Tokyo 2020 – Die Fackel strahlt

Strahlen-Hotspots an jeder Ecke, heiße Brennstoffschmelze in den Reaktoren, Atomabwässer, Berge von Atommüll und zehntausende Atomflüchtlinge – das ist Alltag in Fukushima. Jetzt kommt Olympia ins Sperrgebiet

Der Pomp wird groß sein am 26. März und der Startpunkt für den Fackellauf ist ganz bewusst gewählt: J‑Village, das nationale Trainingszentrum Japans, unweit des AKW Fukushima-Daiichi. Nach dem Super-GAU 2011 diente die Sportstätte jahrelang als Hauptquartier und Unterkunft für Tausende Katastrophenarbeiter*innen, die die havarierten Reaktoren wieder unter Kontrolle bringen sollten. Jetzt aber, im Jahr neun der Atomkatastrophe, soll von J‑Village aus die olympische Fackel starten und den Auftakt der Sommerspiele einläuten. Drei Tage lang wird das Licht durchs Haupt-Fallout-Gebiet ziehen, erst die Küste hinunter bis Iwaki, dann wieder hoch, bis wenige Kilometer ans Katatrophen-AKW heran, im großen Bogen herum, Namie, Minamisoˉma, Iitate, Fukushima-City. Dort, 200 Kilometer von Tokio, aber keine 60 Kilometer von den havarierten Reaktoren entfernt, sollen am 22. Juli auch die ersten Wettkämpfe von „Tokyo 2020“ starten, die „Recovery and Reconstruction Games“, „Wiederherstellungs- und Wiederaufbau-Spiele“, wie die Organisator*innen sie auch nennen. Baseball und Softball sollen der Welt zeigen: Alles wieder in Ordnung. Auch wenn nichts in Ordnung ist.

 

Radioaktiver Staub

Bis heute müssen die geschmolzenen Brennstäbe in den Atomruinen ununterbrochen mit frischem Wasser gekühlt werden. Im Inneren der havarierten Reaktoren herrschen nach wie vor lebensbedrohliche Strahlungswerte. Nicht aufgefangenes kontaminiertes Wasser fließt trotz großer Anstrengungen weiterhin ins Meer und ins Grundwasser. Der aufgefangene Teil der radioaktiven Brühe füllt Tausende gigantische Tanks auf dem Kraftwerksgelände: Versuche, das Wasser zu dekontaminieren, sind gescheitert. Die japanische Regierung wird demnächst entscheiden, ob es in den Pazifik abgelassen oder in die Luft verdampft werden soll.

Tausende Arbeiter*innen sind täglich mit Sicherungs-, Aufräum- und Abrissarbeiten auf dem AKW-Gelände beschäftigt. Nach Schätzungen des AKW-Betreibers Tepco werden sich die Arbeiten noch Jahrzehnte hinziehen.
Die offizielle Statistik der Präfektur Fukushima zählt noch immer mehr als 40.000 Atomflüchtlinge, die bis heute nicht in ihre Heimatstädte zurückkehren konnten. Real sind es weit mehr, denn wem die Behörden auch nur unterstellen, gar nicht mehr zurückkehren zu wollen, den dürfen sie einer Anweisung zufolge gar nicht mehr mitzählen. Und tatsächlich zurückkehren ins Katastrophengebiet wollen nur die wenigsten.

Zwar ist inzwischen ein erklecklicher Teil der einstigen Sperrzone wieder freigegeben. Häuser und Straßen wurden abgespritzt und geschrubbt, Pflanzen radikal gestutzt, Fugen ausgekratzt, der Erdboden flächendeckend abgetragen, zahllose „Hotspots“ entfernt. Alles mit dem Ziel, die Strahlenwerte unter die Grenzwerte zu drücken. Diese sind allerdings 20 mal höher als die Strahlenbelastung, die international noch als akzeptabel für Wohnorte angesehen wird. Dies bedeute „nicht hinnehmbare gesundheitliche Risiken“ für die Bevölkerung, kritisieren die Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW). Sogar das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte hat aus diesem Grund bei der japanischen Regierung gegen die Aufhebung der Evakuierungszonen protestiert: Die Opfer der Atomkatastrophe dürften nicht ein zweites Mal bestraft und gezwungen werden, in ein weiterhin kontaminiertes Gebiet zu ziehen.

Jeder weiß zudem, dass die Messwerte trügen. Gesäubert wurden nämlich hauptsächlich die Siedlungen selbst. Die Hügel, der Wald, die Natur – das alles hingegen lässt sich nicht dekontaminieren. Jeder Wind, jeder Regenguss, kann deshalb wieder neue strahlende Partikel herbeiwehen. Überall können sich neue Hotspots bilden. Strahlende Partikel, die in den Körper gelangen, sind besonders gefährlich. Aber Strahlung schmeckt man nicht. Die Schilddrüsenkrebsrate bei Kindern aus der Präfektur Fukushima ist schon heute 15 mal so hoch wie im restlichen Japan. Welche Familie zieht freiwillig zurück in eine solche Gegend?

Für die japanische Regierung und die Präfektur Fukushima ist das ein Problem. Schulen haben eröffnet, ohne Kinder weit und breit. Den Geschäften bleiben die Kund*innen aus. Es gibt weder Arbeitskräfte und noch Jobs. Vor allem aber bleibt, zum Missfallen der Regierung und der AKW-Betreiber, das Image der Atomkraft schlecht. Von den gut 50 Reaktoren in Japan vor der Fukushima-Katastrophe sind erst neun wieder ans Netz gegangen. Einem davon hat ein Gericht unlängst die Genehmigung wieder entzogen, die Erdbebensicherheit sei nicht nachgewiesen.

 

Rückkehr zur Normalität?

Die japanische Regierung hofft, dass schnellstmöglich wieder Normalität einkehrt. Dass die Katastrophe endet, zumindest in den Köpfen. Dass die immensen Kosten für Entschädigungen, Dekontamination, Aufräumarbeiten nicht immer weiter wachsen. Dass die Bürger*innen aufhören, jeden Reaktorstart zu beklagen und zu bekämpfen. Sie will nicht nur die vielen stillliegenden AKW wieder ans Netz lassen, sogar neue sind geplant. Es soll wieder so sein wie vor dem 11. März 2011. Und Olympia, das Weltereignis, soll dabei helfen.

„Die Olympischen Spiele dürfen nicht dazu missbraucht werden, vom Schicksal der Betroffenen in Japan und der anhaltenden radioaktiven Gefährdung der Menschen dort abzulenken“, warnt die IPPNW. Vom Deutschen Olympischen Sportbund fordert sie, auf die Wettkämpfe und den Fackellauf in Fukushima zu verzichten.

Der Super-GAU von Fukushima, beteuerte Japans Premierminister Shinzo Abe 2013 vor dem Internationalen Olympischen Komitee, sei „unter Kontrolle“. Tokio bekam den Zuschlag.

Südkoreanische Athlet*innen planen nun, Strahlenmessgeräte und eigenes Essen mitzubringen. Greenpeace veröffentlichte vor ein paar Wochen das Ergebnis eigener Strahlenmessungen im Gebiet um Fukushima. Man habe Hotspots gefunden, auf offiziell dekontaminiertem Gebiet. Im J-Village.

 

– eine Pressemeldung von ausgestrahlt.de