neue‘ Phänomen vielleicht einpassen lässt. Denn die Gesamtheit aller Theorien ist die Beschreibung dessen, was der Naturwissenschaftler als mögliche ‚objektive Wirklichkeit‘ voraussetzt.
Johanna: Ihr schafft also letztlich eine Intersubjektivität, gewissermaßen um euch der Objektivität anzunähern?
Daniel: Kann sein. Da muss ich mal drüber nachdenken….
Norbert: Und wenn’s schief geht? Was ist, wenn ein Experiment eine Theorie nicht bestätigt?
Daniel: Dann geht’s von vorne los. Dann muss die Theorie verändert oder gar ganz über den Haufen geworfen werden. – Der gute Naturwissenschaftler muss gleichzeitig immer auf der Suche nach Experimenten und Messwerten sein, die seine Theorie nicht bestätigen, sondern ihr sogar widersprechen. Damit wäre dann sogar ein (logischer) ‚Beweis‘ erbracht, nämlich dass diese Theorie nicht stimmt. Auch dadurch ist man einen Schritt weiter…
Johanna: In der Tat. Ein Beispiel dafür ist mein männlicher Namensvetter Johannes Kepler: Zunächst als Kind mittelalterlichen und auch platonischen Denkens glaubte er noch die Planeten müssten sich harmonisch auf einer als besonders vollkommen empfundenen Kreisbahn um die Sonne – auch dies war bereits ein Fortschritt – bewegen.
Er begann aber die Ergebnisse seiner Theorie mit guten Messdaten zu vergleichen, die ihm von Tycho Brahe vorlagen. Da entdeckte er eine maximale Abweichung von den gemessenen Werten von – nur! – acht Bogenminuten – und verwarf die ganze schöne Theorie, die zu entwickeln er mehr als fünf Jahre benötigt hatte.
Es ging um die Marsbahn um die Sonne.
– Diesen Akt – festgehalten in der „Astronomia Nova“ (erschienen im Jahr 1609) – kann man als Geburtsstunde dessen ansehen, was man heute Naturwissenschaft nennt und was dem forschenden Menschen seine Souveränität in diesem Bereich gegeben hat.
Norbert: Hm, wohl etwas wie das Essen vom Baume der Erkenntnis…
Daniel zieht einen Taschenrechner hervor: Erstaunlich, 8 Bogenminuten sind ja nur ein winziger Bruchteil von einem Grad 8/60 = 2/15 = 0,13°. Oder anders gesagt: es sind knapp 0,04% eines Vollkreises – Wahnsinn. – Als Student hätten wir das als üblichen Messfehler abgetan…
Olaf: Da wird eine Anstrengung, eine Haltung deutlich, die mich beeindruckt.
Sofie: Seht ihr auch eine allgemeine Tendenz einer wachsenden Respektlosigkeit dem Objektiven, oder meinetwegen auch Intersubjektivem, also der Wirklichkeit, gegenüber?
Norbert: Trump leugnet die vom Menschen bewirkte Klimakrise.
Daniel: Dass eine relativ sehr schnelle Klimaänderung stattfindet ist keine Frage mehr, dass diese vom Menschen bewirkt ist, ist, wenn auch nicht ‚bewiesen‘, so doch sehr, sehr wahrscheinlich. Alles spricht dafür.
Norbert: Diese außergewöhnliche Klimaänderung für wahr zu halten, ist vielleicht die einzige Chance, die Menschheit in der jetzigen Form zu retten….
Olaf: Nochmal zurück zu der ‚allgemeinen Tendenz‘, von der Sofie gesprochen hat. Ich denke auch, dass das nicht aus der Luft gegriffen ist. – Bloß: Warum? – Haben wir uns an virtuelle Realitäten durch Film, Fernsehen und Computer so sehr gewöhnt?
Johanna: Auf jeden Fall scheint es durch die hohe Geschwindigkeiten, mit der sich Nachrichten und Gerüchte verbreiten, leichter geworden zu sein, in kurzer Zeit viele Menschen zu beeinflussen. Social Media tun ihr Übriges, indem Sie Nutzern nur die Nachrichten zukommen lassen, die diese bevorzugen…
Daniel: Naja, nun wollen wir nicht zu schwarz sehen. Aber ich denke auch, dass es dem Menschen immer schwerer fällt mit der großen Informationsflut und ihrer Geschwindigkeit fertig zu werden. Nachprüfbar sind viele einzelne „News“ für den Einzelnen gar nicht mehr. Er ist schier ausgeliefert.
Johanna: Die Meisten sind vermutlich dramatisch überfordert, wenn sie auch nur das Wesentliche überblicken und bewerten wollen. – Und: was ist das Wesentliche?
Norbert: Da ist es tatsächlich einfacher, sich in eine private Realität zurück zu ziehen. Damit man nicht merkt, dass dies eine Flucht ist, sucht man Gleichgesinnte und fühlt sich als etwas Besonderes, man hat den Durchblick: Da ‚draußen‘ findet Unheimliches statt!
Sofie: Damit habt ihre nun auch eine Theorie zur Entstehung der Verschwörungstheorien entwickelt!
Olaf: Zum Schluss möchte ich aber noch einmal Daniels und Johannas Gedanken in Erinnerung bringen um ein Fazit unseres Gesprächs zu ziehen: „Wirklichkeit“, das Bewusstsein einer außerhalb eines Lebewesens (wozu auch wir Menschen gehören) existierenden ‚objektiven‘ Welt ist eine Idee (im Sinne Kants), die aufrecht zu erhalten einer großen Anstrengung bedarf. Der Gedanke einer für alle Menschen gemeinsam geltenden Wirklichkeit ist ein hohes Kulturgut.
Johanna: Was in abgeleiteter, höherer Stufe ja auch stattfindet, wenn wir Menschenrechte, Würde des Menschen, Gleichberechtigung usw. für „Naturrechte“ erklären. Dies zu verwirklichen ist eine immer andauernde Aufgabe.
Wolfgang Siebert ©