Lebenserinnerungen Klaus Perrey

…und dicke Tränen kullerten ihm in seinen schlohweißen Bart:

Ein Russe teilte mit mir sein Brot

Im Zusammenhang mit den dieser Tage medienwirksam aufbereiteten Erinnerungen an die schrecklichen Zeiten von Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Ostpreußen (etwa im Umfeld des ARD-Zweiteilers „Die Flucht“) wurde immer wieder eindrucksvoll über Morde, Vergewaltigungen, Plünderungen und Verwüstungen durch die Soldaten der Roten Armee berichtet. Ich selbst, Jahrgang 1934, habe das alles miterleben müssen und bin heute noch traumatisch belastet davon.

Dass es jedoch inmitten der Kriegswirren auch Geschehnisse von großer Menschlichkeit, ja von Nächstenliebe, gab, das sollte nicht verschwiegen werden.

Ich habe daher ein Kapitel meiner Lebenserinnerungen diesem Thema gewidmet und möchte es hier zitieren:

„Der russische Nachschub rollte unaufhörlich an uns vorbei, die wir uns,
einige Meter von der verdreckten Strasse entfernt, in einer Feldscheune vor den Übergriffen der meist angetrunkenen Rotarmisten in Sicherheit bringen wollten. Hunger und Durst aber ließen uns unser Versteck bald wieder verlassen. Wir hatten die anbrechende Dunkelheit für unseren neuerlichen Aufbruch gewählt und gelangten schon nach wenigen Kilometern Fussmarsch an den Rand einer Stadt, die – wie wir später feststellten – Bernstein hieß.

Alles war irgendwie unheimlich und gespenstisch. Wir folgten ziellos dem Strassenverlauf und fanden uns plötzlich, es war später Abend geworden, auf dem kleinen Marktplatz der Stadt wieder. Wohin wollten wir, wohin sollten wir, wohin konnten wir, wohin durften wir?

Der gesamte Platz war zugeparkt von russischen Militärfahrzeugen, die Mannschaften waren abgestiegen und beschäftigten sich im Schein vieler kleiner Lagerfeuer. Von irgend woher klang eine Mundharmonika herüber.
Alles machte eigentlich einen durchaus friedlichen Eindruck, und man hatte nicht das Empfinden, dass die Soldaten sich etwa in Alarmbereitschaft befinden würden. Offenbar war die Front mittlerweile so weit entfernt, dass sie direkte Angriffe der deutschen Verteidiger nicht befürchten mussten. Nur aus der Ferne nahm man grollenden Geschützlärm wahr.

Wir standen verloren am Rande des Platzes, als ich ein paar Schritte von mir entfernt einen alten, bärtigen Russen entdeckte, der dabei war, von einem unförmigen Brotklumpen zu essen. Und ich, 10 Jahre alt, hatte Hunger, großen Hunger! Ich überwand meine Scheu und ging auf ihn zu. „Klebba, bitte!“, flehte ich ihn an. (Das russische Wort für „Brot“ hatte ich schon aufgeschnappt.) Unsere Blicke trafen sich, und mein Herz klopfte wie irre, denn wie konnte ich wissen, wie er reagieren würde!

Der alte Mann in der verdreckten bräunlichen Uniform und der Pelzmütze auf dem zerzausten Kopf hielt inne, als würde er überlegen, ob Mitleid mit einem kleinen deutschen Jungen wohl erlaubt oder von seinen Vorgesetzten vielleicht geduldet würde.

Und dann ging ein Lächeln über sein Gesicht, das von einem schlohweißen, langen Bart bedeckt war. Er nahm seinen Brotklumpen, brach ein dickes Stück davon ab…und hob es gen Himmel! Ich sah verwirrt, wie ihm dicke Tränen in seinen Bart kullerten und hörte, wie er in einer mir unverständlichen Sprache mit erhobenem Kopf Worte murmelte, die wie ein Gebet klangen. Dann reichte er mir das gebrochene Brot, legte eine Hand auf meinen Kopf und schob mich, als wollte er diese Augenblicke herzlicher und mitfühlender Nähe zu einem Feinde schleunigst beenden, abrupt beiseite und verschwand in der Menge…

Diese Begegnung mit einem russischen Soldaten hat mich nachhaltig beeindruckt, hat mich sehr gerührt! Da stand, wie auf einer Insel der Nächstenliebe inmitten aller Feindseligkeiten, aller Grausamkeiten, umgeben von Kriegsgetümmel und Hass, ein Mensch, ein barmherziger Mensch! Und
ich bin sicher, er hat wirklich gebetet, als er „das Brot brach“ und es mir reichte. Nie werde ich ihn vergessen! Dieser Mann hat ganz wesentlich dazu beigetragen, dass es mir im Laufe der letzten Jahrzehnte gelungen ist, all die schrecklichen und unmenschlichen Geschehnisse „meiner Russenzeit“ zwar nicht zu vergessen, wohl aber, sie im milden Lichte besseren Verstehens zu betrachten. Denn eines steht ja unwiderlegbar fest: Den 2. Weltkrieg hat Hitler angezettelt, die ersten Gräueltaten und unbarmherzigen Zerstörungen dieses Krieges sind von deutschen Truppen begangen worden! Die Russen schlugen zurück, sie jagten die deutschen Feinde aus ihrem Land, sie nahmen Rache!

 

— — – DIE ERSTE FOLGE MEINER ‚LEBENSERINNERUNGEN‘ – — —

„Musste ab, der Arm!“

– In loser Reihenfolge möchte ich den Lesern des „LeineBlicks“ das eine oder andere Kapitel aus meinen Lebenserinnerungen vorstellen, die ich unter dem Titel „Lebensspuren“ vor kurzem fertig gestellt habe.

Heute geht es um ein Kindheitserlebnis im grimmig kalten und schneereichen Winter 1942 in Masuren:

„In Oletzko, dem früheren Treuburg in Ostpreußen, stand unserem Haus in der Grenzstraße gegenüber auf der anderen Straßenseite auf einem recht ansehnlichen größeren Hügel das Wohn- und Dienstgebäude des für die Umgebung von Treuburg zuständigen Gendarmeriepostens. Dieser Hügel war für die Kinder der Nachbarschaft im Winter so etwas wie ein „Naherholungsgebiet“, ein herrliches Rodelparadies, das natürlich emsig genutzt wurde.

Eines Tages ging es gemeinsam mit meiner Freundin Rosel (8 Jahre alt waren wir beide da), die Schularbeiten waren gemacht, im Sauseschritt auf die andere Straßenseite, und ab ging die Post… Der Andrang war recht groß an jenem Nachmittag, als das Unglück passierte: Ich sauste mit 80 Sachen mit meinem Schlitten den Hügel hinunter, und ganz dicht hinter mir nahm Rosel die Verfolgung auf, ebenfalls „mit Schmackes“, also recht rasant. Bums!! Da war es auch schon geschehen! Ich konnte mich plötzlich nicht mehr auf dem Schlitten halten und purzelte ziemlich unsanft in den festgefahrenen, glatten Schnee. Rosel konnte mit ihrem Schlitten nicht rechtzeitig ihre Abfahrt stoppen und raste mit gehörigem Schwung in mich hinein, der ich da – zunächst noch vor Vergnügen quietschend – auf der Nase lag. Autsch!! Das war heftig! Das tat ganz schön weh, als meine liebe Freundin in meine linke Schulter krachte! Nichts war es da mehr mit quitschendem Vergnügen, da kullerten ganz heftig dicke Tränen über meine Wangen, und von den Schreckenslauten Rosels begleitet, flüchtete ich mit schmerzverzerrtem Gesicht in die Arme meiner herbeigeeilten Mutter, die ersten Trost spenden konnte. Es half aber alles nichts. Sie setzte mich kurzentschlossen wieder auf meinen Schlitten, und ab ging es in Richtung Krankenhaus. Ein langer Weg war das, vor allem mit den Schmerzen. Zurück gelassen hatten wir eine wie ein Schloßhund heulende Rosemarie.

Der nette Onkel Doktor diagnostizierte einen Schlüsselbeinbruch! Da gab es ein Schmerzmittel, und im nu stand ich armer Tropf plötzlich „einarmig“ da, denn der linke Arm mit dem gebrochenen Schlüsselbein musste ja – angewinkelt und fest an den Oberkörper gelegt – dauerhaft fixiert werden.
Darüber wurden dann ganz vorsichtig Unterhemd und Pullover gezogen, und fertig war der Invalide, der schwer verwundete „Rodelsoldat“! Der linke, inhaltsleere Ärmel baumelte eindrucksvoll im Winterwind… Mensch, sah das toll gefährlich aus!

Ich konnte gar nicht schnell genug nach Hause kommen, um mich mit dem traurigsten und leidendsten Gesicht der Welt der ungeduldig auf uns wartenden Unfallverursacherin zeigen zu können. Rosel nahm mich in meinem bemitleidenswerten „reduzierten Zustand“ wahr und brach leichenblass in Tränen aus. Gnadenlos rief ich ihr zu: „Musste ab, der Arm!“

Zwei Mütter, fassungslos Zeugen solch unbarmherzigen Verhaltens meinerseits, mussten nun, jede auf ihre Weise und mit Nachdruck, die Situation beruhigen. Rosels Tränenstrom versiegte nach geglücktem aufklärerischem Zuspruch seitens ihrer Mutti bald. Und ich durfte nach heftigster, gestrenger Rüge durch meine Mutter – so ungerecht kann das Leben sein! – bei allem Schmerz und Kummer nun meinerseits meinen Tränen freien Lauf lassen…

Wie lange ich durch diesen „schönen“ Unfall auch schulisch behindert war, ist mir leider nicht mehr in Erinnerung. Eindrucksvolle, mitleidheischende Auftritte vor meinen Schulkameraden hatte ich allerdings zu Hauf. So hatte man doch wenigstens etwas davon, wenn man denn schon nicht die Schule schwänzen durfte, weil es doch leider nicht der rechte Arm war…!“

 

Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 2:

Kindheitstage 1940 – 1945 in Masuren/Ostpreu3en

„Zu unserem Haus in Treuburg gehörte ein ziemlich großer Garten mit kleinen Obstbäumen und vielen von meiner Mutter liebevoll gehegten Gemüsebeeten, die in der immer karger werdenden Zeit des begonnenen Krieges für eine gute Versorgung ihrer vierköpfigen Familie zuzüglich der des Hausmädchens sorgte. Aber auch eine großflächige Wiese gab es, auf der regelmäßig die frisch gewaschene Wäsche „gebleicht“ wurde. So sauber und rein muss damals noch die Umwelt gewesen sein, dass man es sich leisten konnte, Laken, Betttücher und andere weiße Wäschestücke auf das grüne Gras zu legen und dort der trocknenden Sonne auszusetzen.

Meine große Freude waren stets die vielen tierischen Hausgenossen, mit denen wir in engstem Kontakt leben konnten. Das waren Kaninchen, Hühner, Enten und sogar Gänse, die alle in einem an das Haus angrenzenden, von meinem Vater mit offensichtlich großem handwerklichen Geschick gebauten Holzhaus ihr Quartier hatten. (Gar nicht schlecht für einen Polizeibeamten, dachte ich mir.) Das „Tierheim“ war eine architektonische Meisterleistung meines Vaters und fand schon während der Bauphase, an der ich mich natürlich angemessen zu beteiligen hatte, meine volle Anerkennung. Und
dann dieser unvergleichlich herrliche Duft des frisch verarbeiteten Holzes und der neuen, teerigen Dachpappe! Für alle Zeiten gespeichert in meinem „feinen Näschen“…

Für die Hühner gab es sogar eine Durchgangsverbindung in das Kellergeschoss des Hauses, so dass sie – je nach Wetterlage – alle „Hühnerfreiheiten“ genießen konnten. Ziemlich arg beängstigend wurde es für mich allerdings immer dann, wenn eines der Hühner wieder mal am Anfang des Weges in Richtung Suppentopf oder Bratröhre stand , sprich: von meinem Vater geschlachtet werden musste. Und da Papa ja immer (und lange andauernd) die Auffassung vertrat, dass aus einem Jungen nur dann „ein rechter Mann“ werden könne, wenn man ihn so früh wie möglich gezielt mit den Härten des Lebens konfrontieren würde, musste ich halt, mit großem Widerwillen zwar und angstvoll, aber tapfer das zu schlachtende Huhn auf dem Holzklotz festhalten, bis der gezielte Axthieb des Familienoberhauptes seinem Leben ein blutiges Ende setzte.

Die Gänse wurden übrigens von meiner Mutter zu bestimmten Zeiten „genudelt“, damit sie zum jeweiligen Weihnachtsfest das erwünschte Schlachtgewicht und die richtige Fleischqualität erreichten. Bei diesem – wie ich erst später erfuhr – bei Tierfreunden durchaus umstrittenen Mastvorgang wurde aus Mehl, Schrot und Wasser ein Teig angerührt, aus dem man nudelartige Gebilde formte, die wie Zäpfchen oder eben wie dicke Nudeln aussahen. Dann schnappte sich meine Mama eine Gans, fixierte sie zwischen ihren Schenkeln und stopfte dem natürlich widerstrebenden Tierchen diese „Nudeln“ in den Schnabel, so dass Schluckzwang unausweichlich wurde. Na ja, besonders appetitlich fand ich diese Prozedur auch nicht. Andererseits: Die knusprig gebratenen Gänsekeulen schmeckten am ersten Weihnachtsfeiertag auch nicht schlecht! Der dazu gereichte Rotkohl allerdings und das regelmäßig für den Heiligen Abend vorgesehene „Schwarzsauer“, aus dem Blut der lieben Tierchen als ostpreußische Spezialität zubereitet, waren nicht unbedingt mein Fall! Rotkohl mochte ich als Kind nie! Diese obligatorische Beilage war mir immer schon ein Gräuel, genau so wie die Sauerampfersuppe und – noch schlimmer! – die Rotebeetensuppe!

Muttis Kochkünste sind mir ansonsten jedoch in allerbester Erinnerung! Sie war eine großartige und vor allem auch recht fantasievolle Köchin, die es mit zunehmender Kriegsdauer und bei den immer gravierender werdenden Versorgungsengpässen wahrlich nicht leicht hatte, für ausreichende Kalorienzufuhr zu sorgen und darüber hinaus auch die geschmackliche Komponente nie zu vernachlässigen. Sie vermochte wirklich aus „Nichts und aus Liebe und Fantasie“ mit großem Abwechselungsreichtum die leckersten Gerichte zu bereiten. Dafür erntete sie immer wieder uneingeschränkte Anerkennung und viel, viel Lob. Noch heute zolle ich ihr dafür großen Respekt und mit ihr den Millionen deutscher Hausfrauen, die es wahrlich nicht leicht hatten in den kargen Kriegs- und noch schlimmeren ersten Nachkriegsjahren!

Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 3:

Von Zirkusluft und Kaelterekorden und – vom groe3ten Marktplatz Deutschlands

Der Marktplatz in Treuburg

Heute setze ich Auszüge aus meinen Lebenserinnerungen fort. Sie spielen (ich bin 8 – 9 Jahre alt) Anfang der vierziger Jahre in Masuren/Ostpreußen.

„Treuburg, heute Olecko. Dicht an der alten polnischen Grenze im schönsten Teil Ostpreußens, in Masuren, gelegen. Eine beschauliche, kleine Stadt mit damals ca. 7.000 Einwohnern, aber mit dem größten Marktplatz des Deutschen Reiches von immerhin 7 Hektar (!). Von dem sog. Kirchberg mit
evangelischer Kirche, Stadtverwaltung und Mädchenmittelschule dominiert, bot dieses imposante Areal regelmäßig ausreichend Platz für Gastspiele der zu damaliger Zeit namhaftesten Zirkusse des Landes. Was für eine erwartungsvolle Aufregung nahm uns gefangen, wenn die bunten Wagen der großen Zirkusse, wie Sarrasani, Renz, Barum, Krone, Althoff u.a. anrückten und die Zeltmasten aufgerichtet wurden. Und mein Vater, Polizei-Chef von Treuburg, bekam natürlich immer Ehrenkarten für solche gesellschaftlichen Ereignisse, die die Vorstellungen weltberühmter Zirkusse in der kleinen Stadt nun einmal darstellten. Da war die Freude groß beim Sohnemann. Noch heute erinnere ich mich der großen, schmerzhaften Wehmut, die mich überkam, wenn der Zirkus seine Zelte nach Ende der mehrtägigen Gastspiele wieder abbauen musste und weitergezogen war. Mein Heimweg von der Schule führte mich an der Stelle vorbei, an der nun nur noch die kreisrunde Fläche, mit Sägemehl bedeckt, von dem dort befindlichen Manegenrund kündete, das so viel Glück in unsere kindlichen Herzen gebracht hatte…und unbestimmte Sehnsüchte dazu! Irgendwie war er noch spürbar, der fremdartige Geruch der vielen Tiere, die uns ergötzt und fasziniert hatten… – und der des Sägemehls.
Und man hörte noch das schwungvolle Zirkusorchester schmettern, und man sah sie noch vor sich, graziös und geschickt sich auf dem Seile bewegend, die süße kleine Seiltänzerin mit dem wippenden kurzen Röckchen. Das Lachen der ulkigen Clowns, das Fauchen der Löwen und Trompeten der
Elefanten…unvergessen! Ja, das Weiterziehen der Zirkusse, das waren für mich damals wahrlich die traurigsten, die wehmütigsten Momente meiner Kindertage. Ein wenig zu trösten war ich dann nur mit den Groschen, die mir auf dem Wege zur Schule den Einkauf einiger Lakritzstangen im Reformhaus
ermöglichten. Süßes hilft bei Seelenschmerz, das war eine frühe Erfahrung meines Lebens, die mich – zum eigenen und zum Kummer mancher mir nahestehender Personen – zu Lasten meines Körpergewichtes bis in diese Tage begleitet und Spuren hinterlassen hat…!

Die ostpreußischen Winter waren streng und lausig kalt. Treuburg, 160m über dem Meeresspiegel, war die kälteste Stadt innerhalb des damaligen Deutschen Reiches! Begünstigt durch Ost- und Südostwinde aus Sibirien und Russland wurden enorm extreme Kältegrade erreicht. So wird von folgenden Rekorden berichtet: Januar 1893: -36,4 ° C, Februar 1929: -42,0 ° C, März 1940: -38,0 ° C. Da werde ich 1940, kurz nachdem wir von meinem Geburtsort Insterburg nach Treuburg verzogen waren, wohl ein ganz schön kaltes Näschen bekommen haben!

Wegen der Rekord-Kältegrade hatte die Deutsche Reichsbahn, deren Bediensteter übrigens Johann Schade, der leider viel zu früh 1945 verstorbene Vater meiner Frau Helga war, auf dem Gelände des Bahnhofs in Treuburg auf Nebengleisen eine Vielzahl von Eisenbahnwaggons, Reih in Reih, aufgestellt.Sie erstrahlten in den unterschiedlichsten Farben, leuchteten so kunterbunt wie die farbenprächtigsten Zirkuswagen. Und damit hatte es folgende Bewandtnis: In der extremen Winterkälte ließ sich hervorragend die Haltbarkeit verschiedener Lacke testen, mittels derer die Waggons auch hochgradigen Kältetemperaturen trotzen sollten. Und auf diese Weise kam die
kleine Stadt zu einer zusätzlichen Winterattraktion, die so manchen familiären Sonntagsspaziergang zum Ziele hatte. Ein schönes Bild war das!

Am Flüsschen Lega, das durch Treuburg fließt

Kaum hatten die ersten knackigen Fröste die Menschen unter ihre Pelz- und Pudelmützen getrieben, wurde auf dem Marktplatz – es gab ja so viel Platz – eine große Fläche ausgehoben und von der anrückenden Feuerwehr im Rahmen einer „Schlaucherprobung“ unter Wasser gesetzt. Und nachdem sich diese innerhalb kürzester Zeit in eine spiegelglatte, herrliche Eisfläche verwandelt hatte, besaß die Stadt am See erneut eine wunderschöne großflächige Vergnügungsstätte für all die kleinen und großen Schlittschuhläufer. Musik erklang aus Lautsprechern, heiße Getränke wurden verkauft, der Eintritt war frei. Ein besonderer Clou für mich war meines großen Bruders (8 Jahre älter) Part an diesem winterlichen Höhepunkt, nämlich seine Mitwirkung als Torwart einer Eishockey-Mannschaft der Hitler-Jugend, und das fand natürlich meine uneingeschränkte Bewunderung. Mein großer Bruder!“

 

Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 4:

Masuren, Ostpreu3en in den Jahren zwischen 1940 und 1945


„Im Sommer lockte natürlich der Treuburger See, ein Naherholungsgebiet von besonderer Schönheit und von großem Reiz. Quer über den ausgedehnten Marktplatz hinweg führte der Weg dorthin, zunächst über die kleine Lega-Brücke und dann über die hölzernen Stege, die Seebrücke, neben und unter der uns schon die vielen Enten, Blesshühner und zahlreichen Schwäne begrüßten. Der Duft von Seewasser, Tang und Teer führte uns vorbei an den im klaren Wasser dümpelnden, an Stegen vertäuten Booten, hin zu dem so häufig angesteuerten Ziel, der in Kindertagen so geliebten Badeanstalt mit ihrem blendend weiß gestrichenen Holzsteg und den ihn abschließenden beiden imposanten Sprungtürmen. Ein wunderbarer Ort, der mir so viele unvergessene schöne Stunden beschert hat, der Ort so vieler kindlicher, quietschvergnügter Mutproben in kühlendem Seewasser. Das alte, spitztürmige Kassenhäuschen und daneben die begehrten Angebote an erfrischenden, so herrlich super-süßen Kaltgetränken, aus Sirup zubereitet, in Rot (Himbeer) und in Grün (Waldmeister), die leider viel zu oft und zu schnell zur Neige gingen. Kriegszeit eben…“Versorgungsengpässe“, „Mangelbewirtschaftung“…

An der Badeanstalt vorbei führte uns der Weg dann zu der Anlegestelle für den Bootsverkehr nach Liebchensruh und zum Masurenhof, einem Ausflugslokal direkt am Wald, direkt am See. „Liebchensruh“, was für ein sinniger, was für ein lieber Name! Ich sehe sie noch heute, die rot-weiß-
kariert eingedeckten Tische rund um das Rondell der steinernen Tanzfläche.
Und ich habe ihn in der Nase – wieder eine dieser Geruchserinnerungen! – diesen unvergleichlichen Duft von Kiefern und Kaffee! Die Nase schnuppert Erinnerung… Und heim ging es dann gegen Abend entweder wieder per Boot über den See oder aber – nicht minder spannend – mit der dampfgetriebenen Kleinbahn.

Weniger erfreulich war es bei den obligatorischen Sonntagsspaziergängen mit Mutti und Papa (Bruder Reinhold hatte ja – für ihn durchaus erfreulich – Dienst bei der HJ!). Es war meinem Vater regelmäßig ein unabwendbares Bedürfnis, mich mit irgendwelchen blöden Rechenaufgaben zu quälen!
„Kopfrechnen ist ganz wichtig im Leben!“ Und Mutti litt mit mir und musste sich dann gelegentlich auch noch von unserem verhinderten Pauker tadelnd über den Mund fahren lassen, wenn sie mir mal das Resultat zuflüstern wollte.

Ja, sie war sowieso eine herzensgute, liebevolle und fürsorgliche Mutter, trotz aller Strenge, die ich ab und an auch von ihr zu spüren bekam, wenn der „Zuchtmeister“ nicht im Hause war. Ganz schrecklich war es für mich immer dann, wenn – so musste es wohl sein – Strafe angesagt war, Mutti es sich aber aus Überzeugung versagte, zum Rohrstock zu greifen. Dieser verhieß nie etwas Gutes, wie er sich – so an die 10 cm über den oberen Rand des Küchenschrankes ragend – stets ungemein abschreckend in meinem Blickfeld befand. „Warte nur, bis der Papa vom Dienst kommt!“, hieß es dann. Die Strafe wurde also verkündet, und die Vollstreckung folgte durch des Vaters Hand nach dessen Dienstschluss! Zunächst, vor meinen bereits rot glühenden Ohren, Bericht von Mutti, und dann hieß es: „Hosen runter!“ Ich bin nicht so sicher, was mir damals mehr wehgetan hat, die niedersausenden Rohrstockhiebe oder so etwas wie kindliche Scham über diese mich kränkende besondere Situation. Viele Schläge habe ich in meinem Leben von meinem Vater bekommen. Ich trage es ihm nicht nach, denn so waren die Zeiten damals wohl, und er selbst hatte es in seinen Kindheitstagen wahrscheinlich auch nicht anders erfahren und es für gut, vielleicht auch nur für unverzichtbar gehalten.“

Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 5:

Von russischen Kriegsgefangenen und einer ostpreu3ischen Kaesetorte

– Treuburg, Masuren, zwischen 1940 und 1945:

„Dass meine Mutter ein gutes Herz hatte, war mir auch in Kindertagen schon oft und einprägsam bewusst geworden. Sie lebte es uns Kindern vor, was es heißt, ein Christ zu sein. So erinnere ich mich an eine Episode aus dem Jahre 1944. In Treuburg befanden sich – für alle Einwohner wahrnehmbar – viele russische Kriegsgefangene, die, von deutschen Soldaten bewacht, vor unserem Haus in der Grenzstrasse an Kanalisationsarbeiten beteiligt waren.
Dass diese armen Kerle Hunger hatten, war wohl allgemein bekannt und rührte trotz aller Nazipropaganda doch so manches mitfühlende deutsche Herz. So wurde ich zum Verbündeten meiner Mutter in ihrem streng verbotenen Handeln, mit dem sie die Hungersnot der Kriegsgefangenen ein wenig zu mildern versuchte. „Das darf Papa um Gottes Willen nicht wissen, Klausi!“, hieß es dann, wenn sie – frisch geerntet in unserem Garten – Mohrüben, Kohlrabi, ein paar rohe Kartoffeln und sogar Kartoffelschalen. die ansonsten in den Abfall gewandert wären, klammheimlich in den vor unserer Haustür am Strassenrand gelagerten Kanalisationsröhren deponierte. Von der Veranda aus konnte sie sich dann, ganz vorsichtig von den Gardinen verdeckt, davon überzeugen, dass die Russen – ebenso vorsichtig und ängstlich agierend – die milden Gaben einer mitfühlenden deutschen Hausfrau gefunden hatten, sie an sich rafften und verstauten. Was für ein gefährliches und von Seiten meiner Mutter mutiges Unternehmen da immer wieder ablief, habe ich in voller Tragweite erst später begriffen. Meine Mutter riskierte damit Verhaftung und Gefängnis, ganz zu schweigen davon, dass sie immerhin die Ehefrau des höchsten Polizeibeamten am Orte war und somit auch er in Teufels Küche hätte kommen können…

Wie verblendet und in gewisser Weise unwissend ich damals als kleiner Junge war, ließ sich auch aus der Tatsache ablesen, dass ich mich als der Glücklichste im Lande wähnte, wenn ich am Rande besagter Bauarbeiten stolz wie Oskar neben den deutschen Bewachern herstolzierte und dabei mit der originalgetreuen Nachbildung eines Karabiners hantierte, die mir ein deutscher Soldat, der als sogenannte Einquartierung vorübergehend Gast in unserem Hause war, aus Holz geschnitzt und mit einem echten Lederriemen versehen hatte. Das Ding sah unheimlich echt aus, sogar „ein Seitengewehr“ konnte man damit aufpflanzen. Hat mir ganz enorm imponiert und ließ mich vor Stolz fast platzen, wenn ich es meinen Spielkameraden vorführen konnte.

In Treuburg begann natürlich auch meine Schulpflicht und ein wegen der Kriegsgeschehnisse gelegentlich und zwangsläufig auch unterbrochener Weg durch vberschiedene Schulen. Sieben (!) waren es an der Zahl, ich habe es mal nachgezählt. In der 1. Klasse (in der Schule gleich neben dem Flüsschen Lega) lernte ich das Alphabet noch in der sog. Süterlin-Schrift (deutschen Schrift), in der meine deutschsprachigen Vorfahren allesamt Zeit ihres Lebens geschrieben haben. Sehr bald, schon nach einem Jahr, kam die allgemeine große Umstellung, und hinfort galt es, die Buchstaben in der „Lateinischen Schrift“ zu erlernen, wie sie für uns alle heute noch gebräuchlich ist. Dem o. Umstand verdanke ich wohl auch meine Fähigkeit, die alte, längst „verstorbene“ Schrift meiner Vorfahren immer noch entziffern zu können. Das Rezept meiner Mutter für eine leckere, ostpreußische Käsetorte, die wir in einem alten, abgegriffenen Kalenderheftchen aus dem Jahre 1936 erst kürzlich entdeckten, verhalf mir somit wiederholt zu ungeahnten Erfolgen bei so manchem Gast unseres Hauses, wenn ich meine (begrenzten) Backfähigkeiten gelegentlich unter Beweis stellen konnte.“ (Übrigens: Falls Sie Lust verspüren sollten, dieses wirklich köstliche Rezept einmal
auszuprobieren, stelle ich es Ihnen gern zur Verfügung. Ein Klick auf den obigen blauen Link „Klaus Perrey“ genügt, und ab geht die Mail…)

 

Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 6:

Von einem gemalten Apfel und dem groe3ten Jagdflieger aller Zeiten

– Treuburg/Ostpreußen in den Jahren von 1940 bis 1945:

„Mein erster Schultag ist mir noch besonders gut in Erinnerung, und das hatte zwei Gründe: Der erste war die erfreuliche Tatsache, dass ich trotz aller kriegsbedingter Einschränkungen eine wunderschöne Schultüte mit allerlei süßem Schnick-Schnack erhielt. Der zweite Grund bezog sich auf meine allererste Hausaufgabe. Ein Apfel sollte gemalt werden. Nun war mir ein besonderes Zeichentalent wohl nicht in die Wiege gelegt worden, so dass diese Aufgabenstellung mir – und das bereits an meinem ersten Schultag- einiges an optimistischer Einstellung und Zielstrebigkeit abverlangte. Meine kleine Freundin Rosel (sie besuchte dieselbe Klasse) hatte ihre Schularbeiten längst erledigt und forderte mich, immer wieder ungeduldig an der Haustüre klingelnd, zum nachmittäglichen Spielen auf. Meiner Mutter wurde das allmählich zu bunt, und sie prüfte das von mir in immer wieder neuen Ansätzen auf den Weg zur absoluten Perfektion gebrachte Werk und befand es für „wirklich gut!“ Klausi war jedoch noch immer nicht mit dem Resultat zufrieden. Ritsche, ratsche…weg damit, noch ein neues Blatt! Der Zeichenblock bekam allmählich schon (Papier war knapp!) ein bedenklich schlankes Format… Meine liebe Mutter hat mir in späteren Tagen gemeinsamen Erinnerns auch von dieser einprägsamen Geschichte erzählt. Wir konnten beide keine genauen Angaben über die tatsächliche Dauer dieser Tortur machen, Fest stand aber, dass – von zunehmendem, verzweifeltem Tränenfluss begleitet – der Abend bereits nahte, als ich endlich, unterstützt von immer energischer werdenden Machtworten meiner Frau Mama, dem grausamen Spiel ein Ende setzte, die Sachen beiseite legte und nach draußen eilte. Von Rosel war zu der Zeit allerdings weit und breit nichts mehr zu sehen. Sie hatte sich für diesen Nachmittag anderen Spielkameraden zugewandt.( Frauen…!) Ja, ja, so war das schon in jüngsten Tagen: Mein Hang zum Perfektionismus hat(te) mitunter etwas Beängstigendes und machte mir mein Leben gelegentlich, aber immer wieder, schwerer, als es de facto wohl wirklich war…

Glühend von mir beneidet wurde mein großer Bruder Reinhold um seine mit Stolz zur Schau getragene, obligatorische Mitgliedschaft bei der Hitler-Jugend (HJ). Die grün-weiß geflochtene Kordel, die Führerschnur eines Fähnleinführers, war, von einer Schulter baumelnd, sichtbares Zeichen seiner Position und Funktion. Sehr früh schon, und das mit seinen jungen Jahren, nahm Reinhold an diversen Lehrgängen der Flieger-HJ (Flieger-Hitler-Jugend) teil und wußte dann stolz zu berichten von den einzelnen Sprossen seines schier unaufhaltsam scheinenden Aufstiegs zum „größten Jagdflieger aller Zeiten“! Dabei spielte es dann keine Rolle, dass es sich über den weißen Dünen der Kurischen Nehrung und der Ostsee zunächst ja nur um Segelflug handelte: Segelflugscheine A, B, C und Luftfahrerschein. Und dann – es ging viel schneller, als man es sich (aus heutiger Sicht) hätte wünschen sollen – bald wurde er dann auch schon eingezogen zum Reichsarbeitsdienst (RAD) und schließlich zum Militärdienst, zur Wehrmacht. In meiner kindlichen Begeisterung für alles Soldatische, Militärische war es damals das absolut Größte, wenn ich mit seinem Spaten (so eine Art Gewehr-Ersatz für die Reichsarbeitsdienstler, aber auch ihr Handwerkszeug beim Aufbau der Nation) den „Spatengriff“ vollführen konnte, den Reinhold mir beigebracht hatte. Das ging so ähnlich wie das Präsentieren eines Gewehrs und beeindruckte mich enorm. Ähnlich stolze Gefühle löste dann bei mir auch seine beschleunigte Ausbildung zum Flugzeugführer, zum Piloten der Deutschen Luftwaffe aus. Der Krieg brauchte neue, frische Kräfte! Sehr schnell folgte dann sein Einsatz zur sog. „Frontbewährung“ an der Westfront im von den Deutschen besetzten Frankreich.“

Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 7:

Schlimme Zeiten nahen: Die Russen kommen!

– Treuburg/Ostpreußen, 2. Halbjahr 1944:

„Aus meiner Treuburger Zeit gäbe es ja noch so viel zu erzählen, denn es waren trotz des Krieges, der natürlich allenthalben zu spüren war, alles in allem unbeschwerte Tage, Tage voller farbiger Kindheitserinnerungen, die mich gedanklich immer wieder heimholen zu meinen Wurzeln…

Noch umgab mich der betörende Duft der Pfingstrosen in unserem Garten, noch durften wir uns auf der im goldigen Abendsonnenschein liegenden, reich mit allerlei Grünpflanzen ausgestatteten Veranda am Violinspiel meines Bruders erfreuen, der von seinem Freund Günter E. auf der Ziehharmonika begleitet, romantische Gefühle aufkommen ließ…

Aber dann nahten die schlimmen, die traurigen Zeiten, die Zeiten voller Angst und Furcht vor dem, was da unerbittlich auf uns zukam, von mir damals sicher noch nicht voll zu erfassen und dennoch so bedrückend schon und beklemmend. Es begann eigentlich mit den Tagen, in denen mein Vater unermüdlich große Holzkisten zimmerte, in denen meine Mutter allerlei Hab und Gut verstaute, das irgendwann dann zur Bahn gebracht und auf eine lange Reise in vermeintlich sichere Gebiete des Reiches geschickt wurde. „Russensicher“ mussten sie sein, diese Gebiete, und von Berlin und Schlesien war die Rede. Unser gesamtes Kleinvieh wurde geschlachtet und in Weckgläsern eingekocht. Selbst Obst in Gläsern (Kirschen erinnere ich) wurde sorgsam in die Kisten gepackt und auf den Weg in die vermeintliche Sicherheit vor den Russen gebracht. Denn plötzlich wurde für uns alle auf besondere Weise immer deutlicher, dass sich der Krieg nicht irgendwo in der Ferne, an der Ostfront etwa, abspielte, sondern dass er auch für uns immer bedrohlicher näher rückte.

„Die Russen kommen!“ Das war eine Warnung, die unheimlich viel diffuse Ängste in uns auslöste, was natürlich durch die Propaganda der Nazimachthaber, wie sie vor allem durch den Rundfunk zu uns gelangte, nur noch schlimmer wurde. Die vielen „Sondermeldungen“ im Radio, stets durch dramatisch klingende Musik angekündigt, verhießen nichts Gutes. Und die Siegesmeldungen des Oberkommandos der Wehrmacht wurden von Tag zu Tag spürbar seltener…

Zwar blieben wir in Treuburg zu der Zeit von Bombenangriffen alliierter Flugzeuge verschont, aber unsere stundenlangen, nächtlichen Aufenthalte in einem zum „Luftschutzraum“ umgebauten Teil des Kellergeschosses, mit großen Holzbalken einsturzsicher gemacht, wurden immer häufiger. Und wenn die Sirenen wieder einmal mit schaurig klingendem Geheul „Fliegeralarm“ ankündigten und wir – aus dem Schlaf gerissen – die immer fertig gepackten und stets bereit stehenden Rucksäcke mit wichtigen Dokumenten und ein paar Habseligkeiten an uns rissen und in den Keller hinunter stürzten, dann war die Nacht wieder einmal vorbei… Dicht zusammen gerückt kauerten wir gemeinsam mit der Nachbarsfamilie Müller auf den Holzbänken in der feuchten und irgendwie modrig riechenden Kellerluft und lauschten auf das oft bedrohlich nahe über uns zu hörende Geräusch der die Stadt überfliegenden feindlichen Fliegerverbände. Dankbar und erleichtert waren wir immer dann, wenn aus der Ferne dumpfe Bombeneinschläge wahrzunehmen waren, denn dann waren wir ja noch einmal davon gekommen! („Wenn man es noch hört, dann wird man selbst nicht getroffen!“)

Und wenn dann endlich die Luftschutzsirenen den lang gezogenen Heulton der „Entwarnung“ über der kleinen Stadt ausbreiteten, dann ging es, schwer durchatmend, an den im Treppenhaus stehenden gefüllten Wassereimern, kleinen Sandsäcken und verschiedenen „Feuerpatschen“ vorbei, wieder ins Bettchen, das oft noch kuschlig warme.“

Oktober 1944: Die Front rueckt naeher. Werden wir evakuiert?

– Treuburg/Ostpreußen, 2. Halbjahr 1944:

„Aus meiner Treuburger Zeit gäbe es ja noch so viel zu erzählen, denn es waren trotz des Krieges, der natürlich allenthalben zu spüren war, alles in allem unbeschwerte Tage, Tage voller farbiger Kindheitserinnerungen, die mich gedanklich immer wieder heimholen zu meinen Wurzeln…

Noch umgab mich der betörende Duft der Pfingstrosen in unserem Garten, noch durften wir uns auf der im goldigen Abendsonnenschein liegenden, reich mit allerlei Grünpflanzen ausgestatteten Veranda am Violinspiel meines Bruders erfreuen, der von seinem Freund Günter E. auf der Ziehharmonika begleitet, romantische Gefühle aufkommen ließ…

Aber dann nahten die schlimmen, die traurigen Zeiten, die Zeiten voller Angst und Furcht vor dem, was da unerbittlich auf uns zukam, von mir damals sicher noch nicht voll zu erfassen und dennoch so bedrückend schon und beklemmend. Es begann eigentlich mit den Tagen, in denen mein Vater unermüdlich große Holzkisten zimmerte, in denen meine Mutter allerlei Hab und Gut verstaute, das irgendwann dann zur Bahn gebracht und auf eine lange Reise in vermeintlich sichere Gebiete des Reiches geschickt wurde. „Russensicher“ mussten sie sein, diese Gebiete, und von Berlin und Schlesien war die Rede. Unser gesamtes Kleinvieh wurde geschlachtet und in Weckgläsern eingekocht. Selbst Obst in Gläsern (Kirschen erinnere ich) wurde sorgsam in die Kisten gepackt und auf den Weg in die vermeintliche Sicherheit vor den Russen gebracht. Denn plötzlich wurde für uns alle auf besondere Weise immer deutlicher, dass sich der Krieg nicht irgendwo in der Ferne, an der Ostfront etwa, abspielte, sondern dass er auch für uns immer bedrohlicher näher rückte.

„Die Russen kommen!“ Das war eine Warnung, die unheimlich viel diffuse Ängste in uns auslöste, was natürlich durch die Propaganda der Nazimachthaber, wie sie vor allem durch den Rundfunk zu uns gelangte, nur noch schlimmer wurde. Die vielen „Sondermeldungen“ im Radio, stets durch dramatisch klingende Musik angekündigt, verhießen nichts Gutes. Und die Siegesmeldungen des Oberkommandos der Wehrmacht wurden von Tag zu Tag spürbar seltener…

Zwar blieben wir in Treuburg zu der Zeit von Bombenangriffen alliierter Flugzeuge verschont, aber unsere stundenlangen, nächtlichen Aufenthalte in einem zum „Luftschutzraum“ umgebauten Teil des Kellergeschosses, mit großen Holzbalken einsturzsicher gemacht, wurden immer häufiger. Und wenn die Sirenen wieder einmal mit schaurig klingendem Geheul „Fliegeralarm“ ankündigten und wir – aus dem Schlaf gerissen – die immer fertig gepackten und stets bereit stehenden Rucksäcke mit wichtigen Dokumenten und ein paar Habseligkeiten an uns rissen und in den Keller hinunter stürzten, dann war die Nacht wieder einmal vorbei… Dicht zusammen gerückt kauerten wir gemeinsam mit der Nachbarsfamilie Müller auf den Holzbänken in der feuchten und irgendwie modrig riechenden Kellerluft und auschten auf das oft bedrohlich nahe über uns zu hörende Geräusch der die Stadt überfliegenden feindlichen Fliegerverbände. Dankbar und erleichtert waren wir immer dann, wenn aus der Ferne dumpfe Bombeneinschläge wahrzunehmen waren, denn dann waren wir ja noch einmal davon gekommen! („Wenn man es noch hört, dann wird man selbst nicht getroffen!“)

Und wenn dann endlich die Luftschutzsirenen den lang gezogenen Heulton der „Entwarnung“ über der kleinen Stadt ausbreiteten, dann ging es, schwer durchatmend, an den im Treppenhaus stehenden gefüllten Wassereimern, kleinen Sandsäcken und verschiedenen „Feuerpatschen“ vorbei, wieder ins Bettchen, das oft noch kuschlig warme.“

Werden Schuetzengraeben den Vormarsch der Roten Armee aufhalten koennen?

– Ende 1944, Masuren, Ostpreußen:

„Im Zusammenhang mit Zeitungs- und Radiomeldungen über Gräueltaten der Roten Armee wurde immer wieder der Ortsname Nemmersdorf genannt. Es war der Ort, in dem der Bauernhof der Eltern und Großeltern meiner Mutter stand.
Und was man zunächst ungläubig als Nazi- Propaganda einordnete, wurde später (auch nach dem Kriege noch) durch erschreckende Fotos und Filmaufnahmen belegt. Die Russen hatten dort bestialisch gewütet und an der wehrlosen deutschen Bevölkerung Rache genommen für den Terror, den – das muss klar gesagt werden – zuvor deutsche Truppen in Russland verübt hatten!

So waren wir bei aller maßlosen Traurigkeit über den Verlust unserer Heimat irgendwie erleichtert und doch (auch zu jener Zeit noch!) wieder hoffnungsvoll, als wir uns – von der Partei, Polizei und von Hilfskräften der „NS-Frauenschaft“
organisatorisch trefflich umsorgt – per Bahn auf den Weg in Richtung Ermland machten, wo wir, so die Verheißungen, die blutige Zurückschlagung der Front und unsere baldige Rückkehr an den Heimatort abwarten sollten. Und in der Tat hatten wir damals durchaus noch die feste Hoffnung, dass dieser Abschied von Treuburg kein endgültiger würde sein müssen. Angst, große Angst vor einer so ungewissen Zukunft, aber immer wieder auch Hoffnung, das bestimmte unser damaliges Leben.

In der Nähe der Städte Bischofsburg und Rößel (das war im Ermland, dem katholischen Teil Ostpreußens) wurden wir zunächst für kurze Zeit bei einer Familie privat untergebracht, bis man uns auf einen Bauernhof in der Umgebung von Rößel verlegte. Dort waren wir, was die Bombardierungen anbelangte, in Sicherheit und bekamen von den freundlichen Bauersleuten auch genug zu essen, denn auf „Lebensmittelkarten“, durch die im Krieg die Versorgung rationiert wurde, war – Mutti beklagte es immer wieder – so gut wie nichts mehr zu bekommen. Andererseits wurden die Erwachsenen, und das waren natürlich überwiegend Frauen, denn die meisten Männer waren ja an der Front, dazu zwangsverpflichtet, bei der Schaffung einer befestigten Verteidigungslinie mitzuwirken. Das war, zumal für meine schwer herzkranke Mutter, schwerste körperliche Arbeit, denn mit Schaufeln und Hacken bewaffnet, mussten die Volksgenossen Schützengräben ausheben. Für den Fall, dass der Vormarsch der Roten Armee – was nach der Propaganda keineswegs zu befürchten war – dennoch nicht durch die „heldenhaften deutschen Truppen“ gestoppt werden könnte, sollten diese Gräben, in denen sich zumeist sehr schnell Grundwasser ansammelte, die Verteidigung der sog. Heimatfront sicherstellen. Ob sie die anrückenden russischen Panzer würden aufhalten können? Damals glaubten wir es tatsächlich…

Auf jenem Bauernhof bekam ich – wenn meine Erinnerung mich nicht trügt – im Alter von 10 Jahren meinen letzten „Mutzkopf“, also so etwas wie eine schallende Ohrfeige, von meiner Mutter. Und das kam so: Ich hatte mich mit einem polnischen Landarbeiter angefreundet, der kinderlieb und freundlich auch zu mir, dem „deutschen Feind“, war. Obwohl wir uns sprachbedingt nicht so gut verstanden, verstanden wir uns dennoch gut. Das führte dazu, dass er, wenn er eine kleine Zigarettenpause einlegte, auch mir gönnerhaft aus Zeitungspapier ein Zigarettchen drehte! Das Ding stank fürchterlich, denn die zu inhalierende „Tabakmischung“ hatte Tabak natürlich nie gesehen und bestand aus einer fantasievoll gefertigten Mixtur von getrockneten Kastanienblättern und sonstigen Kräutern, der mit Sicherheit keinerlei Heilwirkung zuzuschreiben war. Kurzum, den kleinen 10jährigen Klaus befiel so etwas wie eine regelrechte Sucht. Ich konnte ohne diesen stinkenden Glimmstengel nicht mehr sein und sehnte Tag für Tag die Mittagspause herbei, in der sich das „polnisch-deutsche Geheimtreffen“, von dichten Wolken dieser Spezialzigaretten umhüllt, abspielte. Das ging so lange, bis mich meine, im Augenblick allein amtierende Erziehungsberechtigte, eines Tages auf frischer Tat erwischte. Dass das nicht ohne strengste erzieherische Maßnahmen würde bleiben können, war mir natürlich sofort klar. Und so floss denn auch keine einzige Träne bei den ernsten Ermahnungsworten und bei der finalen Züchtigungs- und Disziplinierungsaktion, eben besagter letzter, mir von meiner Mutter verabreichten Ohrfeige. Für lange Zeit war ich auf diese Weise von der Sucht des Rauchens befreit.

Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 10:

Weiter fliehen wir gen Westen…

– Ermland/Ostpreußen bei Bischofsburg, Ende 1944:

„Als die Front unaufhaltsam näher rückte und der grollende Geschützdonner uns durch alle Stunden des Tages und der Nächte begleitete, kam von Seiten der Behörde der Befehl, alles für eine weitere Evakuierung vorzubereiten.Diese erfolgte dann auch recht bald, und wieder wurden wir – immer noch in großer Ordnung und allgemeiner Disziplin – zum Bahnhof befördert, wo wir uns in die überfüllten Personenzüge zwängten und darauf vertrauen mussten,dass die mitgeführten drei Kisten ebenfalls einen Platz in den angehängten Güterwagen finden würden.

Neues Ziel in Richtung Westen war nun Pommern. Dort fanden wir in Dölitz, Krs. Pyritz, einem kleinen Ort in der Nähe von Stargard, bei einem Bauern Unterschlupf. Die Gastfreundschaft der Bauersleute ließ – heute sage ich: verständlicherweise – von Tag zu Tag mehr nach. Denn wer hatte schon gern ungebetene Einquartierung fremder Leute! Was diese Menschen für uns einigermaßen erträglich machte, waren wohl nur deren eigene Ängste und die weit verbreitete, gemeinsame panische Furcht vor den „roten Horden“, den nahenden Russen.

Für wiederum einige Wochen erlebten wir an diesem fremden Ort erneut so etwas wie Normalität, durchsetzt allerdings von der ständigen Sorge um das“Morgen“. Was würde werden? Wird die Front zum Stillstand kommen? Werden die Russen aufgehalten? Können die deutschen Truppen sie zurückdrängen?Die Nachrichten im Radio predigten Zuversicht, faselten vom großen Endsieg,den Wunderwaffen, die alles, alles würden wenden können. Während des Schulunterrichts klang es immer wie ein nahendes Gewitter, aber das waren die deutschen und sowjetischen Geschütze. Man kämpfte also fast schon in unmittelbarer Nähe…

Müssen wir doch noch einmal weiter? Eine organisierte, erneute Evakuierung – das wurde verlautbart – gab es nun nicht mehr. Schlechte Zeiten das! Man musste („man“ war meine Mutter) selbst die Lage einschätzen und entscheiden, ob man bleibt oder weiter flieht. Und bei allem war Mutti auf sich selbst gestellt. Keine Verbindung mehr zu meinem Vater in Treuburg. Ober dort überhaupt noch war? War die Stadt vieleicht sogar schon „gefallen“,also von der Roten Armee eingenommen? Lebte Papa überhaupt noch? Fragen über Fragen! Längst fiel der Schulunterricht aus. Die Geschäfte schlossen eines nach dem anderen. Eine schier endlose Karawane von Pferdewagen bildete sich im Ort. Immer mehr Leute verließen Dölitz in Richtung Westen.Von einstiger Ordnung und Disziplin war nichts mehr zu spüren. Es herrschte aufgeregtes Chaos, wohin man auch schaute.

Die noch vor kurzem gesehenen Fahrzeugkolonnen mit deutschen Soldaten,die sich mit großer Geschwindigkeit gen Osten bewegten, waren nicht mehr zu entdecken. Ab und zu rollte ein deutscher Panzer rasselnd über das Kopfsteinpflaster.
Einer von ihnen hielt, von uns gut zu beobachten, neben der Kirche. Zwei Mann wuchteten einige „Panzerfäuste“ heraus und verschwanden damit in dem Gotteshaus. Was sollte das denn wohl? Später erfuhren wir, dass sich zwei MG-Schützen mit mehreren Panzerfäusten unter der Spitze des Kirchturms verschanzt hatten, um sich damit eine treffliche Position, ein gutes Schussfeld in Richtung ggf. vorbeifahrender feindlicher Kräfte zu sichern. Die würden es den Iwans schon zeigen…!“

Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 11:

Verwirrung des Geistes und allen logischen Denkens…

– Dölitz, Krs. Pyritz in Pommern, Anfang Januar 1945:

„Die Situation wurde immer bedrohlicher. Meine Mutter entschloss sich, eine letzte Fluchtgelegenheit wahrzunehmen, von der wir gerüchteweise, also keinesfalls verbindlich, erfahren hatten: Auf dem kleinen Bahnhof stand ein letzter gen Westen fahrender Zug bereit, der am nächsten Morgen starten sollte. Aufgeregt und in großer Eile packten wir unsere letzten Habseligkeiten. Sogar die besagten drei Kisten konnten auf einem Kastenwagen des Bauern verstaut werden, der uns – eine letzte Nacht konnten wir noch bleiben – dann zum Bahnhof fahren sollte. Sehr früh am Tage spannte unser Gastgeber zwei Pferde an, und los ging die Fahrt. Als wir etwa die Hälfte unseres Weges zurückgelegt hatten, begann unvermittelt und auf das Heftigste ein deutscher Panzerzug zu schießen, der – wie wir später erfuhren – auf dem Bahnhof von Schneidemühl Position bezogen hatte. Ein Drama nahm seinen Lauf: Die Pferde scheuten den heftigen Geschützlärm und gingen durch! Vom Kutscher nicht mehr zu halten, nicht mehr zu lenken, rasten die beiden aufgeschreckten Rösser und wir mit ihnen, durch die fast menschenleeren Straßen. Krampfhaft hielten meine Mutter und ich einander fest, und geschrien haben wir wohl auch. Urplötzlich verstummte der Kanonendonner für einen Augenblick. Und als der Kastenwagen endlich zum Stehen kam, hatten wir es längst entdeckt, was da passiert war: In der angesagten Eile und Aufgeregtheit hatten wir vergessen, vor dem Start den hinteren Teil des Fahrzeugs zu verschließen! Und als die Pferde durchgingen, polterte der Großteil der Ladung hinter uns auf die Straße! Und wir – oh, Verwirrung des Geistes und allen logischen Denkens! – wir machten uns doch tatsächlich daran, erst einmal alle herabgefallenen Sachen sorgsam aufzusammeln! Und erst danach setzten wir unsere Fahrt in Richtung Bahnhof fort. Und nun kam es natürlich, wie es wohl kommen sollte: Der letzte Zug, der von Dölitz aus gen Westen starten sollte, dieser wirklich allerletzte Zug war längst abgefahren… Maßlos enttäuscht, verzweifelt und voller Zorn (wohl auch ein wenig auf uns selbst) fuhren wir wieder zurück zu unserer Notunterkunft. Vielleicht fährt Morgen ja doch noch ein Zug…? Wir beteten und hofften.

Notdürftig, ohne uns auszuziehen und zumeist sitzend nur, begaben wir uns zur Nachtruhe. Ganz früh am Morgen, erneuter Geschützdonner entriss uns dem unruhigen, leichten Schlaf, ganz früh spähten wir durch die zugezogenen Gardinen hindurch aus dem Fenster und entdeckten auf der gegenüber liegenden Straßenseite – wieder ein Hoffnungsschimmer! – einen Panzerspähwagen der Wehrmacht, aus dem zwei deutsche Soldaten sprangen und in dem Postgebäude verschwanden.
Vielleicht wird es ja doch noch nicht so schlimm, wenn hier noch deutsche Soldaten sind. Um uns herum war es ganz eigenartig still… In diesem Augenblick – noch heute überkommt mich ein Schauer des Grauens – in diesem Augenblick sahen wir, wie sich, von der linken Seite kommend, mehrere russische Soldaten in geduckter Haltung und mit ihren Maschinenpistolen im Anschlag an den Panzerspähwagen heranschleichen! Mein Schreckensschrei blieb mir im Halse stecken, und plötzlich brach ein Höllenlärm los, ein Orkan von Gewehrsalven und Maschinengewehrfeuer! Der deutsche Spähwagen schoss mit quietschenden Reifen davon. Wir konnten noch wahrnehmen, wie der eine der beiden Landser in letzter Sekunde
aufspringen konnte. Wurde er wohl noch getroffen vom Kugelhagel der Rotarmisten? Wir erstarrten zu Salzsäulen! Wir konnten uns nicht von der Stelle rühren. Das Herz schlug mir ganz oben im Halse. Man konnte keinen klaren Gedanken fassen. Wir warteten ganz einfach ab, was nun wohl geschehen würde. Die Russen kommen! Nein, die Russen sind da! Ich dachte wirklich, dass wir nun wohl alle sterben müssen…!“

Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 12:

Im Chaos der ersten Stunden unter den Russen: Unvorstellbare Szenen!

– Immer noch in Dölitz, Krs. Pyritz/Pommern, Januar 1945:

„Die ersten Russen schlichen mit angelegten Maschinenpistolen auf das Haus zu. Ich schmiegte mich an meine Mutter, sie drückte mich an sich, und wir starrten mit stockendem Atem auf die geschlossene Tür zum Hausflur. Es dauerte eine ganze Weile, in der nichts geschah. Die Schießereien verebbten. Erst Stille, dann ein polternder Lärm und ein Stimmengewirr von uns fremden Lauten. Die Türe wurde krachend aufgetreten, und vor uns standen sie nun,die ersten russischen Soldaten.
Ernste Gesichter, die Maschinenpistolen auf uns gerichtet, und knarrende, barsche Stimmen in gebrochenem Deutsch:“Rrruhe! Nix Angst! Hier Soldatten?“ „Nein, nein, hier sind keine deutschen Soldaten!!“ Und wir erhoben eilig die Hände mit den weißen Bettlaken oder Tischtüchern. Wir ergeben uns, sollte das heißen. Und es wurde wohl verstanden. Denn mit der nochmaligen Aufforderung : „Rrrruhe!“ und der Weisung: „Kellerrr!“ zogen diese Russen weiter. Diese Russen! Die Betonungliegt auf „diese“! Denn was nun folgte, war schrecklich und übertraf alle Befürchtungen, die uns durch Nazi-Propaganda eingeflößt worden waren!

Konnte man angesichts der bei aller Barschheit trotzdem noch in gewisser Weise disziplinierten „Voraustruppe“ den tröstlichen Eindruck gewinnen, dass alles vielleicht ja doch nicht so schlimm werden würde, so wurde es nun wirklich sehr, sehr ernst! Wir, die Bauersleute und ihre Flüchtlings-Einquartierung, kauerten verängstigt in den verwinkelten Kellerräumen, lauschten auf den über uns immer wieder neu aufflammenden Gefechtslärm und zitterten der nächsten Begegnung mit den Rotarmisten entgegen. Und dann „quollen“ sie die Kellertreppen hinab, grölend, lärmend, besoffen. Die unvermeidliche Maschinenpistole mit dem typischen runden Magazin stets im Anschlag, torkelten sie auf uns zu. „Ruckiwerch!“ und „Dawai,
dawai!“ und“Uri, Uri!“, das waren die ersten Sprachproben, die uns diese finsteren, zerlumpten Typen vermittelten. (Ich kann, der russischen Sprache nicht mächtig, diese Laute leider nur phonetisch wiedergeben. „Hände hoch!“, „Los,los!“ und „Uhr, Uhr!“ hieß es wohl.)

Es ist mir – auch nach so vielen Jahren – nicht leicht möglich, die traumatischen Erlebnisse dieser „ersten Stunden unter den Russen“ in Worte zu fassen. Es war jedenfalls auf eine danach nie wieder erlebte Art und Weise das Schrecklichste und Grausamste, was mir in meinem Leben begegnet ist! Um der Authentizität willen möchte ich bewusst nichts verschweigen, nichts beschönigen. Es folgten, noch im Keller des Bauernhauses, schlimme, schier nicht vorstellbare Szenen: Meine Mutter
und mit ihr all die anderen im Keller mussten ihren Schmuck, den sie bei sich trugen, herausrücken, alle Uhren wechselten ihre Besitzer und – sie kannten keine Gnade! – vor unseren Augen, auch vor denen der Kinder, wurden zwei Frauen rabiat vergewaltigt! Das Schreien und Jammern, das „um Gnade flehen“ der Frauen, der Gestank der stark alkoholisierten Soldaten, die Gewehrsalven in die Decke und auf die Wände, das alles wurde nur noch übertroffen von dem markerschütternden Schrei einer älteren Frau. Ein Ring, der sich nicht von ihrer Hand lösen wollte, wurde ihr von einem stockbesoffenen und lallenden Russen durch einen gnadenlosen Schnitt mittels eines Taschenmessers entrissen. Das Blut schoss in die Gegend, und die Frau brach, wohl ohnmächtig, zusammen. Irgendjemand aus unserer Mitte versuchte, den Arm abzubinden, aber erst ein hinzu gekommener, besonnen wirkender sowjetischer Soldat verarztete die deutsche Frau und drängte den Täter mit wüsten Beschimpfungsworten und Kolbenhieben die Kellertreppe hinauf.

Von oben war nach wie vor lauter Gefechtslärm zu vernehmen. Uns wurde bedeutet, den Keller nicht zu verlassen. Die Aufregungen des Geschehens ließen uns die Zeit kurz und dennoch so unendlich lang erscheinen. Nichts zu essen, nichts zu trinken hatten wir. Das Schlimmste aber bestand darin, dass man uns keine Gelegenheit gab, unsere Notdurft zu verrichten. Es war, auch in den Folgen, unvorstellbar, was uns in jenen Stunden widerfuhr…“

Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 13:

Russische Flintenweiber feiern irre Siegesorgie

– Januar 1945, Dölitz, Krs. Pyritz (Pommern), die „ersten Stunden unter den Russen“:

„Als es dann endlich nach vielen Stunden ruhiger über uns wurde (wir kauerten ja immer noch im Keller des Bauernhauses), da war fast schon so etwas wie eine Gewöhnung an das Unabänderliche eingetreten. So empfanden wir es wie eine Befreiung, als ein russischer Offizier uns in tadellosem Deutsch die Anweisung gab, den Keller zu verlassen und uns in die oberen Wohnräume zu begeben. Endlich konnten wir nun etwas trinken, und das war viel, viel wichtiger, wir durften endlich ein Klo aufsuchen…

Ohne Pause aber setzte der Terror sich dann fort. Der Ort war wohl, das konnten wir aus den hemmungslosen Sieges- und Freudenlauten der Soldateska schließen, endgültig von der Roten Armee eingenommen worden. Wir mussten nun Zeugen einer Siegesfeier werden, die alle bisherige Vorstellungskraft sprengte. Unter dem Einfluss des immer reichlicher fließenden Alkohols tobten sich die siegestrunkenen Männer, vor allem aber auch ihre weiblichen Kameradinnen, die sogenannten „Flintenweiber“, ungehemmt aus. Als wir das von uns bewohnte Zimmer betraten, trauten wir unseren Augen nicht! Alle für unsere missglückte Flucht bereit gestellten Gepäckstücke einschließlich der schon erwähnten drei Kisten waren aufgebrochen, aufgeschnitten worden. Der Inhalt türmte sich in einem unüberschaubaren Durcheinander zentimeterhoch. Kreuz und quer lagen da Kleidung, Wäsche, Schuhe, Waschzeug. Und gekrönt wurde das Ganze durch geplatzte,auseinander gebrochene Einweckgläser, aus denen sich Reste ihrer Inhalte mit dem Gemisch der Koffer- und Kisteninhalte vermengten: Kaninchenfleisch und Gänsekeulen konnte ich ausmachen, vor allem aber saftige, dunkelrote, eingemachte Kirschen, die sich wie Blut über das chaotische Gemenge ergossen und allem zusätzlich einen schaurigen Anstrich gaben.

Dann wurden wir, von energischen Flüchen begleitet, in das gegenüber liegende sogenannte „Herrenzimmer“ bugsiert, um Zeugen einer Siegeszeremonie besonderer Art zu werden. Zwei der Flintenweiber schnappten sich – wie gesagt, nahezu besinnungslos betrunken – nacheinander die noch nicht zerplatzten Weckgläser mit dem schönen Obst aus unserem Treuburger Garten und machten damit Ziel- und Wurfübungen in Richtung des schweren, mit allerlei geschnitzten Verzierungen versehenen Herrenzimmerschrankes. Mit voller Wucht und Gebrüll schleuderten sie ihre zweckentfremdeten Wurfgeschosse durch die zersplitternden Glastüren hinein in die langen Reihen der farbig leuchtenden Gläser, bevorzugt die der schön geschliffenen „Römer“! Diverse Glas- und Porzellanplatten wurden zum Diskus, der mit schier teuflisch anmutender Hingabe und mit Geheul in das einst mit Stolz zur Schau gestellte, sicher kostbare Porzellan geworfen wurde. Vandalismus in seiner schrecklichsten und abstoßendsten Form war das wohl, und wir standen machtlos dabei! Uns, den Verlierern, während dieser sinnlosen Aktion in die erschrockenen, hilflosen Augen zu schauen und sich daran zu ergötzen, das machte für diese Frauen und für ihre Kameraden offensichtlich den besonderen Effekt ihres Siegestaumels aus und befriedigte ihre grenzenlosen Rachegelüste…

Aber es sollte noch schlimmer kommen! Plötzlich wurden wir ohne erkennbaren Grund von mehreren Russen mit Waffengewalt aus dem Haus in den Innenhof getrieben, wo man uns mit lauten Flüchen und viel unverständlichem Geschrei bedeutete, uns an die Scheunenwand zu stellen. Es musste etwas Bedeutsames vorgefallen sein, denn die Soldaten schienen außer sich. Mit schmerzhaften Kolbenhieben schob man uns mit den Gesichtern zur Wand in eine Position, die nichts Gutes verhieß, denn wir sollten – so hatte es den Anschein – erschossen werden…!!“

Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 14:

Die Russen stellen uns an die Wand…

– Immer noch der erste Tag in Händen der Roten Armee, Dölitz, Krs. Pyritz (Pommern), Januar 1945:

„Wir sollten erschossen werden, so hatte es den Anschein. Ein gebrochen Deutsch sprechender Russe erklärte uns, dass man in der Scheune zwei deutsche Soldaten entdeckt hätte, die sich dort anscheinend versteckt hatten. Und uns hielt man nun vor, dass wir das gewusst und es auf entsprechende Fragen hin verschwiegen hätten. „Nix gutt! Soldat kaputt, Frau kaputt, Kind kaputt! Russki nix kaputt!“, so tönte es über den Hof. Es gelingt mir nicht mehr, meine Gefühle, meine Gedanken, meine maßlose Angst zu beschreiben, die mich in diesen Augenblicken lähmten. Mutti riss mich an sich. Ich glaube, ich habe geweint. Und dann ging alles sehr schnell! Salven aus mehreren Maschinengewehren bellten auf. Über und neben uns zersplitterte das Holz der Scheunenwand. Und dann plötzlich war es still, ganz, ganz still… Wir hörten diese greifbare Stille um uns herum, wir staunten irgendwie. Und dann – wie ein scharfer Messerschnitt in diese Grabesstille hinein – ein gellendes, ein ungezügeltes, fast irres Lachen aus zahlreichen Kehlen hinter uns! Fast konnten wir es nicht fassen: Wir lebten! Verwirrt sahen wir uns um und blickten in eine Schar lauthals lachender Gesichter. Und uns wurde klar: Man hatte seinen grausigen Spaß an unserer Angst gehabt. Mit Fußtritten und Geschrei trieb man uns zurück in den Keller des Bauernhauses. Unseren Herzschlag hat man wohl hören müssen in diesen Augenblicken…

Mitten in der Nacht, die diesem ersten Tag unter den Russen folgte, forderte man uns plötzlich auf, sofort das Gehöft und den Ort zu verlassen. Die Aufregungen der vorangegangenen Stunden hatten uns auf dem Steinfußboden des Kellers ohnehin nicht zum Schlafen kommen lassen. So schnappte sich meine Mutter geistesgegenwärtig einen auf dem Hof stehenden Handwagen, auf den in aller Eile und in großer Hektik irgendwelche Sachen geschmissen wurden, derer wir habhaft werden konnten. Auch ein Federbett war dabei! Was Mutti gerade dazu trieb, blieb mir verborgen, denn es nahm soviel Platz weg und war von Anfang an dem einsetzenden starken Regen ausgesetzt. Als wir im Eiltempo den Hof verließen, bot sich uns auf der Straße ein unbeschreibliches Chaos. Einige Häuser brannten lichterloh. Ein stechender Brandgeruch lag in der Luft. Die Gegend wimmelte nur so von russischen Soldaten mit zum Teil sehr asiatisch anmutenden Gesichtern. Mongolen waren dabei, die uns zur Eile antrieben:“Dawai, dawai!“ „Los, los!“ oder „Schnell, schnell!“ hieß das. Im Ort selbst wurde nach vorübergehenden Phasen der Ruhe wieder geschossen, also auch gekämpft. Sicher wollte man daher die deutschen Zivilisten aus den Schusslinien haben, so dachten wir.

Wir mussten uns auf eine Ausfallstraße in Richtung Westen begeben. Bald zog ein lang gezogener Treck schweigender Menschen – teils zu Fuß, teils mit Pferdewagen, teils wie wir Handwagen hinter sich her ziehend, teils sogar mit Schubkarren – über die regennasse Strasse. Um uns herum bewegte sich- gespenstisch anmutend – ein irgendwie orientierungslos wirkender Haufen russischer Soldaten. Ihre braunen Uniformen waren verdreckt. Viele von ihnen waren verwundet und kamen nur schwerfällig voran. Es stank scheußlich nach den Abgasen, die die lärmend an uns vorbei rollenden Panzer und anderen Militärfahrzeuge absonderten. Es goss in Strömen.

Und dann traf es mich plötzlich wie ein Blitz! Ich schrie auf und war zu Tode erschrocken! Nicht unweit von unserem bisherigen Quartier fiel mein Blick auf einen offensichtlich toten Mann! Seine Beine lagen auf dem Gehweg, der Oberkörper schon auf der verschmutzten Straße, das Gesicht gen Himmel gerichtet, beide Arme weit ausgebreitet. Wir kannten ihn!“

Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 15:

Grausam: Ein Schuh im gespaltenen Schaedel

– Erste Tage unter den Russen: Dölitz, Krs. Pyritz (Pommern), Januar 1945:

„Die Beine des toten Mannes, den wir am Straßenrand fanden, lagen auf dem Gehweg, der Oberkörper schon auf der verdreckten Straße. Das Gesicht gen Himmel gerichtet, beide Arme weit ausgebreitet. Wir kannten ihn! Es war unser Schuster von nebenan. Und erst beim zweiten Hinsehen entdeckten wir geschockt, dass sein Kopf, senkrecht bis zum Hals hin, wohl von einer Axto der von einem Beil, gespalten war!! Oh, gütiger Himmel! Das Blut gerann uns in den Adern!

Es blieb nicht der einzige Tote, den wir in diesen schrecklichen Tagen zu Gesicht bekamen. Aber dieses grauenvolle Bild – einer seiner Schuhe steckte im gespaltenen Schädel des Toten – werde ich mein Leben lang nicht vergessen können! So unsagbar grausam und schockierend war es. Es machte uns alle, die wir uns ihm nicht entziehen konnten, fassungslos, hilflos, verwirrt. Meine kindliche Seele schrie…!

Ich weiß es nicht mehr genau, wie viel Kilometer es waren, die wir – uns von der Front abwendend – an diesem Tage zurück gelegt hatten. Es war Ende Januar 1945, der Schnee war getaut. Regen hatte das Regiment übernommen. Er und die unzähligen Fahrzeuge, insbesondere natürlich die vielen, alles zermalmenden Panzerketten sorgten dafür, dass von einer Straße bald nicht mehr die Rede sein konnte. Modder, Pampe hätten wir Kinder gesagt, erschwerte unser Weiterkommen. Hinzu kam behindernd, dass die Straße oder das, was von ihr noch erkennbar war, den russischen Truppen vorbehalten blieb. Wir Vertriebenen, wir Flüchtlinge hatten uns mit den nicht minder aufgeweichten und zerfurchten Seitenstreifen zwischen Straße und Strraßengraben zu begnügen. Gnaden- und rücksichtslos drängten uns die Iwans zur Seite. Und das war nicht nur lästig, sondern auch hoch gefährlich!

Wenige Schritte vor uns stockte plötzlich der Flüchtlingsstrom. Es ging nicht weiter, und es war zunächst nicht zu erkennen, was den Stau verursacht haben könnte. Es dauerte lange, bis wir die Ursache erfuhren: Ein Junge,vielleicht fünf Jahre alt, war unvorsichtigerweise nach links ausgeschert und von einem vorbei fahrenden Lastwagen erfasst worden. Aus einiger Entfernung war für uns zunächst nur wahrnehmbar, dass einer der russischen Lastwagen stoppte, der Beifahrer ausstieg und hastig
irgend ein Bündel in Höhe des vorderen Wagenteils nach einigen Schritten im Straßengraben ablegte. Dann fuhr der Wagen weiter. Großes Geschrei und Jammern der Mutter und der unmittelbar Dabeistehenden begleitete das Bemühen einiger (anderer) Russen, dem angefahrenen und schwer verletzten, unheimlich blutenden Jungen zu helfen. Ich lief neugierig nach vorne und konnte noch erkennen, dass ein Bein des kleinen Jungen – wohl vom Kotflügel des LKW – oberhalb des Knies regelrecht abgetrennt worden war und nun nur noch an einem dünnen Hautfetzen hing! Es dauerte eine Ewigkeit, bis sich ein Sanitätswagen (welch Wunder!) mühsam einen Weg durch die Menge bahnte und schließlich mit dem Verletzten und seiner Mutter verschwand.

Einige Stunden später, wir bewegten uns auf den Ort Bernstein zu, konnten wir in Erfahrung bringen, dass der kleine Junge auf Grund des zu hohen Blutverlustes im Lazarett von Bernstein verstorben war. Unmittelbar danach, der Treck musste ja weiterziehen, wurde das Opfer von seiner Mutter und ein paar Angehörigen auf einem Acker neben der Straße beerdigt. Tief gefroren war der Boden noch. Ein Kreuz, hastig zusammen gefügt aus einigen Ästen,kennzeichnete das einsame Grab.
Unfassbar das alles, aber auch das war „Woina“, auch das war Krieg!“

Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 16:

Huehner, Wodka und der Hitlergru3…

– Die ersten Tage unter den Russen, Pommern Ende Januar 1945:

„Am Abend bezogen wir provisorisch Quartier in einem direkt an der Straße liegenden alten Gasthaus, das von den Besitzern offensichtlich verlassen worden war und uns und einer ganzen Reihe von kampfesmüden Rotarmisten Unterschlupf für die Nacht bot. Meine Mutter sollte auf Geheiß der Iwans einige Hühner schlachten, die von den Besitzern im angrenzenden Stall zurück gelassen worden waren. Wie gut, dass mein Vater mich gelehrt hatte, wie man Kleinvieh vom Leben zum Tode befördert. Denn nun musste ich ran, ob ich wollte oder nicht! Denn meiner Mutter, der dieser unausweichliche Akt immer ein Gräuel war, musste ich in dieser Situation „ritterlich zur Seite stehen“. Und ich, damals gerade mal 10 Jahre alt, erledigte meine Aufgabe, auch für Mutti überraschend, mit erstaunlicher Gelassenheit. Der Job meiner Mutter bestand nun darin, die Hühner – es waren wohl vier oder fünf – zu rupfen und daraus einen Riesentopf voll guter Suppe zuzubereiten, was ihr in Ermangelung der üblichen, Würze verleihenden Zutaten sicher nicht ganz leicht fiel. Aber die Russen, die sich mit Gesang und appetitanregendem, ausgiebigem Wodka-Konsum die Wartezeit verkürzt hatten, lohnten es meiner Mutter mit anerkennenden Rufen und Schulterklopfen. Auch sie kam dabei nicht darum herum, einige (Wasser-)gläschen Wodka auf den bevorstehenden russischen Endsieg und die baldige Einnahme von Berlin mit unseren „Befreiern“ zu trinken. Deren
optimistische Prognose: „Chietlerr (Hitler) kapuhtt, Chietlerr nix guhtt! Stalin serr guhttt! Berlin kapuhtt! Woina (Krieg) kapuhtt…!“ sollte sich (wie wir erlebten) nur mit Verzögerung erfüllen. Dabei reckten sie eine Hand in die Höhe und signalisierten mit den gespritzten fünf Fingern wohl die von ihnen erwartete (und erhoffte!) Wochen- Dauer des blutigen Kämpfens. Später erinnerten wir uns an diese Szene und stellten fest, dass das unsinnige Sterben auf beiden Seiten noch mehr als drei Monate gedauert hatte! Und – ich überlegte, ob das normal sei – darüber nachzusinnen, ob diese überwiegend blutjungen Kerle den Tag des Kriegsendes und des Falls von Berlin wohl noch haben erleben können…

Das war knapp…

In jenem öden Gasthaus spielte sich übrigens noch eine Szene ab, in der ich eine unrühmliche Hauptrolle spielen sollte und die meiner Mutter, aber auch mir, fast das Herz vor Schrecken zum Stillstand gebracht hätte…

In Erwartung der von Mutti bereiteten Hühnersuppe ließen die tagesmüden Krieger – wie gesagt – ausgiebig Wassergläser, Tassen und Becher voller Wodka in ihren Reihen kreisen. Interessanterweise tranken sie dieses hochprozentige Teufelszeug unverdünnt und spülten mit Wasser nach, nicht
ohne vorher durch den Verzehr des Inhalts vieler Ölsardinen aus Büchsen für eine gute Unterlage gesorgt zu haben. In diese Augenblicke ihrer Kriegspause hinein platzte nun plötzlich ein kleiner, zehnjähriger deutscher Junge, der ihnen von seiner Mutter ausrichten sollte, dass es noch etwa eine viertel Stunde dauern könnte, bis sie dann ihren Hunger würden stillen können. Ich – besagter Junge – betrat den verqualmten und nach Alkohol stinkenden Raum und knallte – wie ich es so vom Betreten etwa meiner Schulklasse gewohnt war – die Hacken zusammen und schmetterte, die Rechte zum bekannten „deutschen Gruß“ erhoben, mein „Heil Hitler!“ in das trunkene Stimmengewirr!
Schrecksekunde nennt man so etwas, was meinem eigenen und dem Erschrecken meiner in Hörweite stehenden Mutter nach dieser Szene folgte!
Das hätte mein Tod sein können! Und so dachte ich im allerersten Moment auch wirklich, dass man mich nun wohl erschießen würde. Soviel Realismus, soviel Einschätzungsvermögen hatte sich, auch schon nach wenigen Tagen unter Fremdherrschaft, nun doch bereits in meinem Kinderhirn etabliert. Und das, obwohl ich – im Dezember gerade erst 10 Jahre alt geworden – mit großer Enttäuschung mit der für mich so traurigen Tatsache fertig werden musste, dass mit meiner sehnlichst erwarteten Aufnahme ins Jungvolk, am Tage von Hitlers Geburtstag am 20. April, nun ja wohl nichts werden würde.
Und nun stand es im Raum, dieses „Heil Hitler!“ eines verhinderten Pimpfes! Es waren sicher nur einige Sekunden, aber es wirkte auf mich wie Stunden, bis mein „Urteil“ gesprochen wurde: Der anfänglichen Totenstille folgte, einem urplötzlich aufkommenden Gewittersturm vergleichbar, krachend und unbändig, eine Lachsalve nach der anderen! Eine nicht zu erwarten gewesene Heiterkeit der versammelten, schon reichlich betrunkenen Russen- Schar breitete sich aus. Sie schlugen sich mit den Händen auf die Schenkel und auf den Tisch, dass die Gläser nur so wackelten und konnten sich gar nicht mehr beruhigen. „Du kleine Chitlerr! Du kleine Faschiist!“ tönte es immer wieder. Man schnappte mich, man herzte mich, und ich wanderte, tüchtig durchgeschüttelt, von einem Schoß auf den anderen. Aufs Höchste amüsiert wurde mir ein ums andere Mal mit hastigen, unkontrollierten Bewegungen Wodka eingeflößt! Da half kein Prusten, da half kein Husten! Aber…ich lebte!

Die Erinnerung an den weiteren Verlauf dieses Abends liegt für mich im Dunkeln… Wie meine Mutter mir später erzählte, erschien ihr die heikle Aufgabe, sich zum ersten Male in ihrem Leben um ihren „betrunkenen“ Jüngsten kümmern zu müssen, als eine vergleichbar leichte Übung! Es hätte ja wirklich schlimmer, viel schlimmer kommen können!“

Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 17:

Deutsche Tiefflieger beschie3en russischen Nachschub…und uns!

– Pommern, Anfang 1945, in der Gewalt der Roten Armee:

„Wir waren voller Ängste und bedrückt von der Vorstellung, nicht zu wissen,wohin uns unser Weg eigentlich führen würde. In den nächsten Tagen und Nächten gerieten wir einige Male zwischen die wechselnden Fronten. Ständig begleitete uns Gefechtslärm. Wie nahende Gewitter klang das, drohend und Angst einflößend.

Mal waren die Abschüsse nahe bei uns, das waren dann die Russen, die „aus allen Rohren feuerten“. Dann wieder schlugen Treffer deutscher Geschütze um uns herum ein. Fast schien es so, als könnten unsere eigenen Truppen die deutschen Flüchtlinge in unmittelbarer Nähe der russischen Nachschubkolonnen nicht ausmachen, nicht wahrnehmen. So gab es tragischerweise auch unter den deutschen Zivilisten zahlreiche Tote und Verwundete durch deutschen Beschuss!

Am schlimmsten waren die Angriffe deutscher Tiefflieger, die die Russen nur wenige Meter neben uns mit heftigem Feuer aus ihren Bordkanonen belegten. Wir bekamen unsere Köpfe gar nicht mehr hoch, so intensiv wurden die Russen von der deutschen Luftwaffe „beharkt“. Und wir hatten in dieser auch für uns recht brenzligen Situation „zwei Herzen, ach, in unserer Brust…“ Einerseits war da unbändige Freude über das Eingreifen deutscher Kräfte, die unversehens wieder ein Fünkchen Hoffnung glimmen ließ, und andererseits befielen uns Angst und Panik wegen der Gefährdung durch unserer eigenen Landsleute. Es war eine fatale Situation!

Als es wieder dunkle Nacht wurde und bei Stillstand des Trecks immer wieder betrunkene Russen sich grölend an den Frauen vergriffen und sie, häufig genug vor unser aller Augen vergewaltigten, fasste meine Mutter einen spontanen Entschluss. Im Flüsterton gab sie folgende Order:

Ein trockenes Versteck! Wir wollten uns aus Furcht vor den anhaltenden Übergriffen der Rotarmisten von der großen Gruppe absondern und uns vorübergehend in einer Feldscheune verstecken, die ca. 100 Meter entfernt rechts auf freiem Felde stand und uns wie eine rettende Insel erschien. Im Schutze der Dunkelheit konnten wir unser Vorhaben tatsächlich unentdeckt umsetzen. Ganz leise nur durften wir miteinander reden. Und wie froh waren wir, als wir in der Scheune sogar reichlich Stroh
und Heu vorfanden, was uns wunderbaren unerwarteten Schutz vor der argen Kälte und Nässe bot. Endlich konnten wir die völlig durchnässte Kleidung teilweise ablegen und sie zum Trocknen ausbreiten. Zum ersten Male nach dem Einmarsch der Roten Armee war da ein tiefes Durchatmen, und wir empfanden so etwas wie Geborgenheit.

Ganz selten nur herrschte in der Umgebung unseres Unterschlupfs wirkliche Stille. Durch die Ritzen der Feldscheune hindurch konnten wir die Scheinwerfer der Militärwagen auf der nahen Straße beobachten und gerieten immer dann in großes Zittern und Bangen, wenn die Kolonne einmal stoppte und wir befürchten mussten, dass sie oder einzelne Wagen eventuell in unsere Richtung abbiegen würden.

Das Schlimmste in den fast vier Tagen, in denen wir in diesem Versteck ausharren konnten, waren die Hustenanfälle, gegen die einige der Kinder fast ständig ankämpfen mussten. Es war grausam! Wir durften doch um Himmels Willen nicht aufgespürt werden, es hätte unseren Tod bedeuten können!

Bald quälte uns alle großer Durst…“

Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 18:

Wie eine Insel der Menschlichkeit und Naechstenliebe

– Pommern, Anfang 1945, unter den Russen, zwischen den Fronten:

„In unserem Versteck in der Feldscheune quälte uns alle großer Durst. Was wir an Trinkbarem bei uns hatten, war schnell aufgebraucht. Hunger hatten wir keinen, denn ein paar Brotreste und rohe Kartoffelstückchen reichten. Größer als der Hunger wurde dann tatsächlich der unerträgliche, quälende Durst. Im Schutze der Dunkelheit schlichen mein drei Jahre älterer Cousin Ulrich und ich uns mit allergrößter Vorsicht zu einer „Kartoffelmiete“ in einigen Metern Entfernung und schöpften ganz behutsam das trübe Wasser ab, das sich durch den Regen der letzten Stunden in den die Miete umgebenden Rinnen angesammelt hatte. Meine Mutter übernahm es dann, uns von dieser sicher nicht keimfreien, aber kostbaren Flüssigkeit teelöffelweise winzige Schlucke einzuflößen. Fürs erste war unsere Not dadurch ein wenig gelindert. Aber länger als fast vier Tage konnten wir es dann allerdings – wie gesagt – nicht mehr in unserem Versteck aushalten. Hunger und Durst steigerten sich enorm, waren stärker als unsere Furcht, und wir mussten schließlich aufgeben.

So stapften wir durch den tiefen Morast des aufgeweichten Feldweges auf die Landstraße zu und setzten mit großer Beklommenheit und Ungewissheit unseren Weg wieder fort.

Wir hatten die anbrechende Dunkelheit für unseren neuerlichen Aufbruch gewählt und gelangten schon nach wenigen Kilometern an den Rand einer Stadt, die – wie wir später feststellten – Bernstein hieß. Alles um uns herum wirkte irgendwie unheimlich und gespenstisch. Wir folgten ziellos dem Straßenverlauf und fanden uns plötzlich, es war später Abend geworden, auf dem kleinen Marktplatz des Ortes wieder. Wohin wollten wir eigentlich? Wohin sollten wir, wohin konnten wir, wohin durften wir? Der gesamte Platz war zugeparkt von russischen Militärfahrzeugen. Die Mannschaften waren abgestiegen und beschäftigten sich im Schein vieler kleiner Lagerfeuer. Von irgendwo her klang eine Mundharmonika herüber. Alles machte eigentlich einen durchaus friedvollen Eindruck, und man hatte nicht das Empfinden, dass die Soldaten sich etwa in Alarmbereitschaft befinden würden. Offenbar war die Front mittlerweile so weit entfernt, dass sie direkte Angriffe der deutschen Verteidiger nicht befürchten mussten.
Wir standen verloren am Rande des Marktplatzes, als ich ein paar Schritte von mir entfernt einen alten, bärtigen Russen entdeckte, der dabei war, von einem unförmigen Brotklumpen zu essen. Und ich hatte Hunger, großen Hunger! Ich überwand meine Scheu und ging auf ihn zu. „Klebba! Klebba, bitte!“ flehte ich ihn an. (Das russische Wort für „Brot“ hatte ich in den wenigen Tagen schon aufgeschnappt.) Unsere Blicke trafen sich, und mein Herz klopfte irre, denn wie konnte ich wissen, wie er reagieren würde… Der alte Mann in der verdreckten, braunen Uniform und der Pelzmütze auf dem zerzausten Kopf hielt inne, als würde er überlegen, ob Mitleid mit einem kleinen deutschen Jungen wohl erlaubt sei oder von seinen Vorgesetzten geduldet würde. Und dann ging ein Lächeln über sein Gesicht, das von einem schlohweißen, langen Bart bedeckt war. Er nahm seinen Brotklumpen, brach ein dickes Stück davon ab…und hob es gen Himmel! Ich sah verwirrt, wie ihm dicke Tränen in seinen Bart kullerten und hörte, wie er in einer mir unverständlichen Sprache mit erhobenem Kopf irgendwelche Worte murmelte, die wie ein Gebet klangen. Dann reichte er mir das gebrochene Brot, legte eine Hand auf meinen Kopf und schob mich, als wollte er diese Augenblicke herzlicher und mitfühlender Nähe zu einem Feinde schleunigst beenden, abrupt beiseite und verschwand in der Menge…

Diese Begegnung mit einem russischen Soldaten, der so ganz anders als die bisher erlebten war, hat mich nachhaltig beeindruckt, hat mich sehr gerührt. Da stand, wie auf einer Insel der Nächstenliebe inmitten aller Feindseligkeiten, aller Grausamkeiten, umgeben von Kriegsgetümmel und Hass, ein Mensch, ein barmherziger Mensch! Ich bin mir sicher: Er hat wirklich gebetet, als er „das Brot brach“ und es mir reichte. Nie werde ich ihn vergessen!

– Dieser Mann hat – das will ich an dieser Stelle gern einmal sagen – ganz wesentlich dazu beigetragen, dass es mir im Laufe von über sechzig Jahren gelungen ist, all die schrecklichen und unmenschlichen Geschehnisse „meiner Russenzeit“ zwar nicht zu vergessen, wohl aber, sie im milden Lichte besseren Verstehens zu betrachten. Denn eines steht ja unwiderlegbar fest: Den 2. Weltkrieg hat Hitler angezettelt. Die ersten Gräueltaten und unbarmherzigen Zerstörungen dieses Krieges sind von deutschen Truppen begangen worden! Die Sowjetunion schlug zurück. Die Russen jagten die deutschen Feinde aus ihrem Land, sie nahmen Rache…“

Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 19:

Poekelfleisch im Nachthemd oder: Mein russischer Freund, der Major

– Pommern, Anfang 1945, die ersten Tage unter den russischen Besatzern:

„Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie wir in Bernstein die Nacht nach unserer Begegnung mit dem menschenfreundlichen Russen verbracht haben. Ich weiß nur, dass wir uns – das war wie eine Erlösung, wie eine Befreiung – plötzlich abseits aller Kampfhandlungen, abseits allen Kriegsgeschehens befanden. Eine wunderbare Stille umfing uns, die nur durch das intensive und ständige Rauschen eines Baches unterbrochen wurde. Und da war, wie ich es bislang nur aus Büchern so kannte, ein großes Mühlrad, das von dem kräftigen Lauf des viel Wasser mit sich führenden Baches angetrieben wurde.
Wir waren doch tatsächlich auf einer Wassermühle gelandet. Toll! Ich vergaß für Augenblicke unsere mehr als „bescheidene“ Situation und machte mich neugierig sofort auf Entdeckungstour. Schnell hatten wir in dem an die Mühle angrenzenden Wohngebäude ein Zimmer gefunden, in dem wir uns auf dem Fußboden ein Nachtlager herrichten konnten. Wenigsten waren wir nun im Trockenen und nicht mehr so stark der feuchten Januar- Kälte ausgesetzt.

Da wurde doch tatsächlich Getreide gemahlen! Noch nie zuvor hatte ich das erlebt, wie sich die schweren Mühlsteine drehten und knarrend und knirschend die Körner zu feinem Mehl verarbeiteten. Das war spannend! Kleine Lichtblicke inmitten des sonst so traurigen und ängstigenden Kriegsgeschehens um uns herum.

Die Wassermühle und das angrenzende Wohnhaus waren offensichtlich von den deutschen Besitzern verlassen worden. Aber tatsächlich gab es wohl einige Russen unter den Soldaten, die das Handwerk eines Müllers beherrschten. Auf dem gesamten Areal wimmelte es nur so von Braunröcken, die sich hier allerdings viel friedfertiger, ja sogar freundlich verhielten. Während der fast zehn Tage unseres dortigen Aufenthaltes freundete ich mich sogar mit einem russischen Offizier, einem Major, an. Ich wich ihm selten nur von der Seite. Das bot denn auch den unschätzbaren Vorteil, ständig etwas von seinen Lebensmittelrationen ab zubekommen und in ihm, was die sich ständig wiederholenden Vergewaltigungsversuche anbetraf, einen Beschützer gefunden zu haben. Immer, wenn die Iwans „einen (oder auch mehrere) zuviel über den Durst“ getrunken hatten – und das geschah mit absoluter Regelmäßigkeit – dann mussten alle Frauen auf der Hut sein und sich in Sicherheit bringen, sofern sich dafür noch eine Möglichkeit bot. Schlimm war das alles, schlimm auch, dass ich das als zehnjähriger Junge miterleben musste!

„Mein“ Major hatte meiner Mutter und mir in gebrochenem Deutsch immer wieder versichert, dass er mich gut leiden könne und dass er mich nach Moskau mitnehmen werde, weil er selbst keine Kinder habe. Das war sicher scherzhaft von ihm gemeint und meine Mutter konnte daher auch lachen darüber. Aber als wir den Befehl bekamen, die Wassermühle zu verlassen und in Richtung Westen weiter zu ziehen, da wurde es mir bei dem Gedanken, mich von meiner Mutter und den Anderen trennen zu müssen und mit einem Sowjetmenschen gen Moskau zu ziehen, doch ziemlich „plümerant“! „Wenn Woina vorrbei!“ („…wenn der Krieg vorbei ist…“), so hieß es zwar, aber danach stand mir der Sinn denn doch nicht…
Gottseidank hatte mein kinderfreundlicher Iwan sein Versprechen bzw. seine Drohung – wie immer man das sehen wollte – mittlerweile wohl vergessen. Wir beluden unseren Handwagen mit den geretteten Resten unserer Habe und nahmen, fast wie Freunde, voneinander Abschied. „Major Iwan“ winkte uns noch nach, und weiter ging unser Weg ins Ungewisse. Plötzlich, der aufgeweichte Feldweg hatte gerade eine Biegung gemacht, hörten wir unseren russischen „Beinah- Freund“ laut hinter uns herrufen. Er gestikulierte, lief ein paar Schritte auf uns zu, deutete auf mich und befahl mir, sofort zurück zu kommen.
Meiner Mutter bedeutete er, dort stehen zu bleiben, wo sie sich gerade befand.
Mit zitternden Knien befolgte ich seinen Befehl und hatte nun doch das ungute Gefühl, dass es jetzt ab in Richtung Moskau gehen würde! Meine Mutter erzählte, dass es ihr in diesem Moment auch nicht anders gegangen sei.

Mein „russischer Kriegsfreund“ zog mich an einer Hand in den feuchten Keller hinab, ging auf einen Haufen zerknitterter, verdreckter, auf dem Boden liegender Wäschestücke zu, zog nach kurzem Suchen ein äußerst unappetitlich aussehendes Damennachthemd hervor und näherte sich einigen Holzfässern am Ende des Kellerganges. Zielsicher entfernte er den Deckel des Fasses und förderte aus seiner Tiefe, tief gebückt, drei riesengroße, glibberige Fleischstücke ans schummrige Tageslicht. „Pökelfleisch!“ Die Begeisterung meiner Mutter wollte sich, nachdem wir wieder beieinander waren, nicht legen! Ruckizucki, verpackte Iwan diese drei Fleischbatzen von ansehnlicher Größe in besagtem Damennachthemd, drehte mit geschickter Hand ein Bündel daraus und knallte mir dieses ziemlich penetrant riechende und von Salzlauge durchfeuchtete „Etwas“ auf meine „schwachen Knabenschultern“. Dann lächelte er mich an, schob mich die steile Kellertreppe hinauf und sagte etwas, was wie „Dosswidania!“ klang. Und das hieß – ich habe es später gelernt – „Auf Wiedersehen!“

Das waren Bernstein und die Wassermühle. Ich weiß nicht zu sagen, wie lange wir und wie viele Menschen mit uns sich von dieser üppigen Fleischration, dem russischen Beutegut, ernähren konnten. Dem Major der Roten Armee sei es gedankt!
Und in Moskau bin ich bis zum heutigen Tage nicht gewesen…

Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 20:

Denn sie fanden keine Herberge…

– Pommern, Februar 1945, die Russen treiben uns von Ort zu Ort…

„In der Zwischenzeit waren nun schon einige Wochen ins Land gezogen. Die Front und die Kampfhandlungen zwischen der Roten Armee und der immer mehr zurück gedrängten Deutschen Wehrmacht hatten sich von uns entfernt. Das Grollen der Geschütze und die Abschüsse aus Panzerkanonen waren nur noch gelegentlich und schwach zu hören. Es klang wie nicht enden wollende Sommergewitter. Und wann immer in diesen Tagen, auch jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, ein Gewitter heranzieht, fühle ich mich an jene Tage meines Lebensabschnittes „unter den Russen“ erinnert, die mich so stark geprägt haben.

Jene Zeitspanne meines Lebens noch einmal überdenkend, stellten wir später fest, dass wir damals, unter großer Anspannung und ständig von Furcht und Ungewissheit begleitet, schon in den ersten Tagen wohl weit über 30 – 40 km zu Fuß zurückgelegt haben mussten. Es war saukalt, und der Regen fiel unerbittlich auf uns hernieder. Nach einer teilweise durchwanderten Nacht erreichten wir nach mehreren kurzen Verschnaufpausen gegen Abend einen kleinen Ort namens Warsin. Es war ein Gutshof alter pommerscher Art und Prägung. Wir wurden nicht gerade freundlich von ihm empfangen! Die Nacht hatte die ohnehin nicht hohen Temperaturen noch mehr sinken lassen, und es goss immer noch in Strömen. Rechter Hand entdeckten wir ein großes steinernes Portal, dessen Flügeltüren verschlossen und von zwei Rotarmisten mit Maschinenpistolen bewacht waren. Wir deuteten an, dass wir Einlass begehrten, wurden aber – das war eigentlich nicht anders zu erwarten – brüsk zurück gewiesen. Nirgendwo konnten wir in der Dunkelheit etwas ausfindig machen, was uns wenigstens ein wenig Schutz vor Regen und Kälte hätte bieten können. Unsere Kleider waren durchnässt bis auf die Haut. Ich hustete wie verrückt und hatte offensichtlich Fieber, denn mein Kopf glühte wie ein Herdfeuer. Wenn man wenigstens einen Regenschirm gehabt hätte. Aber wo die wohl alle geblieben waren in diesen Chaostagen?

Unmittelbar neben dem Eingangsportal entdeckten wir plötzlich eine vielleicht 40 bis 50cm hohe Anhäufung von Pflastersteinen. Dieser kleine Hügel erschien uns – wieder einmal dieses Bild – wie eine rettende Insel!
Meine Mutter, völlig entkräftet und fast apathisch, gab das Kommando: „Hier bleiben wir!“ So erklommen wir mit steifen und durchnässten Gliedmaßen die zwar äußerst scharfkantigen, wenigstens aber annähernd trockenen Steine und kauerten uns darauf nieder, fest aneinander geschmiegt, uns gegenseitig ein wenig Wärme spendend. Das Fieber ließ es summen in meinem Kopf. Ich habe keine konkrete Erinnerung mehr daran, wie lange unsere Hügel-„Übernachtung“, in Sichtweite bewacht von zwei russischen Posten, wohl gedauert haben mag. Aber diese Stunden in einer Hilflosigkeit und Verzweiflung ohne gleichen, die haben sich – obwohl es natürlich vergleichsweise schlimmeres gab – traumatisch eingebrannt in mein Gedächtnis. Wie eine Erlösung empfanden wir es dann, als wir am frühen Morgen schließlich doch das Eingangstor, wohl auf Geheiß irgendwelcher militärischer Vorgesetzter, passieren durften.
Ein riesiger Gutshof lag vor uns. Staunend blickten wir auf diese unendlich wirkende, weite Fläche eines Innenhofes, der von einer Vielzahl verdreckter, ungepflegter Militärfahrzeuge fast vollends zugeparkt war. Eine milde Morgensonne tauchte die regennassen Pflastersteine (hier waren sie also verlegt worden…!) in glänzendes Licht. Heute weiß ich, dass dieses Glänzen uns allen damit so etwas wie einen Hoffnungsschimmer vermittelt haben muss…nach dieser durchfröstelten, nass-kalten Nacht.

Wie sich dann bald herausstellte, war das gesamte Gut überfüllt von Flüchtlingen. Wir waren heilfroh, dass man uns nicht sofort weiter trieb.
Mit Glück entdeckten wir ein Zimmer, nicht geheizt und schlecht die Luft. Unerträglich fast das Stimmengewirr vieler, vieler Leute, die sich hier auf engstem Raum und auf dem Fußboden liegend, zusammen drängten. Meine Mutter meinte, es seien mindestens an die 20 Kinder und Frauen gewesen, und das auf etwa 20 Quadratmetern! Aber wir waren froh, bleiben zu dürfen und – in des Wortes wahrster Bedeutung – ein Dach über dem Kopf zu haben.

Etwas Essbares war weit und breit nicht aufzutreiben. Man bettelte die Russen an, aber die verwiesen knallhart darauf, dass man arbeiten müsste, wenn man etwas zu essen haben möchte. „Du rabottie, du Essen!“ („Du arbeiten, du Essen!“) Aber wo konnte man hier arbeiten? Meine Mutter herzkrank und geschwächt von den Strapazen der letzten Wochen, wie auch ich. Ich hatte aber in meinem Fieberzustand ohnehin kein Hungergefühl, sondern nur Durst, Durst! Und Wasser konnte man ja Gott sei Dank kriegen.

Wir hatten gerade mal zwei Nächte auf Gut Warsin verbracht, da gab es neuen Kummer, neue Aufregung:

Ein russischer Offizier stand plötzlich in unserem Zimmer, sah sich prüfend um und zeigte auf zwei etwas ältere Jungen und auf mich: „Du mitkommen!“, ließ er durch eine ihn begleitende Dolmetscherin übersetzen. „Mein Sohn krank, Fieber, du verstehen?“, versuchte meine Mutter zu protestieren, automatisch in das radebrechende Deutsch der übersetzenden Soldatin verfallend. Es half nichts. Der Offizier packte mich unsanft und bugsierte mich und die anderen Jungs nach draußen. „Dawai! Dawai!!“ Mit einer inzwischen gezogenen Pistole verlieh er seinen Befehlen Nachdruck und tröstete: „Nix Angst, Du zurück!“ „Es wird schon nichts passieren, Mutti!“, konnte ich ihr gerade noch zurufen. Überzeugt war ich davon allerdings überhaupt nicht!

Ehe wir uns versahen, wurden wir von mehreren Händen auf einen offenen LKW geschubst, und schon ging die Fahrt los. Wir konnten kaum Halt finden auf dem dreckigen Boden der Ladefläche. Es war lausig kalt, und der Fahrtwind tat ein übriges. Was wollte man von uns? Wohin brachte man uns? Sollten wir etwa verschleppt werden, wie man es gelegentlich ja schon gehört hatte?

Wir kauerten am Boden, mehr rutschend als sitzend, rückten eng zusammen, um uns gegenseitig ein wenig zu wärmen und ruckelten (das Benzin stank ja widerlich!) durch den immer dunkler werdenden Tag einem unbekannten Ziel entgegen.
„Lieber Gott, stehe uns bei!“, habe ich wohl gebetet. Falten konnte ich meine klammen Hände dabei nicht, denn da wäre ich bei dem saumäßigen Fahrstil des (übrigens stark nach Alkohol „duftenden“) Iwans wohl gnadenlos auf die Schnauze gefallen!

Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 21:

Deutsche Schafe, russische Soldaten und deutsche Hilfsschaefer

– Anfang 1945, Pommern, auf einem Gutshof unter Russen, wir Kinder verschleppt mit unbekanntem Ziel…:

„Deftig durchgeschüttelt und uns krampfhaft einander Halt gebend zuckelten wir drei Jungen, auf der regennassen Ladefläche des Armeelasters mehr rutschend als sitzend, einem unbekanntem Ziele entgegen. Unsere Stoßgebete gen Himmel waren wohl erhört worden, denn ich staunte nicht schlecht, als man uns plötzlich bedeutete, abzusteigen und ich im Dunkel der Märznacht „unsere“ alte Wassermühle bei Bernstein erkannte! Das war ja fast so, als kämen wir „nach Hause“!

„Mein Major“, ich hielt sofort Ausschau nach ihm, war leider nicht mehr auf der Wassermühle. Nach einer Nacht im Stroh der kleinen Scheune, man hatte uns zuvor Brot, Speck und „sogar!“ Milch gegeben, erfuhren wir am nächsten Morgen, was der Grund für unseren unfreiwilligen, gewaltsamen Ausflug war: Eine Schafherde wartete darauf, von uns kindlichen Ersatz-Schäfern über mehrere Kilometer zum Gutshof Warsin getrieben zu werden! Uns war da doch recht komisch zumute, als wir – erschwert durch sprachliche Verständigungshürden – endlich begriffen, was man von uns erwartete und forderte.

Beruhigt war ich natürlich, dass es nun eine wohl berechtigte Hoffnung auf ein Wiedersehen mit meiner Mutter gab, die wir ja auf dem Gutshof zurücklassen mussten. Aber so viele Schafe zu treiben, und das über eine so weite Entfernung, wie sollte das klappen, wie würde das wohl enden? Der kleine zehnjährige Klausi als Schafhirte…!

Es hat geklappt! Der liebe Gott muss uns dabei ganz intensiv geholfen haben, denn sonst hätten wir unbedarften Jüngelchen es wohl kaum zuwege gebracht, dieser unvorstellbar störrischen, langsamen und launischen Herde kleinerer und größerer Schafe Paroli zu bieten und sie wohlbehalten an das uns vorgegebene Ziel zu bringen. Kein wendiger Schäferhund konnte uns assistieren, nur die gelegentlichen und uns immer arg erschreckenden Schusssalven aus den Maschinenpistolen der drei uns begleitenden Russen wirkten wohl einigermaßen disziplinierend auf die Herde und brachten das Unternehmen „Evakuierung einer deutschen Schafherde durch Sowjetsoldaten mit Unterstützung verschleppter, zwangsverpflichteter deutscher Kinder“ schließlich doch noch zu einem guten Ende.

Das Wiedersehen zwischen uns „heimgekehrten“ Kindern und unseren erleichterten Müttern war tränenreich und herzergreifend! Mein Fieber war übrigens verflogen…

Allmählich zog auf dem Gutshof so etwas wie gemäßigte Normalität ein. Wir durften uns in dem kleinen Ort in der Nachbarschaft des Gutes in leerstehenden, von Deutschen verlassenen Häusern nach einer geeigneten Unterkunft umschauen. Wir – das waren „Tante Tuta“, ihr Sohn Ulli, meine Mutter und ich – hatten Glück und konnten im verwaisten Haus des Försters Unterschlupf finden. Es war zwar, wie alle anderen auch, ziemlich verwüstet und trug erschreckende Spuren der rücksichtslosen und zerstörerischen Plünderungen unserer „russischen Siegermächte“. Aber das störte uns nicht, denn wir waren heilfroh, das in diesen Zeiten so überaus wichtige „Dach übe rdem Kopf“ und sogar Bettgestelle zu haben, die unsere künftigen Nächte erträglicher machen sollten. Was für ein gutes Gefühl, nicht auf dem harten Fußboden schlafen zu müssen! Das war ja geradezu Luxus pur…!“

Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 22:

Kein Zuckerschlecken – oder: Wie Diebe in der Nacht

– Unter den Russen, Anfang 1945, auf einem Gutshof in Pommern:

„Die kurzfristige Verschleppung meines Cousins Ulli und mir durch die Russen (wir mussten über einige Tage eine große Schafherde über 20 km zum Gutshof Warsin treiben) hatte glücklich geendet. Wir waren wieder bei unseren Müttern. Nun galt es, sich einzurichten in der ländlichen Umgebung. Und auf dem Gut gab es sogar Arbeit für uns. Uns Kindern (Ulli 13, ich 10 Jahre alt) fiel die verantwortungsvolle Aufgabe zu, anstelle unserer kranken und nicht arbeitsfähigen Mütter für unseren Unterhalt zu sorgen. Ulli arbeitete in der Mühle, und ich musste Kartoffeln pflanzen auf den riesigen Äckern des Gutshofes. Unser schwer erarbeiteter abendlicher Lohn bestand jeweils aus einem Wassereimer voll frischer Kuhmilch, ein großer Segen für uns alle und der Quell unseres Überlebens! Gekrönt wurden die „Tageslöhne in Naturalien“ am Ende der Woche, wenn wir uns aus der Schlachterei des Gutshofes einen Batzen Fleisch und ein paar Knochen abholen durften. Meine Mutter strahlte und wusste mit viel Fantasie und Erfindungsreichtum, und immer laaaaang gestreckt, einiges zuzubereiten, was uns vor dem Verhungern bewahrte. Nur Salz gab es nicht, und das war bitter! Viehsalz sollten wir besorgen! Das lagerte, ganz komisch rötlich schimmernd, in den Kuhställen.Ich weiß nicht, auf welche Weise unsere „Koch- und Überlebenskünstlerin“ daraus etwas gemacht hat, was unseren unverzichtbaren Bedarf an diesem so wichtigen Lebensmittel decken konnte.

Für Zucker galt natürlich ebenfalls: Fehlanzeige! Kein Zuckerschlecken also! Doch da hielt die Natur in diesem Landstrich etwas für uns bereit, was Ulli und ich uns in gemeinsamen nächtlichen Geheimunternehmungen auf illegale Weise zu beschaffen wussten. Wir haben – schlicht gesagt – Zuckerrüben geklaut! Das war zwar sogar als kriminell zu bezeichnen, hat unsere Gewissen allerdings in keiner Weise belastet. Es war Krieg, und wir wollten überleben! Gefährlich war es schon, wenn mein Cousin und ich uns in der Nacht, immer wieder russischen Wachposten begegnend, an die Zuckerrüben-Mieten heranschlichen, diese mit bloßen Händen öffneten und – soviel wir nur tragen konnten – eine Rübe nach der anderen herausklau(b)ten.

Im Schutze der Dunkelheit – eben wie Diebe in der Nacht – hasteten wir dann zurück ins Forsthaus und wurden, ein ums andere Mal, freudig und erleichtert von unseren Müttern begrüßt. Wieder mal geschafft! Und bald gab es nun erneut viel, viel Arbeit, aber auch einen süßen Duft im ganzen Hause und – das Beste! – nach langwieriger Prozedur wunderbaren, herrlich süßen Zuckerersatz: Rübensirup!

Ein Waschkessel im Keller wurde zur Produktionsstätte in der Weiterverarbeitung unseres nächtlichen Beutegutes. Aus Zuckerrüben wurde in zeitaufwendigem Bearbeitungsprozess zunächst Rübensaft und daraus dann schließlich dieser braune, sämig-sahnige, nahrhafte Sirup, den man auf so vielseitige Weise verwenden konnte. Dieses Rübenkraut, dieser Zuckerrübensirup, hat uns vor Unterernährung bewahrt und blieb – ich werde später noch darüber berichten – für lange, lange Zeit unser
Begleiter und unersetzlicher Freund! Was hätten wir, später aber auch noch andere Menschen um uns herum, ohne diesen „Lebenssaft“ nur angefangen…

Aber es waren nicht nur die Probleme unserer nur schwer ausreichenden Ernährung, die uns nun schon mehrere Wochen lang zu schaffen machten.Der Krieg dauerte an. Die Front war auf Berlin zugerückt (wie man sich erzählte), wir konnten sie akustisch nicht mehr wahrnehmen. Der Winter war kalt. Die Zustände vor Ort konnte man als ungeordnet bis chaotisch bezeichnen. Kein Rundfunk, keine Zeitung, keine verlässlichen Nachrichten. Kein Telefon, keine Post, auch nicht von unseren Angehörigen. Die Häuser des kleinen Ortes waren, oft durch Feindbeschuss in Mitleidenschaft gezogen,fast ausschließlich von Flüchtlingen bewohnt, die alle nicht wussten, wie es mit uns Deutschen weiter gehen sollte. Es gab natürlich keinen Arzt, keine Apotheke, kein einziges Geschäft…“

Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 23:

Mit Brennnesseln ausgepeitscht, auch am Tag der Herztropfen…

– Anfang 1945, auf einem pommerschen Gutshof unter den Russen,Deutschland vor dem Ende:

„Meine Mutter kränkelte, auch meiner Tante ging es nicht besser. Wir hätten nötig ärztliche Hilfe und Medikamente gebraucht. Aber woher sollten sie kommen, in diesen chaotischen Kriegstagen? Die Strapazen der Flucht und Vertreibung hatten an uns allen Spuren hinterlassen. Die Rheuma Beschwerden meiner Mutter wurden unerträglich für sie. Und kein Kraut war dagegen gewachsen. Oder doch?! In ihrer Not erinnerte sie sich daran, dass Brennnesselkraut eine lindernde Wirkung bei Rheuma Beschwerden haben sollte. Sie lag mit gekrümmten Gliedmaßen zu Bett, und niemand konnte ihr helfen, wenn wieder ein Schmerzschub sie ereilte. Da bin ich los gezogen, habe mir Handschuhe übergestreift und nach Brennnesseln gesucht. Einen halben Sack voll pflückte ich und ging mit sehr gemischten Gefühlen ins Försterhaus zurück. Das „Medikament“ besorgen, das war eine Sache. Es aber auch noch anzuwenden, oh, das ließ mein Herz doch ganz schön schneller schlagen, und ich fürchtete mich vor dem, was nun unabwendbar wurde. Wenn Mutti geholfen werden sollte… So musste ich mich halt dazu überwinden, geschützt durch meine Handschuhe, jeweils ein Bündel der frisch gepflückten Brennnesseln zu ergreifen und die Beine und Arme meiner armen Mutter damit zu bearbeiten, sie regelrecht auszupeitschen! Es war schrecklich! Mir liefen die Tränen über die vor Aufregung geröteten Wangen, und bei meiner Mutter vollzog sich gleiches,nur eben vor Schmerzen! Die auf diese Weise behandelten Hautpartien röteten sich zusehends, und meine Mutter versicherte mir überzeugend, dass sie nun keine Rheuma Schmerzen mehr verspüren würde! Was Wunder! Aber wirklich, auch die lang anhaltenden Nachwirkungen ließen diese Maßnahme zu einem Erfolg werden. Und oft noch musste ich sie daher wiederholen. Meine Mutter dankte es mir, denn selbst auf diese Weise Hand an sich zulegen, sich quasi selbst zu „kasteien“, brachte sie nun doch
nicht übers Herz, was ich durchaus verstehen konnte.

Am meisten fehlten Mutti die Herztropfen, die ihr (sie litt unter Herz-Asthma) mitunter doch Linderung ihrer Beschwerden hätten verschaffen können. Da kam ihr eine Sonderration im Rahmen meiner Entlohnung für die Arbeit auf dem Kartoffelacker gerade recht. Am 1. Mai nämlich, der vor allem von den Russen ja als „Tag der Arbeit“ gefeiert wurde, erhielten wir einen Beutel (das waren sicher an die 500 Gramm) Salz, richtiges weißes Salz! Und als Krönung noch dazu einen halben Liter Sprit,
also hochprozentigen Alkohol! Was für ein köstliches Festtagsgeschenk unserer Besatzer! Mutti war hingerissen und mixte sich aus dem reinen Fusel und irgendwelchen Kräutern, die ich nicht kannte, eine Art Likör. Sie nannte es allerdings ihre „Herzmedizin“, von der sie, auf die sparsamste Art nur, teelöffelweise, aber regelmäßig Gebrauch machte. Ich habe nie bezweifelt, dass dieses selbstgebraute Hausmittel ihr geholfen haben und – es war ihr doch zu gönnen – sicher auch einen kleinen Genuss in diesen kargen Tagen verschafft haben wird…

Die schon erwähnten nächtlichen Ausflüge von Vetter Ulli und mir hatten neben den Zuckerrüben-Mieten noch ein anderes Ziel. Sie dienten der – natürlich illegalen – Beschaffung unseres „täglichen Brotes“, um das wir den lieben Gott ja immer wieder im „Vaterunser“ baten.

Wir hatten spitz gekriegt, dass das Mauerwerk der Getreidespeicher auf dem Gutshof stellenweise ziegelsteingroße, nicht verputzte Lücken aufwies, die locker durch einen lediglich hinein geschobenen Ziegelstein verschlossen waren. Da musste man doch etwas „richten“ können…

Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 24:

Eine Delikatesse vom Misthaufen und Kolonialwaren aller Art

Anfang 1945, unter den russischen Besatzern auf dem pommerschen Gutshof Warsin, 10 Jahre alt war ich da:

„Die Lücken im Mauerwerk eines Getreidespeichers hatten es meinem Cousin Ulli und mir angetan. Er konnte mich dahingehend belehren, dass die entdeckten Lücken ehedem nach der Entfernung von Baugerüsten nicht wieder ordnungsgemäß verschlossen, also verputzt worden seien. Und zu
unserem Glück verschafften sie uns nun (heimlichen) Kontakt zum Inneren des Kornspeichers. Vorsichtig, ganz leise und behutsam, immer darauf achtend, nicht von Wachposten entdeckt zu werden, zogen wir die lockeren Steine heraus, und schon ergoss sich ein satter Strom des im Inneren
gelagerten Getreides in unsere hohlen Hände. Behende füllten wir unsere Hosentaschen damit und schlichen wieder davon. Und das einige Male im Verlauf des Abends. Dass wir später unsere Beute-Körner sogar als Roggen identifizieren konnten, war ein großes Glück für uns. Denn nun wurde in
ziemlich mühsamer Kleinarbeit der geklaute Roggen in mehreren Arbeitsgängen in einer alten Kaffeemühle (!) zu Mehl, wenn auch nicht zu sehr feinem, gemahlen. Daraus mit Hilfe eines selbst zubereiteten Sauerteigs Brot zu backen, war für unsere Mütter, die Bauerstöchter, dann kein zu großes Problem mehr. Und wir mussten nicht hungern!

Auf der ständigen Suche nach etwa Essbarem erlebten wir wahre Abenteuer. So entdeckte ich eines Tages auf einem Misthaufen (!) ein ziemlich umfangreiches, undefinierbares, fleischiges Gebilde von der Größe eines Sofakissens, das irgendwie so aussah, als könne man daraus etwas zur Stillung menschlichen Hungers machen. Sicher ist sicher, dachte ich.
Wegwerfen kann man es ja immer noch. Also überwand ich mich und schleppte dieses ziemlich aufdringlich riechende, rätselhafte Etwas heim zu unserer „Küchenchefin“. Ihrem zunächst noch etwas skeptischen „Klausi, was schleppst du denn da schon wieder an?“ folgte nach einigen prüfenden
Handgriffen ziemlich schnell der begeisterte Aufschrei: „Jungchen, das ist ja ein Kuheuter!“ Ja, und?! Konnte man das denn essen? Und ob! Mutti bemühte sich, den um sie herumstehenden hungrigen Mäulern mit schwärmerischen Worten zu vermitteln, dass dieser da auf dem Tisch vor uns liegende
Fleischklumpen selbst in guten Zeiten immer schon so etwas wie eine Delikatesse für Feinschmecker gewesen sei…! Was können wir da nicht alles draus machen, frohlockte sie und zählte auf: Zunächst wird das Ganze natürlich sorgfältig gesäubert. Dann wird es gekocht. Und da haben wir dann schon mal eine tolle Brühe! Wenn die erkaltet ist, können wir das Fett abschöpfen! Dann schneiden wir schöne dicke Scheiben ab und die werden in dem soeben gewonnenen Fett, dem einzigen uns zur Verfügung stehenden, lecker gebraten. Das schönste Schnitzel würde verblassen dagegen, bemühte
sie sich uns zu begeistern. „Kinder, das wird ein Festessen!“, jubelte sie und umarmte mich, als hätte ich ihr, gerade von der Jagd heimkehrend, einen kapitalen Hirsch zu Füssen gelegt! Was soll ich sagen: Wir zehrten lange, lange noch von meinem „Misthaufen-Fund“ und von meinem kindlichen
Wagemut! Not macht wirklich erfinderisch!

Einen Abenteuerplatz besonderer Art stellte für mich auch ein Lebensmittelladen dar, den ich bei meinen Streifzügen durch den Ort in einem von seinen Bewohnern verlassenen Haus entdeckte. Da bot sich mir ein Anblick, wie er mir bislang noch nie zu Gesicht gekommen war: Kniehoch fast türmten sich in einem unbeschreiblichen Durcheinander die unterschiedlichsten Lebensmittelreste, verklebt, vermischt, aufgeweicht und wieder getrocknet und in einer schier unerträglichen Geruchsmixtur! Da
hatten die Russen hemmungslos gewütet. Alles, aber auch wirklich alles war in zerstörerischer Wut von den Regalen gerissen und wild durcheinander auf dem Boden ausgebreitet worden: Zucker, Salz, Mehl, Grieß, Haferflocken, Sternchennudeln, irgendwelche Flüssigkeiten, die nach Essig rochen, Oel wohl auch und Waschpulver, Salzgurken, die längst verschimmelt und verfault waren, ganze Büschel von Sauerkraut und, und, und… Ich konnte längst nicht alles identifizieren, was sich da unter meinen Füssen ausbreitete und was meine Hände – in einer Mischung aus Ekel, Abscheu und Neugier – durchwühlten. Aber da war nichts mehr zu entdecken, was noch zu gebrauchen, zu verwerten gewesen wäre. Halt nur ein Abenteuer war es diesmal, was mir da auf meinen „Versorgung

Aus meinen Lebenserinnerungen, Folge 25

Der Krieg ist aus! – Berlin ist gefallen! – Hitler ist tot!

– Spätes Frühjahr 1945, unter den Russen:

„Mehrere Monate nun schon vegetierten wir dahin auf dem Gutshof Warsin in Pommern, von Tag zu Tag nur planend und in vollkommener Ungewissheit darüber, wie alles weiter gehen sollte. In gewisser Weise waren wir so etwas wie „Knechte“ der russischen Besatzer und hatten uns irgendwie mit ihnen arrangiert.
Wir waren glücklich darüber, nicht mehr um unser Leben fürchten zu müssen und von kriegerischen Kampfhandlungen nicht mehr betroffen zu sein. Wir arbeiteten hart, mein dreizehnjähriger Cousin und ich als Zehnjähriger, und bekamen dafür – wenn auch spärlich – unser Essen. Alles hatte sich irgendwie beruhigt und ließ uns die Tage gelassener erleben, obwohl es auch jetzt noch zu gelegentlichen Übergriffen der Rotarmisten kam, wenn sie – was häufig und regelmäßig der Fall war – dem Wodka über Gebühr zugesprochen hatten. Dann gab es ausgelassene Gesänge, die wohl mehr als Gegröhle einzuordnen waren, lärmende Heiterkeit und wilde Tänze. Nur zu oft endeten diese Saufgelage damit, dass sich die deutschen Mädchen und Frauen wieder verstecken und erneute Vergewaltigungen befürchten mussten. Obwohl – das hatten wir von Offizieren in Erfahrung gebracht – plötzlich „von oben“ jede Art von Belästigungen deutscher Frauen aus disziplinarischen Gründen strengstens verboten und unter Strafe gestellt worden waren.
Das brutale „Idissuda, Paninka! Spaatsch!“ (so klang es) habe ich noch heute in den Ohren. „Komm, Frau! Schlafen!“ hieß das und bedeutete höchste Gefahr für die, die sich dieser unmißverständlichen Forderung widersetzten. Für viele konnte es den Tod bedeuten, wenn Frauen „das“ nicht hinnehmen wollten, nicht hinnehmen konnten.
Sogar in unserer nächsten Umgebung war eine über 80jährige alte Dame aus der Gutsherrenfamilie das Opfer brutalsten sexuellen Missbrauchs durch russische Soldaten geworden und an den Folgen ihrer Verletzungen verstorben. Ob die Täter wirklich bestraft wurden oder ob die russische Kommandantur diese Meldung nur zur Beruhigung der einheimischen Bevölkerung und Abschreckung der eigenen Soldaten verbreitete, haben wir nie erfahren.

Das kindliche Erleben jener Geschehnisse während der letzten Kriegstage und der „Russenzeit“ verkraften, verarbeiten zu müssen, hat meine Entwicklung, meine Pubertät vor allem, in hohem Maße beeinflusst. Denn es war unmenschlich, solchen Eindrücken als Kind ausgesetzt worden zu sein. Meine „Aufklärung“ begann somit für damalige Verhältnisse sehr früh. Und ich kann es ohne Frage meiner Mutter verdanken, dass sie durch viele Gespräche gravierend nachwirkende Negativfolgen jener Geschehnisse zu steuern oder zu verhindern wusste.

Der Frühling verging, und der Krieg dauerte wohl immer noch an, so meinten wir. Denn nichts war zu hören vom russischen, vom sowjetischen Sieg über Hitler-Deutschland, den die Rotarmisten doch schon vor Monaten lauthals angekündigt hatten. Doch eines Tage im Mai 1945 ging es plötzlich wie ein Lauffeuer durch den kleinen Ort: „Der Krieg ist aus! Berlin ist gefallen! Deutschland hat bedingungslos kapituliert! Hitler ist tot!“
Die sowjetischen Soldaten, unsere Besatzer vor Ort, begingen dieses Ereignis mit lauten, ausgelassenen, hemmungslosen, tagelangen Siegesfeiern, in denen der Alkohol in schier unvorstellbaren Strömen floss, bis zur Besinnungslosigkeit!
Unsere, der Deutschen Gefühle waren in diesen Tagen sehr zwiespältig. Einerseits machte sich eine grenzenlose Erleichterung darüber breit, dass alles Elend, alle Furcht nun doch ein Ende haben müsse. Andererseits tat es weh (auch mir als 10jährigem Jungen!), besiegt zu sein, am Boden zu liegen. Hinzu kam nun noch viel stärker als zuvor die Ungewissheit darüber, wie alles nun weiter gehen würde, wie unser Leben sich weiter würde gestalten lassen…!“

– weiter zur nächsten Folge –

Aus meinen Lebenserinnerungen, Folge 26:

Der Krieg ist aus: Zurueck in die alte Heimat, Masuren?

– Auf dem Gutshof Warsin erreichte uns im Mai 1945 die Nachricht: „Der Krieg ist aus!“

„Sehr bald nach den ausgedehnten Siegesfeiern, bei denen mit allen nur verfügbaren Waffen von den siegestrunkenen russischen Soldaten in die Luft geballert wurde, verbreitete sich unter den (meist aus Ostpreußen) geflüchteten und den wenigen noch ortsansässigen Deutschen das Gerücht, dass das Gut Warsin demnächst von den Russen geräumt werden müsse. Dieser Landstrich Pommerns sollte wohl den Polen übergeben werden.

Was das für uns bedeuten würde, stellte sich sehr bald heraus: Alle Flüchtlinge mussten sich bei der russischen Kommandantur melden und registrieren lassen. Dabei wurde gefragt, woher sie kamen. Und der Befehl lautete ganz lapidar: Alle müssen in ihre Heimatorte zurückkehren, egal, ob nach Pommern oder nach Ostpreußen!
Zunächst löste dieser Befehl Freude bei uns aus. Sehr bald jedoch wurde uns klar, was das für uns Treuburger bedeuten würde.
Niemand von uns wußte etwas über das Schicksal meines Vaters, der ja als Polizist in Treuburg zurück bleiben mußte. Wo steckte er? Lebte er überhaupt noch? Wo war Reinhold, mein Bruder? War er noch am Leben? Unter wessen Herrschaft würden wir in Ostpreußen leben müssen? Wären es die Russen oder die Polen? Würde Ostpreußen wieder deutsch sein wie zuvor? – Viele Fragen, keine Antworten!
Aber meine Mutter, das „amtierende Familienoberhaupt“, fällte nach einigen Tagen und vielen (flüsternd) geführten Diskussionen eine Entscheidung. Und diese lautete: Wir wollen und können auf keinen Fall zurück nach Masuren, zurück nach Treuburg! Wir sind überhaupt keine Ostpreußen!! Wir stammen aus Berlin, von wo wir wegen der zahlreichen Bombenangriffe geflohen sind! Und dort wollen wir wieder hin!

Noch heute überkommt mich in Erinnerung an jene mutige Entscheidung meiner „zutiefst ostpreußischen“ Mutter mit ihrer so typischen ostpreußischen Sprachfärbung (mit dem breiiiiiten Errrr) ein ungläubiges Schmunzeln… Da ging diese Frau doch tatsächlich (ich war dabei) zur russischen Kommandantur und behauptete frech und ohne jede Hemmung: „Wir sind Berliner und wollen wieder in unsere Heimat zurück!“ Ihr Personalausweis, behauptete sie vorsorglich, sei ihr in den Wirren der letzten Kriegstage leider abhanden gekommen!
Dass sie dieses wichtige Dokument Tage zuvor schweren Herzens zerrissen, zerschnitten und die Fragmente im Garten vergraben hatte, durfte sie natürlich niemandem verraten. Es hätte sie ihre Freiheit, wenn nicht sogar ihr Leben kosten können! So kam es – eigentlich ohne langes Warten oder Zögern der Russen – dazu, dass wir (Mutti, Tante Tuta und ich) einen russischen Passierschein, ein lebenswichtiges Dokument, ausgestellt erhielten und uns – so die Weisung – innerhalb von drei Tagen in Richtung Berlin auf den Weg zu machen hatten.
Dieser Weg war lang, dieser Weg war beschwerlich, sehr beschwerlich! Es gab ja keinerlei Verkehrsmittel. Und so hieß es unweigerlich, „Schusters Rappen“ als Transportmittel zu wählen. Aber was heißt hier Wahl! Wir hatten ja keine. Somit lagen über 300 km eines anstrengenden Fußmarsches vor uns, bei Wind und Wetter und ohne „Wanderkarte“ oder „Routenbeschreibung“…

Unser ständiger und tagtäglich beschworener Begleiter war die Hoffnung! Die Hoffnung darauf, dass Tante Elisabeth, eine Schwester meiner Mutter, und deren Mann, Onkel Adolf, in Berlin noch am Leben sein würden. Denn diese inständige Erwartung war die Grundlage für den waghalsigen Entschluß meiner Mutter, uns waschechte Ostpreußen zu Berlinern zu machen.
Unsere Anschrift in der Reichshauptstadt (war sie das eigentlich noch?), unser Ziel war somit „Adalbertstr. 76, Berlin S.O. 36″.

Doch bevor wir drei uns auf den abenteuerlichen Weg gen Berlin-Kreuzberg machen konnten, galt es, einen großen Schock, einen gewaltigen Schrecken zu verkraften…“

– weiter zur nächsten Folge –

Aus meinen Lebenserinnerungen, Folge 27:

Von den Russen verschleppt und Woher bekommen wir einen fahrbaren Untersatz?

– Bevor wir uns Anfang Juni 1945 vom Gutshof Warsin in Pommern in Richtung Berlin zu Fuß auf den Weg machen, müssen wir erst einmal einen gehörigen Schrecken verkraften:

„In Erwartung der anrückenden Polen, die tatsächlich an die Stelle der ihre Abrückung vorbereitenden Russen treten sollten, schleppten diese in langen Wagenkolonnen alles, was nicht niet- und nagelfest war, aus dem Gutshof heraus. Nur nichts den Polen zu überlassen, das war wohl allererstes Gebot und die Parole dieser Tage kurz nach Kriegsende.
So kam es, dass u.a. auch das gesamte Vieh „evakuiert“ wurde. Selbst die schweren eisernen Ketten, die für die Nutzung von Ochsen als Zugtieren benötigt wurden, wollten die russischen Waffenbrüder nicht in die Hände ihrer anrückenden polnischen Verbündeten geraten lassen.

Und Ulli, mein 13jähriger Cousin, wurde ohne jedes Federlesen dazu verdonnert, als Kutscher eines riesigen Kastenwagens auf den zu transportierenden Ochsenketten sitzend, den Gutshof mit uns unbekanntem Ziel zu verlassen. Er wurde einfach verschleppt!
Wie in diesen Chaostagen auf die unterschiedlichste, rücksichtsloseste Weise im gesamten besiegten Deutschland von den Russen immer wieder praktiziert!
Weg war er, mein Vetter, und wir standen weinend und mit großer Ungewissheit im Herzen am Straßenrand und winkten Ulli zu, als er da, mutig und durchaus entschlossen anmutend, die Peitsche schwingend die ungelenken, trägen Ochsen an uns vorbeilenkte.
Wohin wohl und für wie lange? Niemand hatte eine Ahnung. Ulli war einfach weg!
Da flossen viele, viele Tränen bei Tante Tuta, seiner unglücklichen Mutter. Und Mutti und ich standen hilflos daneben und taten uns so schwer, zu trösten.
Ob es von meinem Cousin selbst damals nicht vielleicht doch als eine besondere Art eines Abenteuers empfunden wurde, vermag ich nicht zu sagen, kann es mir aber durchaus vorstellen, obwohl ich ihn danach hierzu nie befragt habe.

Zwei besonders große Probleme galt es damals noch zu überwinden, bevor wir uns auf unsere lange Wanderschaft machen konnten:

Das eine, das uns in seiner Tragweite zu jenem Zeitpunkt noch nicht voll bewußt wurde, war der äußerst prekäre Umstand, dass der unseren Passierschein ausstellende Russe in der Kommandantur – aus welchen Gründen auch immer – partout kein Siegel für dieses wichtige Dokument auftreiben konnte. Wohl, um die für ihn so mißliche Situation zu beenden, verwies er uns in gebrochenem Deutsch auf eine der während unseres Fußmarsches anzusteuernden Kommandanturen anderenorts. Hier sollte nach seiner Vorstellung das bürokratische Manko durch einen seiner dort tätigen Kameraden wohl geheilt werden.
Diese gutgläubige Illusion eines sich aus momentaner Verlegenheit retten wollenden „Bürohengstes“ sowjetischer Prägung sollte uns auf unserem Weg in das damals noch als „Hauptstadt des Deutschen Reiches“ firmierende BERLIN noch vor einige ungeahnte Schwierigkeiten stellen…

Das andere, wie uns schien, weitaus schwierigere Problem sahen wir in der Tatsache, dass uns für unsere „Reise“ keinerlei Transportmittel für die Mitnahme unserer wenigen Habseligkeiten zur Verfügung stand. Immerhin hatten wir, selbst während der kargen Zeit auf jenem Gutshof, inzwischen wieder soviel „Reichtümer“ des täglichen Bedarfs angesammelt, die lediglich „Huckepack“ zu transportieren, uns als ein Ding der Unmöglichkeit erschien.
Was also konnte man da machen?
Wieder mal war da mein Handeln als damals Zehnjähriger gefragt. Und ich handelte, machte mich innerhalb des Gutshofes und der gesamten Ortschaft zwischen zerschossenen Häusern, auf von Panzern aufgewühlten Wegen, vorbei an ausgebrannten Autowracks und in allen möglichen Hintergärten auf die fieberhafte Suche nach irgend einem fahrbaren Untersatz.
Und nach langem Ausschau halten und Herumstöbern wurde „Kläuschen“ tatsächlich fündig!
Gar nicht so weit voneinander entfernt entdeckte ich doch tatsächlich – reichlich klapprig und verdreckt – zwei leider unterschiedlich hohe Teile von Handwagen, einmal vorn, einmal hinten.
In diesen hektischen und aufgeregten Tagen des allgemeinen Aufbruchs der verbliebenen deutschen Bevölkerung war dies ein Gefährt, waren dies Teile eines Gefährtes von schier unschätzbarem Wert! Ich konnte mein Glück noch gar nicht so recht fassen und bugsierte schwer atmend und voller Stolz und Optimismus mein Beutegut in unsere Unterkunft.

– weiter zur nächsten Folge –

Aus meinen Lebenserinnerungen, Folge 28:

Hei3 und staubig, kalt und nass, muehsam und aufregend…

– Kurz vor unserem Aufbruch zum über dreiwöchigen Fußmarsch vom Gutshof Warsin in Pommern nach Berlin (Anfang Juni 1945) hatte ich Fragmente eines Handwagens für den Transport unserer letzten Habseligkeiten entdeckt und war heilfroh darüber!

„Mein Optimismus bezog sich natürlich auf meine Zuversicht, diese ungleichen Teile zweier Handwagen zu etwas wirklich Nutzbarem, sprich Fahrbarem, zusammenfügen zu können. Und es gelang mir tatsächlich! Mit einem für mich heute noch unfassbaren, mir inzwischen absolut abhanden gekommenen handwerklichen Geschick schaffte ich es, die beiden so gar nicht zusammen passenden Teile irgendwie miteinander zu verbinden und auf diese Weise ein „schnittiges“, höchst apart ausschauendes, geradezu futuristisch anmutendes Handwagen-Neu-Modell zu kreieren! Was Not doch alles bewirken kann. Der 10jährige Klausi als Konstrukteur!
Neben meinem Bett bzw. neben meinem Matratzenlager auf dem Fußboden stand dann „mein erster Wagen“ noch einige Tage und Nächte, wohl behütet von mir und vor Diebstahl bewahrt bis zum Tage unseres Aufbruchs zu unserer großen Wanderung nach Berlin.

Davor wurde alles, was wir noch (oder wieder) an materiellen Gütern besaßen, auf den Handwagen gepackt und so gut es ging mit zusammen geknoteten Schnurfragmenten verschnürt und festgezurrt.
Zum wertvollsten, was da auf die Reise nach Berlin gehen sollte, gehörten ohne Zweifel zwei leicht verbeulte Marmeladeneimer, randvoll gefüllt mit dem zähflüssigen Endprodukt dessen, was Vetter Ulli und ich von unseren nächtlichen Beutezügen angeschleppt hatten: Sirup aus Zuckerrüben! Dazu, in einem von Mutti kunstvoll aus Sackleinen gefertigten großen Beutel einige Pfunde des Mehls, das aus den von uns zusammengeklauten Roggenkörnern in der Kaffeemühle gemahlen worden war.
Wie wichtig diese beiden Produkte für unser und für das Überleben anderer
Menschen noch werden sollten, konnten wir damals allenfalls ahnen…
Ansonsten gab es natürlich nichts von Bedeutung oder Wert, was wir mit uns nehmen konnten, abgesehen von dem einen inzwischen leicht ergrauten Federbett, das meine Mutter bereits bei unserer Vertreibung aus dem pommerschen Dölitz geistesgegenwärtig an sich gerafft und das uns zwischenzeitlich so gute Dienste geleistet hatte.

Nach Sonnenaufgang – es war ein klarer Junitag, der heiß zu werden versprach – setzten wir drei (Mutti, Tante Tuta und ich) uns mitsamt unserem zusammengebastelten Handwagen langsamen Schrittes in Bewegung. Ich vorne weg an der Deichsel des Wagens. Mutti und Tante Tuta schoben fleißig.
Und wir hofften, immer in die richtige Richtung zu gehen! Berlin war weit, noch sehr, sehr weit…! Es waren mühsame und aufregende, strapaziöse, heiße und kalte, trockene, staubige und nasse Tage und Nächte, in denen wir uns da bei jeder Witterung und nur mit dem bekleidet, was wir am Leibe hatten, auf Landstraßen und mitunter auch auf Feldwegen entlang bewegten.
An jedem Abend versuchten wir irgend einen Ort zu erreichen, um dort in verlassenen Häusern nach einem Nachtquartier Ausschau zu halten, das uns möglichst sicher und ungestört Schlaf bieten und für das Weiterziehen am nächsten Tage neue Kräfte mobilisieren sollte.
Immer wieder unternahmen wir den Versuch, auf irgend einer der von uns angesteuerten Kommandanturen endlich diesen verflxten Stempel zu ergattern, der uns von der den Passierschein ausstellenden Ortskommandantur in Warsin versagt geblieben war. Alles Bemühen blieb jedoch erfolglos. Dabei wäre das für unser ungehindertes Weiterkommen von so großer Bedeutung gewesen, denn bei jeder Kontrolle durch russische Soldaten mussten wir uns die ständige Feststellung um die Ohren hauen lassen, dass das „Dokument nix gutt!“ sei.“

– weiter zur nächsten Folge –

Aus meinen Lebenserinnerungen, Folge 29:

Komm, Frau! Schlafen!

– Juni 1945: Auf unserem Fußmarsch von Pommern nach Berlin bereitete uns der russische Passierschein wegen eines fehlenden Siegels immer wieder Probleme…

„Die Stelle auf dem Passierschein, an der an sich das Siegel hätte prangen sollen, war schon fast schwarz geworden von den unzähligen, dieses ernsthafte Defizit monierenden „Fingerzeigen“ sowjetischer Ornungskräfte. „Dokument nix gutt!“ – Lange Zeit noch sollten diese nervenden und immer wieder Aufregung schaffenden Zwischenfälle uns begleiten.

Aber es waren leider nicht die einzigen Situationen, die uns Kummer machten auf diesem „Weg der Hoffnung“ in Richtung Berlin. Fast jede Nacht mussten wir bei unseren „Atempausen“ die Gesellschaft irgendwelcher Rotarmisten befürchten, die – meist stark unter Alkohol stehend – meine Mutter und deren Schwester belästigten. Beide Frauen versuchten dann – immer gegen Abend – vorsorglich ihr äußeres Erscheinungsbild zu verschlechtern, indem sie sich durch geschicktes Drapieren ihrer Kleidung figürlich geradezu entstellten und auch, ich glaube, sogar mit Holzkohle, ihre Gesichtszüge künstlich altern ließen. Diesem Zweck diente auch das kunstvoll tief ins Gesicht gezogene Kopftuch. Hauptsache war, unansehnlich zu wirken, älter auszusehen. Schließlich waren beide doch erst Anfang bis Mitte vierzig…

Frech und unbekümmert, wie ich als damals 10jähriger Junge war, wagte ich es ein paarmal sogar – allerdings ohne hierfür von Seiten beider Frauen je ermuntert worden zu sein – in einer Art „Vorwärtsverteidigung“ russischen Offizieren mit kindlich-wissendem Lächeln vorzuhalten, was die beiden Frauen in meiner Begleitung da ggf. des Nachts von ihren bald nur noch lallenden, alkoholisierten Untergebenen zu erwarten hätten. „Nix gutt!“ sagte ich dann mit warnendem Unterton. „Idissuda, Paninka, spatsch! Nix gutt, Kamerad!“
Und wenn die Offiziere dann erstaunt in amüsiertes Lachen ausbrachen über diesen „kleinen frechen, deutschen Hund“, dann durfte ich hoffen, dass meine Intervention vielleicht Erfolg haben könnte. Und ich fühlte mich so richtig als mutiger Beschützer meiner Mutter und meiner Tante!

Und dennoch gab es eine hochdramatische Begebenheit dieser Art, die Mutti und mich ohne weiteres das Leben hätte kosten können…
Erschöpft hatten wir eines Abends wieder einen von den Deutschen verlassenen Ort erreicht und in einem leerstehenden Haus im Erdgeschoss auf dem Fußboden ein Nachtlager errichtet. Die Nacht war empfindlich kalt, und wir wärmten einander, indem wir ganz nahe zusammenrückten unter dem mitgebrachten, schon erwähnten Federbett. Der Fußboden war hart, und Regen prasselte über uns gegen die zum Teil angebrochenen Fensterscheiben. Bald fiel ich in tiefen Schlaf, total ermüdet von den vielen Kilometern, die wir tags zuvor zurückgelegt hatten.
Plötzlich wurden wir durch polternde Geräusche im Treppenhaus aufgeschreckt und blinzelten schlaftrunken in das grelle Licht einer Taschenlampe, die vor und über uns hin und her geschwenkt wurde und deren Schein neben mir auf dem Gesicht meiner Mutter verharrte. Eine stinkende Alkoholfahne wehte uns entgegen. Sie ging vom Träger jenes Lichtkegels aus, der schwankend und mühsam lallend den berüchtigten, bekannten Ruf ausstieß: „Idissuda, Paninka! Spatsch!“ („Komm, Frau! Schlafen!“)
Wir schreckten hoch und begannen lauthals zu schreien.
Der Russe jedoch ließ nicht von uns ab, nestelte an seiner Uniform und zückte hastig eine Pistole. Wirre Schimpfworte von sich gebend, fuchtelte er mit der Waffe vor uns herum. Immer wieder brüllte er seine unflätige Aufforderung.

Mutti riss mich plötzlich an sich und schleuderte voller Angst und nun selbst schreiend dem Iwan ein verzweifeltes „…dann erschießt uns doch!“ entgegen.
Ich begriff blitzschnell, riss mich von meiner Mutter los, rappelte mich hoch und wollte fliehen.
In diesem Augenblick wurde die Tür aufgestoßen und herein stürzte jener Offizier, dem ich zuvor, halb im Scherz zwar, aber voller Erwartungsängste anvertraut hatte, wovor wir uns so fürchteten. Ebenfalls mit gezogener Pistole ging der Offizier mit wilden Flüchen auf seinen betrunkenen Kameraden los und drängte ihn mit Fußtritten aus dem Raum.
„Alles gutt! Nix mehr Angst! Wieder schlafen! Ich aufpassen!“, so drang es wie aus weiter Ferne kommend an unser Ohr…“

– weiter zur nächsten Folge –

Aus meinen Lebenserinnerungen, Folge 30:

Immer wieder Begegnungen mit dem Tod

Juni 1945, auf dem langen Fußmarsch von Pommern nach Berlin, und immer wieder der Willkür russischer Soldaten ausgesetzt:

„Ein russischer Offizier verhinderte, dass meine Mutter von einem seiner betrunkenen Kameraden vergewaltigt oder sogar erschossen wurde. „Alles gutt! Nix mehr Angst! Wieder schlafen. Ich aufpassen!“
— „Dann erschießt uns doch!“ hatte meine Mutter in der Ausweglosigkeit dieser fatalen Situation dem Unhold entgegen geschrien und mich an sich gerissen.
Aber nun war alles vorbei. Mutti war verstummt, zog mich zu sich und musste sich nun meine fassungslosen, weinerlichen Vorhaltungen gefallen lassen, mit denen ich sie meine erschrockene Verzweiflung spüren ließ: „Wie konntest du das nur sagen, Mutti! Ich will doch noch nicht sterben!“ Schluchzend lagen wir uns in den Armen. Tante Tuta kauerte immer noch verstört am Boden und war wie wir alle vollends geschockt. Der Offizier, unser Retter, redete beruhigend auf uns ein, immer wieder versichernd, dass wir nun keine Angst mehr zu haben brauchten. Langsam beruhigte sich die dramatische Szene, und wir kamen wieder zu uns. Lange, sehr lange noch lagen wir danach wach, leise miteinander redend, ja regelrecht diskutierend. Etwas neues im Umgang mit meiner Mutter, denn immerhin war ich ja gerade erst 10 Jahre alt geworden!

Diese dramatische Begebenheit hatte für viele Jahre noch zwischen mir und meiner Mutter eine besondere Art von Distanz geschaffen, die eigentlich nie so recht behoben werden konnte. „Dann erschießt uns doch!“ hatte sie geschrien und mich in diese Entscheidung einfach mit einbezogen!! Nicht, dass ich ihre Verzweifelung nicht hätte nachempfinden können. Nicht, dass ich ihr das nicht hätte verzeihen wollen oder können, dieses Mit-Verfügen-Wollen“ über mein junges Leben.
Aber da klang durch die Jahre hindurch etwas in mir nach, wobei sich in diesem Zusammenhang heute noch Regungen bei mir einstellen, die ich nicht beschreiben kann.
Muttis spätere Selbstvorwürfe, ihre eigene Fassungslosigkeit ob ihrer – wie sie es nannte – „egoistischen Hilflosigkeit“ konnten mir lange nicht über meine eigene Betroffenheit hinweg helfen. Vorwürfe habe ich ihr deshalb allerdings nie wieder gemacht, hat sie mir doch danach ständig ihre mütterliche Liebe und grenzenlose Zuwendung immer wieder bewiesen.

Auch auf andere Weise bin ich während unseres Marsches gen Berlin noch des öfteren dem Tod begegnet. Bei sengender Sommerhitze wollten wir nicht so recht vorankommen und legten am frühen Nachmittag eine längere Pause ein, um hinter einem verwaisten Haus in einem ziemlich verwilderten Garten im wohltuenden Schatten einiger Obstbäume ein wenig zu verschnaufen.
Als die Kräfte allmählich wiederkehrten, ging ich – wie es so Jungenart ist – ein wenig auf Entdeckungstour auf dem langgezogenen Grundstück. Irgendwie stank es plötzlich immer stärker, und ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Doch plötzlich schreckte ich zurück! Da lag vor mir unter einem Baum, dürftig von ein paar abgebrochenen Zweigen verdeckt, eine männliche Leiche. Nach dem ersten Schock sah ich sie mir näher an und stellte fest, dass es sich um einen offensichtlich noch sehr jungen Soldaten in deutscher Wehrmachtsuniform handelte. In der schon seit geraumer Zeit anhaltenden großen Hitze war der Leichnam bereits stark in Verwesung übergegangen. Es stank bestialisch! Und nur vom Gesumme unzähliger Fliegen stammten in diesem Augenblick die einzigen Laute um mich herum.
Es war dies eine Begegnung, die sehr diffuse Angstgefühle und Verwirrung in mir auslöste. Da tat es gut, anschließend mit meiner Mutter und meiner Tante darüber reden zu können.
Es war nicht der erste und leider auch nicht der letzte Tote, mit dem ich als junger Mensch in den letzten Tagen des Krieges und unmittelbar danach konfrontiert wurde. Aber dieses Erlebnis hat sich traumatisch in mir festgesetzt. Ich werde es nie vergessen können.“

– weiter zur nächsten Folge –

Aus meinen Lebenserinnerungen, Folge 31:

Russen jagen polnische Waffenbrueder

Auf dem Fußmarsch von Pommern nach Berlin hatten wir im Juni 1945 so einiges zu erleben…

„Wir waren nun schon mehr als eine Woche lang unterwegs. Das Wetter war überwiegend sommerlich warm, was sich natürlich nicht unbedingt
kräfteschonend auswirkte. Wir legten deshalb immer häufiger lange Pausen über die Mittagszeit ein und setzten dann bis tief in den Abend hinein unseren anstrengenden Weg fort. Schlimm und gefürchtet waren immer die recht zahlreichen Gewitter! Wenn wir nicht mehr rechtzeitig Schutz vor dem kräftig einsetzenden Regen finden konnten und bis auf die Haut durchnässt wurden, dann bedeutete das regelmäßig, dass wir unsere Kleidung am Körper trocknen lassen mussten.
Mehr als das, was wir am Leibe trugen, besaßen wir ja leider nicht. Das waren schreckliche Zustände, und wir ahnten wohl, wie unserer Gesundheit damit zugesetzt wurde… Aber, was hätten wir daran ändern können?
Gebetet haben wir zu Gott, dass er uns Kraft und Geduld schenken möge und wir vor Krankheit bewahrt bleiben würden. Sehr häufig waren es nur kleine und kleinste Dörfer und Flecken, die wir auf unserem Weg in die große Stadt Berlin durchwanderten. Oft konnte man die nächste Ortschaft schon wahrnehmen, wenn man gerade erst eine andere verlassen hatte. Namen fallen mir natürich keine mehr ein.
Eine Ausnahme war da Frankfurt an der Oder, denn dieser Ort war so etwas wie ein Meilenstein auf unserem „Hoffnungsmarsch“. Bis dahin aber, so war unser Gefühl, hatten wir wohl noch eine lange Strecke zurückzulegen. Als großes Glück empfanden wir es, wenn die Straße – was Gott sei Dank des öfteren der Fall war – von Bäumen gesäumt war, die durch ihre Schatten unser Ausschreiten begünstigten, trotz der schmerzenden Füße, die von Tag zu Tag „schwerer“ wurden.

Eines Tages, es war noch früh am Vormittag, kam uns mit hoher Geschwindigkeit ein Militärjeep entgegen. Zunächst rauschte der Wagen an uns vorbei, hielt dann jedoch mit quietschenden Bremsen. Zwei Uniformierte – es waren polnische Soldaten, die wir an ihren typischen eckigen Schirmmützen mit dem polnischen Adler erkennen konnten – stürzten sich wortlos auf uns, stießen uns rabiat zur Seite und machten sich – ihr Handeln war unmissverständlich – gierig über unseren Handwagen her. Das war eindeutig eine der berüchtigten Plünderungen, denen wir „Kriegsverlierer“ in jenen Tagen immer wieder ausgesetzt waren!
Leidensgenossen von uns hatten darüber berichtet und uns für solche Fälle geraten, aus Leibeskräften zu schreien, was das Zeug hält. An diesen Ratschlag denkend, vor allem aber wohl aus purer Angst und Hilflosigkeit, begannen wir drei also aus Leibeskräften zu schreien! „Hilfe! Hilfe!“ – Wer aber hätte uns wohl hören können und uns helfen wollen?
Zunächst wohl doch ein wenig irritiert, zog der eine Pole plötzlich seine Pistole und fummelte uns damit vor unseren Nasen herum. Sein Kamerad allerdings zeigte sich von unserem Gebrülle keineswegs beeindruckt und durchwühlte wie wild unsere spärlichen Habseligkeiten. Einer der beiden Marmeladeneimer (mit dem kostbaren Sirup) krachte dumpf auf den Straßenasphalt, blieb aber gottlob verschlossen. Er schien die beiden Plünderer auch nicht zu interessieren.
„Woo Geld? Woo Dokument?“ Unseren lebenswichtigen Passierschein trug meine Mutter unter ihrer Bluse, unter ihrem Herzen quasi. Da war zunächst wohl nichts zu machen. Und da die beiden Typen partout nichts fanden, was sie wohl zu finden gehofft hatten, wurden sie immer wütender, lauthals polnisch fluchend. Der mit der Pistole trat plötzlich nach mir, weil ich versucht hatte, den herunter gepurzelten Sirupeimer wieder aufzurichten.

Und dann – es war wie ein Wunder – brauste unvermittelt wie ein Blitz aus heiterem Himmel ein weiteres Militärfahrzeug auf uns zu. Deren Insassen wussten unsere Hilferufe offensichtlich spontan richtig einzuordnen und die Situation zu deuten. Wir brüllten immer noch, und nun umso mehr und umso lauter!
Mit gezückten Pistolen liefen, wie wir nun erkennen konnten, zwei russische Soldaten auf uns zu und schrien etwas, was wir nicht verstehen konnten. Wollten sie uns helfen?“

– weiter zur nächsten Folge –

Aus meinen Lebenserinnerungen, Folge 32:

„Der grausamste Feldzug aller Zeiten“, sagen Historiker

Auf unserem Fußmarsch (Juni 1945) von Pommern nach Berlin überfallen uns polnische Soldaten und plündern, aber russische Offiziere helfen uns!

„Die beiden polnischen Plünderer hatten offensichtlich schnell begriffen, was die beiden russischen Offiziere ihnen entgegen brüllten. Sie stoben auseinander und ergriffen mit langen Schritten die Flucht. Ab durch die Mitte und mit Affenzahn hinein in ein Kornfeld, das sie – so sah es aus – wie ein wogendes Meer verschluckte. Und auf ging die wilde Jagd! Wie irre hinter ihren polnischen Kampfgenossen her schießend hetzten die beiden sowjetischen Offiziere die Übeltäter und konnten sie tatsächlich auch sehr bald stellen.
Es war schon ein seltsames Bild, das wurde auch mir schon damals klar: Mit erhobenen Händen wurden nun die Plünderer zu uns gebracht und mussten uns mit Handschlag um Verzeihung bitten! Ein paar saftige Fußtritte ihrer russischen Kameraden forderten sie auf, unseren durchwühlten Handwagen wieder neu zu bepacken und zu verschnüren! „Dawai, dawai!“ hieß es dann, und mit einem wie ein abschließendes Signal wirkenden, in die Luft geballerten Schuss wurde diese aufregende und schließlich für uns doch noch glimpflich verlaufene Szene durch unsere russischen Retter beendet.

Die Polen machten sich auf die Socken, und wir blieben, voller Angst, dass sie umkehren und sich an uns rächen könnten, zurück. Bevor auch die Sowjets ihren Weg in Richtung Berlin fortsetzten, versuchten sie, uns radebrechend und gestenreich klarzumachen, dass wir keine Angst zu haben brauchten. Sie würden schon aufpassen, sonst…. und der eine von ihnen zückte noch einmal seine Armeepistole und hielt sie sich an den eigenen Kopf… sonst „Peng!“, das sollte das wohl heißen. Da konnte man nur hoffen und beten!

Heilfroh, diese brisante Situation unbeschadet überstanden zu haben, setzten wir schließlich, tief durchatmend, aber immer noch wie gelähmt, mit bleiernen Beinen unsere Reise fort. Das war noch einmal gut gegangen! Die Besonderheit dieser entschlossenen Hilfsaktion zweier sowjetischer Soldaten zu Gunsten dreier deutscher Feinde und gegen polnische Waffenbrüder gerichtet… diese Ausnahmesituation wurde uns schon damals deutlich und ließ – bereits zu jenem Zeitpunkt – tief blicken. Das konnte, rückwirkend und in Bezug auf das sowjetisch-polnische Verhältnis betrachtet, ohne weiteres als ein Ereignis von symptomatischer Natur gewertet werden.

Ob diese Geschichte noch eine Fortsetzung hatte? Oh ja! Nach ca. einer Stunde kam uns der Jeep mit den beiden Russen in einem kleinen Dorf wieder entgegen. Sie hielten an und erkundigten sich freundlich, allerdings mehr mit Händen und Füssen als mit Worten, ob alles in Ordnung sei. Und nachdem wir ihnen mit Gesten bedeutet hatten, wie dankbar wir ihnen seien, fuhren sie winkend davon… wie Freunde fast!

Wenn man in meinen Erinnerungen hin und wieder auch von Episoden obiger Art liest, fällt es einem unter Umständen nicht leicht, nachzuvollziehen, als wie grausam und unmenschlich die Geschehnisse in der „Russenzeit“ letztendlich auch von uns empfunden und erlitten wurden. Da „menschelte“ es zwar hin und wieder, aber insgesamt wurde der Einmarsch der Roten Armee in Ostpreußen von Historikern objektiv als der grausamste Feldzug aller Zeiten eingeordnet. Voller Hass auf die faschistischen Deutschen wurden in der Roten Armee die (verständlichen) Rachegelüste der Soldaten angestachelt und von der Heeresleitung anfänglich sogar ausdrückliche Genehmigung für Vergewaltigungen und Tötung auch von Zivilisten erteilt!

Seinen schrecklichen Anfang nahm alles in Nemmersdorf, dem kleinen Heimatdorf meiner Großeltern mütterlicherseits, wo gleich zu Beginn des sowjetischen Einmarsches über 80 deutsche Frauen und Mädchen auf schändliche und bestialische Weise vergewaltigt und ermordet worden sind! (Ich habe später Fotos von den Leichen der geschändeten Frauen gesehen!) Bei diesem, später auch von der Sowjetunion nicht geleugneten Tatbestand war es nicht verwunderlich, dass sich die deutsche Propaganda in der Endphase des Krieges begierig auf diese Gereultaten stürzte und sie propagandistisch ausschlachtete.“

– weiter zur nächsten Folge –

Aus meinen Lebenserinnerungen, Folge 33:

Quaelend langsam naehern wir uns unserem Ziel BERLIN

– Juni 1945: Auf unserem Fußmarsch von Pommern nach BERLIN…:

„Nach dem Ende des 2. Weltkrieges galten lt. Angaben des Statistischen Bundesamtes von 1958 insg. 387.000 Deutsche als „Nachkriegsverluste“ im einst deutschen Osten, d.h. sie wurden als von den Sowjets ermordet eingestuft, sind in Lagern verhungert, in Verschleppung umgekommen oder vermisst. Und all das lief unter der Bezeichnung „Ethnische Säuberung“!

Dass wir, unsere ganze Familie, aber im besonderen meine Mutter und ich, das alles, körperlich und seelisch zwar ziemlich ramponiert, aber lebend überstanden haben, grenzt an ein Wunder! Jeden Tag aufs Neue müsste man Gott dafür danken! Unser quälend langsamer Fußmarsch vom pommerschen Gutshof Warsin kam nun schon in die dritte Woche. Mutti notierte sich unsere jeweiligen Etappen und die dabei zurückgelegten, mehr oder weniger geschätzten Kilometer und die Daten der einzelnen Wochentage mittels eines kurzen Bleistift Stumpfes auf einem schon arg zerknitterten Zettel. Über den Luxus eines Kalenders verfügten wir leider nicht.

„BERLIN 99 km“! – Zum ersten Male entdeckten wir inmitten eines kleinen Ortes, dessen Name ich vergessen habe, am Straßenrand ein großes gelbes Richtungsschild, das große Freude in uns auslöste und sich so auswirkte, als würden wir von unsichtbaren Helfern plötzlich vehement angeschoben mit unserem Handwagen! Das verbogene Schild trug zahlreiche Einschusslöcher und lautete eigentlich nur „BER… 99 km“. In siegestrunkenen Sowjetsoldaten müssen auf ihrem Vormarsch gen Berlin beim Anblick des Straßenschildes wahrscheinlich ähnliche Anschubkräfte spürbar geworden sein und ihre anspornende Freude sich dabei in Begeisterungssalven aus ihren Maschinenpistolen entladen haben, die just das „…LIN“ durchbohrten, das uns nun fehlte.
Aber, wie gesagt, auch diese Fragmente reichten aus – fantasiebegabt, wie wir nun mal waren – neue Kräfte in uns zu mobilisieren. Für eine geraume Zeit waren Müdigkeit und Erschöpfung wie verflogen, taten die wunden Füße nicht mehr so weh und rollte unser Transportgefährt plötzlich so leicht, als seien die Räder gerade erst frisch geölt worden! Das Ziel unseres Marsches rückte nun immer näher. Wir würden es schaffen, das glaubten wir nun alle und wanderten mit neu gewonnenen Kräften und neuem Optimismus weiter, immer geradeaus, immer der Straße nach…

Und fast mit Händen zu greifen, so nah, so mutig machend und anspornend, sahen wir von einer Anhöhe, sicher nur noch wenige Kilometer entfernt, wie sich ein in der grellen Sonne glitzernder Fluss durch die Landschaft schlängelte: Das musste die Oder sein! Und die Stadt an ihren Ufern, das war dann wohl Frankfurt an der Oder! Damit lag ganz unversehens ein ganz wichtiges Etappenziel vor uns. Und bis Berlin waren es nun wohl nur noch an die 70 bis 80 Kilometer! Es war fast so, als wären wir schon am Ziele unserer mühsamen Wanderschaft, so warm wurde uns ums Herze und so beflügelnd wirkte dieser unvergessliche Blick auf die Stadt am Fluss da unten. Von Frankfurt/ Oder selbst erinnere ich eigenartigerweise nicht sehr viel.
Eingeprägt haben sich nur die Freundlichkeit, die Aufgeschlossenheit, mit der wir erstmals auf unserem Wege nach Berlin von deutschen Menschen begrüßt, ja empfangen wurden. In der Turnhalle einer Schule fanden wir Schutz vor der Sonne, eine Gulaschkanone (eine Feldküche) verbreitete auf dem von vielen Menschen belebten Schulhof einen herrlichen Duft nach irgendeinem Eintopf, der später als Erbsensuppe unsere hungrigen Mägen verwöhnte. Wie lecker, wie lange schon entbehrt…
Hier sah manches schon wieder so aus, wie man es von früher gewohnt war: Alles wieder mit typisch deutschem Organisationsdrang vorbildlich geregelt. Alles hatte seine Ordnung , und die Speisung der unzähligen Flüchtlinge lief ab wie am Schnürchen.“

– weiter zur nächsten Folge –

Aus meinen Lebenserinnerungen, Folge 34:

Meine pfiffige Mama, die ostpreu3ische Berlinerin

– Juni/Juli 1945: Auf unserem Fußmarsch von Pommern nach Berlin haben wir endlich Frankfurt/ Oder erreicht.

„Hier schien alles wieder nach typisch deutscher Art vorbildlich geregelt und organisiert zu sein. Dazu gehörte auch, dass man, bevor jeder einen Schlag Suppe zugeteilt bekam, sich in eine Schlange einzureihen hatte, an deren Ende man zunächst mit einem Fetzen Papier oder Pappe versehen wurde. Ein Stempel des Roten Kreuzes wies darauf die Suppen-Empfangsberechtigung aus. Ein Stempel! Ein wunderschöner, eindrucksvoller Stempel!
Da war doch noch was!? Natürlich! Unser „nix-gutt-Dokument“ von der russischen Kommandantur in Warsin, nix gutt, weil ohne Stempel! Sie erinnern sich? Wenn das keine Gelegenheit war! Mama hatte einen Geistesblitz, Mama handelte ohne jedes Zögern! Und nach einem kurzen, informierenden Hinweis für die stempelnde Rot-Kreuz-Schwester krachte der schöne runde Rote-Kreuz-Stempel auf die so oft von russischen Kontrolleuren beanstandete leere Stelle in unserem Passierschein!
Für den Rest unseres Weges nach Berlin besaßen wir nun endlich ein perfektes, ein makelloses Dokument mit allem offiziellem Drum und Dran. Hinfort gewährleisteten russische Schriftzüge und deutscher Stempel unser ungehindertes Weiterkommen. Und das dank eines pfiffigen Gedankens meiner Frau Mama, der „ostpreußischen Berlinerin“. Sie hatte doch unlängst ziemlich dreist und mutig in allerbreitestem ostpreußischen Dialekt auf der russischen Kommandantur behauptet, sie sei Berlinerin und wolle wieder heim…!

Nach einer Nacht auf den in der Turnhalle bereit liegenden Strohsäcken, einem morgendlichen heißen Getränk, das wie Tee oder vielleicht doch wie „Muckefuck“ (Kaffeeersatz) schmeckte, setzten wir unseren Weg fort. Nun begann so etwas wie ein „Endspurt“.

Auch mir als zehnjährigem „Pimpf“ war auf eine ziemlich bedrückende Weise klar, dass uns eine ganz besonders wichtige und entscheidende Phase unserer Wanderschaft bevorstand. Wenn wir denn – was ja nun wohl mit einiger Berechtigung zu erwarten war – das Ziel unserer Flucht/ Vertreibung aus dem Pommerland heil erreichen würden, was war dann, wie sollte es dann weitergehen? Würden unsere Verwandten, Muttis Schwester Elisabeth und ihr Mann Adolf noch leben? Würde das Haus, in dem sie wohnten, überhaupt noch stehen?
Oder waren sie wie Tausende in jener Zeit ebenfalls „ausgebombt“, ihre Wohnstatt durch unentwegte Luftangriffe der Alliierten und durch den Beschuß der Roten Armee auch zerstört worden? Bange Fragen, bange Erwartungen und dennoch Hoffnung, die uns vorantrieb, die uns durchhalten ließ…
Berlin rückte immer näher. Plötzlich waren wir nicht mehr die Einzigen, die sich durch die Sommerhitze mühsam in Richtung Reichshauptstadt bewegten. Ja, es gab zeitweise so etwas wie ein „Endspurt-Gedränge“. Berlin zog alle magisch an, dort erhofften sich offensichtlich viele Menschen eine Wende ihres Schicksals.
Und dann hatten wir es endlich erreicht, unser lang ersehntes Ziel, das uns, die wir so voller diffuser Ängste und Sehnsüchte waren, das uns so ernüchternd trübe, so unsagbar grau in grau, so voller Staub über einer schier endlosen Wüste von Trümmern begrüßte: BERLIN!

Ich habe sie heute noch in mir, diese Gedanken, diese Glücksgefühle, die mich damals beherrschten, als wir neben dem verheißungsvollen Ortsschild die imaginäre Linie der Stadtgrenze mit unserem Handwagen, spärlich gefüllt mit unserer „Rest-Habe“, überschritten. Es war unbeschreiblich!
Fast zwei weitere Tage waren wir nun noch unterwegs. endlos schienen uns die langen, von herabgefallenen Trümmern fast gänzlich zugeschütteten Straßenzüge. In der Mitte der Straße blieb nur ein schmaler Pfad für uns. Und immer wieder mussten wir halten, Steine und Trümmerbrocken beiseite räumen, die unser von mir zusammen gebasteltes Gefährt blockierten und uns am Weiterziehen hinderten. Wo lag denn nun wohl dieses Kreuzberg, dieser Stadtbezirk, in dem wir auf unsere Verwandten zu stoßen hofften?
Wir liefen einfach weiter, immer der Nase nach…“

(Weiter geht es in ca. einer Woche!)

Aus meinen Lebenserinnerungen, Folge 35:

Es stank nach Leichen, nach verwesenden Leichen…

– Juni 1945: Nach wochenlangem Fußmarsch von Pommern hatten wir Berlin erreicht und suchten zwischen Trümmern unseren Weg…:

„Wir liefen einfach weiter, immer der Nase nach und in die Richtung, von der wir ohne irgend einen Anhaltspunkt annahmen, dass wir dort vielleicht ins Zentrum Berlins gelangen könnten.
Aber, wo waren denn eigentlich die Berliner? Waren sie gar alle tot – so dachte ich als Zehnjähriger -, waren alle von dem offenbar grausamen und gnadenlosen Kriegsgeschehen im Bomben- und Geschützhagel hinweg gefegt worden? Man begegnete eigenartigerweise zunächst nur russischen Soldaten und endlos scheinenden Scharen von Flüchtlingen. Aber die konnten wir ja wohl kaum nach dem Weg fragen.

Schließlich fanden wir doch noch einige Leute, die uns – wenn auch nicht gerade freundlich und wenig hilfsbereit – den Weg weisen konnten. Meine Mutter entdeckte dann – ganz plötzlich und mit einem Aufschrei – das Straßenschild, nach dem wir schon so lange Ausschau gehalten hatten. Zerbeult und zerschossen war es, aber ganz deutlich konnte man erkennen:
ADALBERTSTRASSE! Nun waren wir wirklich am Ziel! Wir quälten uns durch den Trümmerschutt hindurch und suchten angestrengt und mit großem Herzklopfen die Hausnummer, auf die es ankam: Nr.76! Stand das Haus überhaupt noch? Es sah so gar nicht gut aus in der „Hausnummer-Nachbarschaft“!
Überall nur Trümmer und nochmals Trümmer, gespenstige Fensterhöhlen ausgebrannter Häuser, zersplittertes Holz und Glasscherben zu Hauf, die unter unseren unsicheren Schritten knirschten. Über allem lag bei unvermindert großer Hitze ein eigenartiger Geruch, ja Gestank! Wir kannten ihn zur Genüge, war er uns doch schon des öfteren begegnet, dieser süßlich-staubige Geruch nach verwesenden Leichen. Ob von Menschen oder von Tieren, das blieb ungewiss…
Und dann – diesmal gab es keine Freudenschreie, keinen lauten Jubel – und dann war da das Haus Adalbertstr. 76! Auf der rechten Straßenseite, von zahllosen Einschusslöchern durchsiebt wie fast alles in dieser Umgebung, „lachte!“ uns eine große Toreinfahrt entgegen! Wir blieben stumm, aber unsere Augen strahlten! Das Haus stand! Was für ein unsagbares Glück, was für eine Erkenntnis! Endlich wieder etwas, was gewiß war! In diesen Augenblicken, in denen wir die in den Hinterhof führende Hauseinfahrt betraten und dort unseren Handwagen abstellten, in diesen so unheimlich beglückenden und erleichternden Momenten, hatte eigenartigerweise niemand von uns auch nur die geringste Befürchtung, dass Tante Elisabeth und Onkel Adolf nicht mehr leben könnten! (Wir sprachen später darüber und wunderten uns…) Und auf der großen Holztafel in der Einfahrt stand doch auch der Name MENGE, also müssten sie doch… oder vielleicht doch nicht? Mutti ließ uns allein bei unserem Gepäck und verschwand über den Hinterhof , dem für diese Gegend so typischen, in dem dortigen Hauseingang.
Es dauerte nicht lange, und sie kam wieder zurück. Sie rannte uns entgegen, stolperte fast und strahlte über beide Wangen: „Sie leben!“ rief sie uns schon von weitem zu. Eine Nachbarin hatte unserer Ungewissheit ein Ende bereitet. Menges holen gerade ihre Brotration ab. Sie müssten bald zurück sein. Was für ein Glück, was für eine Erleichterung, was für ein tiefes Aufatmen! Es müssen wohl mehr als an die drei Stunden gewesen sein (eine Uhr besaßen wir ja nicht…) dass wir, neben unserem Handwagen stehend, unruhig auf und ab gehend, in der Toreinfahrt warteten. Wann immer jemand das Haus betrat, wurden wir misstrauisch beäugt und befragt.
Aber dann endlich standen beide, Tante und Onkel, vor uns. Erschrocken zuckten sie zusammen, als sie uns entdeckten und stürzten dann, nachdem sie uns erkannt hatten, mit einem Aufschrei auf uns zu. Was für ein Jubeln, Lachen, Weinen, Schluchzen und immer wieder ungestümes Sich-umarmen! Was für ein glücklicher Augenblick, was für eine unendliche Freude! Wir alle lebten, wir alle hatten uns gefunden! Eine mehr als dreiwöchige Odyssee war zuende nun. Ein neuer Lebensabschnitt konnte beginnen…!

– weiter zur nächsten Folge –

Aus meinen Lebenserinnerungen, Folge 36:

Ueberlebenskampf im zerbombten Berlin

Juni 1945: Wir haben, von Pommern kommend, nach langem, strapaziösem Fußmarsch die alte Reichshauptstadt Berlin erreicht und bei unseren Verwandten vorübergehend Unterschlupf gefunden:

„Unser nun folgender, mehr als einjähriger Aufenthalt im fast gänzlich zerbombten, zerstörten Berlin war ein Überlebenskampf pur, ein qualvolles „Von-Tag-zu-Tag-leben“.
– In der Rückschau allerdings, und das vor allem für mich als damals gerade 11 Jahre alt gewordenen Jungen, war es ein einziges spannendes Abenteuer! Dieser Umstand war wohl auch die Ursache dafür, dass ich Zeit meines Lebens eine permanente unbändige Sehnsucht nach dieser besonderen Stadt Berlin in mir spüre und sie, wann immer es sich einrichten lässt, in regelmäßigen Abständen besuche. Das ist dann immer ein genüssliches Schwelgen in Kindheitserinnerungen, die – das ist wohl einzuräumen – ganz gewiß von reichlich viel „Rückschau-Patina“ geschönt, sich meiner bemächtigen.

Nach einigen Tagen mussten wir uns in einem Aufnahmelager melden und registrieren lassen. Nachdem wir mit einem scheußlich stinkenden weißen Pulver, das man uns mittels einer riesigen Spritze in Ärmel und Hosenbeine und in das Haar „gepustet“ hatte, entlaust worden waren, durften wir – das wurde uns mit einer amtlichen Aufenthaltsgenehmigung bestätigt – für die Dauer von 10 Tagen (!) wieder in die Adalbertstr. 76 zu unseren Verwandten zurück kehren. Nach Ablauf dieser Frist hatten wir wieder bei der Behörde zu erscheinen, um dort evtl. eine Verlängerung des uns gewährten vorübergehenden Bleiberechtes zu erwirken. Die Strapazen unserer Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen bzw. Pommern zeitigten nun recht bald ihre bösen Folgen: Sowohl meiner Mutter als auch ihrer Schwester, Tante Tuta, ging es sehr schlecht. Sie waren, wie auch ich, sehr geschwächt. Vor Hunger (und bei der anhaltend extremen Sommerhitze) konnten wir uns kaum noch auf den Beinen halten. Und nirgendwo war in ausreichendem Maße etwas Essbares aufzutreiben.
Unsere Gastgeber teilten natürlich ihre noch vorhandenen spärlichen Vorräte mit uns, aber ob das reichen würde, uns am Leben zu erhalten? Wie gut, wie wunderbar war es da, dass wir „Zugereisten“ ein über viele Kilometer mitgeführtes „Mitbringsel“ auf unserem Handwagen nach Berlin „eingeführt“ hatten: Zwei Marmeladeneimer voller kostbaren Rübensirups und einen großen Beutel mit Roggenschrot! Man kann es heute kaum noch nachvollziehen, was das damals in jenen Zeiten des Darbens bedeutete! Zum einen ersetzte der Sirup auf mannigfache Weise nicht vorhandenen bzw. nur spärlich zugeteilten Zucker. Und zum anderen wurden die von Mutti in Ermangelung von Milch aus Wasser zubereiteten Roggenschrot-Suppen erst durch sparsamste Hinzufügung einiger Esslöffel des köstlichen, bräunlichen Sirups zu einem nahrhaften Hochgenuss!

Und dann ereilte uns – so dramatisch es klingt, so dramatisch war es für uns alle – dann ereilte uns völlig überraschend ein Schicksalsschlag von nie erwarteter Dimension: Ich erkrankte schwer. Und nach langwieriger Arztsuche und umständlichen, zeitraubenden Untersuchungen wurde bei mir eine sog. „offene Lungentuberkulose“ (Tbc) festgestellt.
– Zu damaliger Zeit glich diese Diagnose – den Stand der medizinischen Forschung und die auf Grund der gegebenen Lebensverhältnisse eingeschränkten Therapiemöglichkeiten in Betracht ziehend – fast einem Todesurteil! Wir waren geschockt!
Sehr bald jedoch mündeten dann unsere Verzweiflung und Hilflosigkeit in einen Mut machenden Stimmungsumschwung, denn – welch Glück im Unglück! – diese schlimme Erkrankung verhalf uns dreien zu einer zunächst auf ein viertel Jahr befristeten Verlängerung unserer Aufenthaltsgenehmigung für das viergeteilte Berlin und zu der immens wichtigen Berechtigung, Lebensmittelkarten zu erhalten!“

– weiter zur nächsten Folge –

Aus meinen Lebenserinnerungen, Folge 37:

Der Junge wird jesund, det sach ick euch!

  • Mitte 1945, nach langem Fußmarsch sind wir, von Pommern kommend, im zerbombten Berlin angekommen und haben die Schreckensnachricht von meiner Erkrankung an Lungentuberkulose erhalten…:

    „Nun hatten wir – zumindest auf Papier – die Vorfreude auf rationierte grammweise Zuteilung von Brot, Fett und – in kleinsten Mengen – sogar Zucker!
    Zugeteilt waren uns diese Lebensmittel, sie aber auch wirklich zu erhalten, war mit vielen Umständen verbunden und führte regelmäßig über lange, lange Warteschlangen vor den wenigen nicht zerstörten Läden. Da ab es oft ein Schubsen und zur Seite Drängen ja, häufig auch verzweifelt ausgetragene Handgreiflichkeiten und regelrechte Schlägereien, wenn es sich herumsprach, dass die zugeteilten, zur Verfügung stehenden Mengen zur Neige zu gehen drohten, bevor man den Thresen des Geschäftes erreicht hatte.
    Der Hunger machte rücksichtslos! Es ging ums Überleben, und da siegte nur zu oft die Verzweifelung über die „gute Kinderstube“… Mit Grausen erinnere ich mich der sporadischen Zuteilungen von Maisbrot aus amerikanischen Heeresbeständen! Das war zwar immer ein besonderer Feiertag, wenn man eines dieser in frischem Zustand durchaus angenehm mundenden Backprodukte erstehen konnte. Einen Tag später allerdings wurde diese Gabe unserer amerikanischen Besatzer schlicht ungenießbar, so trocken und nichtssagend, so unangenehm süßlich schmeckte sie!

    Für Leserinnen und Leser ab einem bestimmten Geburtsjahr darf ich erwähnen, dass Berlin zu damaliger Zeit von den alliierten Siegermächten in 4 Sektoren aufgeteilt worden war. Der größte, der östliche Teil, fiel den Russen zu. Weitere Sektoren beherrschten die Amerikaner, die Engländer und die Franzosen. Der Bezirk Kreuzberg („SO 36“ was so viel hieß wie: „Südosten 36“) war der amerikanische Sektor. Wir wohnten etwa 150 Meter von der Sektorengrenze zum Sowjetischen Sektor entfernt.
    Später, zu Zeiten des Mauerbaues durch die DDR, sollte sich dieser Umstand für die in der Adalbertstraße wohnenden Bürger als besonderer Glücksumstand erweisen.

    Mein Gesundheitszustand konnte sich – nicht zuletzt auch wegen der herrschenden Mangelsituation – nicht verbessern. Eigentlich, so hieß es von Seiten der Ärzte im inzwischen wieder in Betrieb genommenen Gesundheitsamt, hätte ich mit „offener Tbc“ unbedingt in eine Lungenheilstätte eingewiesen werden müssen. – Aber es gab sie nicht schon wieder, bzw. es war wegen Überfüllung eine Aufnahme weiterer Patienten nicht möglich. „Ihr Sohn sollte jetzt viel gute Butter essen, damit sich die von den Bazillen in die Lunge gefressenen Löcher verkapseln können!“, so der auch jedem Laien verständliche Ratschlag an meine Mutter. – Einer solche Empfehlung in jenen Zeiten des Mangels wirkte fast wie Hohn . Gute Butter! Woher nehmen? Gab es doch nicht einmal Margarine oder andere Fette! Mit diesem ärztlichen Ratschlag machte meine Mutter unseren Onkel Adolf bekannt, hilflos und verzweifelt.

    Onkel Adolf war Schlachtemeister von Beruf und in ehemals guten Zeiten im Kaufhaus Karstadt am Hermannplatz als Leiter der Fleischabteilung beschäftigt gewesen. Er war ein Mann der Tat und pragmatischer Entschlüsse!
    Ich werde es nie vergessen, wie er an jenem Abend, als wir mit der Nachricht zu meinen Gesundungsaussichten heimkamen, sich nachdenklich ein paarmal über seinen von einer Halbglatze gezierten Kopf strich und sich plötzlich ruckartig erhob. Mit zwei energischen Schritten ging er auf das, das Wohnzimmer dominierende Buffet, eine Anrichte, zu, legte seine Hand mit einer sehr entschlossen wirkenden Bewegung auf die dort tickende Tischuhr und verkündete kurz und lapidar: „Der Junge braucht Butter! Hier isse…!“
    Wir verstanden nicht sofort, aber dann erläuterte mein lieber, herzensguter Onkel, dass er sich gerade dazu entschlossen hatte, sich von diesem Punkstück bürgerlicher Wohnkultur zu Gunsten seines kleinen, kranken Neffen zu trennen. „Die bringt – ick saje mal – mindestens an die zweehundert bis zweehundertfuffzich Märker, und dafür werden wir uffem schwarzen Markt wohl ne jute Butter kriejen können, wa?!“ Und dann schloss er die kurze Krisensitzung des Familienrates – und das klang wie ein feierliches AMEN – mit den Worten: „Der Junge wird jesund, det sach ick euch!“

    – weiter zur nächsten Folge –

Aus meinen Lebenserinnerungen, Folge 38:

Berlin 1945: 200 Reichsmark fuer ein halbes Pfund Butter

– Berlin 1945, kurz nach Kriegsende, täglich üben wir uns im Überleben:

„Zweihundert Reichsmark brachte die schöne Uhr, von der sich Onkel und Tante meinetwegen sicher nicht leichten Herzens getrennt hatten. Der Schwarze Markt machte es möglich. Und für 200 Mark „organisierte“ mein guter Onkel Adolf, dem ich auch weiterhin noch so unsagbar viel zu verdanken hatte, „das erste halbe Pfund Butter für unseren Klausi“.
Diese selbstlose und nicht ungefährliche Hilfsbereitschaft meines Onkels mit den rauen, groben Händen, aber einer weichen, einfühlsamen Seele war der Beginn einer liebevollen Beziehung zwischen uns, die über die einer nur verwandtschaftlichen weit hinaus ging. Wir liebten einander sehr. Und er, dem in seiner Ehe mit Tante Elisabeth keine Kinder geschenkt worden waren, wurde mir in den Monaten unseres Berliner Aufenthaltes so etwas wie ein liebevoller und treu sorgender Ersatz-Vater. Seinen „kleinen Geschäftsführer“ nannte er mich später. Wie es dazu kam, später mehr.

Auf Grund des Stillstandes in meinem Genesungsprozess wurden unsere Aufenthaltsgenehmigungen für Berlin von Mal zu Mal verlängert. Und wir waren natürlich sehr froh darüber. Denn wohin hätten wir, wenn man uns das Bleiben versagt hätte, wandern, laufen, fahren sollen…? Von unserem Vater hatten wir inzwischen bis zum Jahresende 1945 immer noch nichts gehört. Und auch Reinhold, mein älterer Bruder, war für uns zum damaligen Zeitpunkt nach wie vor „vermisst“.
Vermisst, also immer noch spurlos verschwunden, war für uns und natürlich zum großen Kummer seiner Mutter auch mein Vetter Ulrich, unser Ulli. Seit er, von Russen gezwungen, auf einem überdimensionalen Ochsenwagen sitzend, den Gutshof Warsin in Pommern mit unbekanntem Ziel verlassen hatte, waren wir ohne jede Information über seinen Verbleib. Seither waren nun auch schon einige Monate ins Land gegangen.
Eines Sonntags – Mutti hatte, aus den Schwarzschlachtungsbeständen unseres Onkels mittlerweile bestens versorgt, einen wunderbaren Sauerbraten mit schlesischen Klößen zubereitet – klingelte es plötzlich an der Wohnungstür in der vierten Etage. Wir saßen gerade bei Tisch und wunderten uns natürlich, wer uns zu dieser Tageszeit wohl würde besuchen wollen. Und da stand – fast war es so, als sei es eine Erscheinung aus einer anderen Welt – mein lieber und (im doppelten Wortsinn) lang „vermisster“ Vetter Ulli! Hochgeschossen, hager, mit kahl geschorenem Schädel und strahlend über alle Fasern seines von offensichtlichen Entbehrungen gezeichneten Gesichts.
Ulli war wieder da! Glücklich lagen wir alle uns in den Armen, und so manche Träne wurde da vergossen vor Glück! Da hatte er sich doch wieder mit dem ihm eigenen Gespür für glückliche Momente just zu dem Augenblick bei uns eingefunden, als verführerischer Bratenduft noch in der Luft lag… Und einen gesegneten Appetit, ja unbändigen Hunger hatte unser Ulli ja stets und zu allen Tages- und Nachtzeiten, und das seit eh und je! Wie gut, dass vom Sonntagsessen noch genügend vorhanden war. Da hatte meine Mutter als Köchin wohl eine Vorahnung gehabt und für den Überrachungsgast mitgekocht. Mit der erhofften Familienzusammenführung schien es nun schrittweise voran zu gehen. Jetzt fehlten „nur noch“ die beiden Väter (Onkel Gustav und Papa) und mein großer Bruder Reinhold.

Wie viel Monate Ulli von den Russen verschleppt worden war, kann ich nicht mehr genau erinnern. Auf jeden Fall hatte er sich wohl, auch begünstigt durch seinen jungenhaften Charme, bei einem russischen Leutnant unentbehrlich gemacht und diesen eine Zeit lang, quasi als dessen Bursche, durch die ersten Nachkriegswirren begleitet, bevor man ihm, dem dreizehnjährigen deutschen Jungen, die Freiheit wieder schenkte und ihn ziehen ließ.
Wie war das? – Hatten wir wohl vor seiner Verschleppung schon davon gesprochen, dass wir nach Berlin wollten? Oder war er lediglich einer richtigen Eingebung gefolgt, als er sich bis Berlin-Kreuzberg durchschlug?“

– weiter zur nächsten Folge –

Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 39

Ein Buecherwurm entdeckt inmitten von Truemmern die Berliner U-Bahn

– 1945: Mein 13jähriger Vetter Ulli hat uns (seine und meine Mutter und mich) nach seiner Verschleppung durch die Russen in Berlin wiedergefunden:

„Wie froh war ich, (damals 10 Jahre alt) mit Ulli wieder einen Kumpel neben mir zu haben. Und so erlebten wir beide in den folgenden Wochen und Monaten so allerlei Aufregendes und so manches Abenteuer im großen, zerbombten Berlin.

Schulunterricht gab es nicht. Nicht nur wegen der in Schutt und Asche liegenden Schulen, sondern wegen meiner offenen Lungen-Tuberkulose. Diese Erkrankung bedeutete für mich wegen der starken Ansteckungsgefahr strengen Ausschluss aus der Öffentlichkeit, Isolierung. So konnte ich meinem damals stark ausgeprägten Wunsch, etwas zu lernen, Neues zu entdecken und das Leben zu studieren, lediglich in „Heimarbeit“ entsprechen. Vor allem meine Mutter, aber auch meine beiden Tanten und Onkel Adolf versuchten sich als Hauslehrer. Die schönste und spannendste Art zu lernen allerdings hatte ich durch das geradezu maßlose Verschlingen all dessen kennen gelernt, was mir in Form von Büchern unterkam! Es war wie ein Rausch, so unbändig hatte mich die Lust am Lesen erfasst. Ich war – und damit ging ich manchen meiner lieben Mitmenschen zeitweise ganz schön auf den Wecker – zu einem wirklichen „Bücherwurm“ geworden, der über seinen Büchern Zeit und Raum vergaß. Wie oft verhallte da der Ruf meiner Mutter total, doch eben beim Abwaschen zu helfen oder mich auf die eine oder andere Art und Weise nützlich zu machen. Und nicht selten führte das auch zu ihrer Verärgerung. „Der Junge hat wirklich nur noch Bücher im Kopf!“ begann so allzu häufig ihr Klagelied, wenn ich wieder einmal mit Karl May „Durchs wilde Kurdistan“ streifte oder mich mit Winnetou oder Old Shatterhand auf Kriegspfad befand… Die in der Familie Menge vorhandenen Bände waren bald „verschlungen“, aber zu meinem Glück gab es erstaunlicherweise recht bald auch die Möglichkeit, sich (wieder) einer Leihbibliothek zu bedienen.

Nie wieder seither durchlebte ich eine solche Phase intensivsten Sichvertiefens in die Literatur aller erreichbarer Spielarten. Das war die Zeit zwischen meinem 10. und 16. Lebensjahr. Sie war, so gesehen, eine wunderbare und mich nachhaltig beeinflussende und stark prägende Lebensphase, die ich nie hätte missen wollen.

Als es mir nach einer gewissen Zeit gesundheitlich langsam besser ging und ich endlich wieder auch nach draußen und vor allem mit anderen Menschen außerhalb der Familie zusammen kommen durfte, begann für mich so richtig meine spannende, ja abenteuerliche Zeit in Groß-Berlin.

Das Tollste war die mich ungeheuer beeindruckende, faszinierende Möglichkeit, mit der U-Bahn die alte Reichshauptstadt zu erkunden! Das war ein Super-Vergnügen, das damals nicht mehr als 20 bis 25 Pfennige je Fahrtstrecke kostete! Damals war es auch, dass ich mich für alle Zeiten geradezu unsterblich in dieses mich total in seinen Bann ziehende Verkehrsmittel verliebte, das da mit einem unvergleichlich typischen Fahrgeräusch und von einem für mich auch heute noch – fast möchte ich sagen – süchtig machenden, besonderen Geruch umgeben, die unterirdischen und teilweise auch oberhalb verlaufenden U-und Hochbahnlinien kreuz und quer durch Berlin bediente. Kottbusser Tor, das war in Berlin-Kreuzberg und am Beginn der Adalbertstraße liegend, „mein U-Bahn-Bahnhof“. Mit ihm verbinden sich bis heute so viele schöne und abenteuerliche Kindheitserinnerungen, die mich selbst Jahrzehnte nach unserem damaligen Zwangsaufenthalt in Berlin immer noch und anhaltend in einen gewissen „aufgeregten Zustand angenehmster Anspannung“ versetzen. Wann immer ich in den Jahren meiner beruflichen Tätigkeit dienstlich in Berlin zu tun und damit verbunden dort gelegentlich zwei- bis dreitägige Aufenthalte hatte, zog mich vor allem diese U-Bahn stets aufs Neue magisch an. Und das ist bis heute unverändert geblieben…“

– weiter zur nächsten Folge –

Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 40:

Berlin-Alexanderplatz: Abenteuer Schwarzmarkt

– Trümmer-Berlin Ende 1945: Ich (11) bin total verknallt in die faszinierende U-Bahn der Hauptstadt! Jede Fahrt mit ihr wird für mich zu einem tollen Abenteuer…

„Wann immer ich später in den Jahren meiner beruflichen Tätigkeit dienstlich in Berlin zu tun und damit verbunden dort gelegentlich zwei- bis dreitägige Aufenthalte hatte, zog mich vor allem diese U-Bahn magisch an. Und entweder vor oder nach der dienstlichen Sitzung, oft auch schon vom Flughafen aus, stattete ich dann meiner „alten Heimat“ am Kottbusser Tor einen „Pflichtbesuch“ ab, und das natürlich mit den gelben Wagen der U-Bahn. (Tempelhof, der über 80jährige Flughafen, der dieser Tage endgültig seine Start- und Landebahnen außer Betrieb gesetzt hat, war damals Start- und Endpunkt meiner Berlin Aufenthalte. Einmalig und eindrucksvoll die rasanten Landeanflüge knapp über den Dächern der Berliner Wohnbezirke!
(Schade, dass das nun vorbei ist! Später dann in Tegel zu landen und zu starten, war dagegen fast langweilig.)

Auch die S-Bahn war als rollender Abenteuerspielplatz nicht zu verachten. Meine Liebe zu ihr und zu den so typischen „summend-gleitenden“ Fahrten hat sich bis in diese Tage gehalten. So gesehen bin ich in dieser Hinsicht mit meinem Faible insbesondere für Berliner Verkehrsmittel (einschließlich der imposanten Doppelstock- Busse) wohl doch so etwas wie ein „komischer Vogel“, ein „Zug-Vogel“ gewissermaßen…!

Ein von Vetter Ulli und von mir bevorzugtes Ziel bei unseren Exkursionen durch Berlin war immer wieder der Alexanderplatz. Von Trümmern umgeben bot er den Deutschen, aber auch den Besatzungssoldaten (Amis, Iwans, Tommys oder Franzmännern) die abenteuerliche, aber nicht ungefährliche Kulisse des „Schwarzmarktes“. Das war ein sehr beliebter und stark frequentierter illegaler Umschlagplatz für alle möglichen Konsumgüter, aber eigentlich für alles nur Denkbare, was zu jenen Zeiten einen gewissen Wert, und sei es den eines Tauschobjektes, darstellte. Hier konnte man vieles von dem erstehen, was sonst nicht zu bekommen war: ausländische Zigaretten vor allem, die beliebten, für uns Deutschen bislang weitgehend unbekannten Kaugummi, Butter (sehr gefragt!), riesige Speckseiten, Zucker, Eier und, und, und… Auch Brot z. B. konnte man, sofern man über genügend Reichsmark verfügte, für teures Geld bekommen. 200 RM (!) musste man für einen Laib Brot hinblättern! Und das natürlich, ohne auch nur einen einzigen Abschnitt aus der Lebensmittelkarte dafür opfern zu müssen.

Der Alexanderplatz (liebevolle Kurzform seit eh und je: „Alex“) war schwarz, schwarz auch von Menschen, die alle – mehr oder weniger schweigend oder nur flüsternd – verstohlen und ängstlich um sich blickend, ihre Ware zum Kauf oder Tausch anboten. Da standen z.B. Amis, deren beide Arme waren doch tatsächlich bis zu den Ellbogen mit den verschiedensten Armbanduhren bestückt. Und flugs glitten nach jeder Anpreisung tarnend dann die Jackenärmel wieder über das reichhaltige, glitzernde Angebot von Zeitmessern, die vor allem auch bei den Iwans auf größtes Interesse stießen, waren sie doch auf „Uri, Uri!“ immer schon besonders scharf!

Gefährlich war der Aufenthalt auf dem Schwarzen Markt deshalb, weil Schwarzhandel von den Besatzungsmächten streng verboten war. Er wurde zwar stillschweigend und immer wieder geduldet. Doch gelegentlich gab die neu gegründete deutsche Schutzpolizei, ein offensichtlich zusammen gewürfelter Haufen, nur in Schnellkursen leidlich geschulter, unausgebildeter und abenteuerlich, quasi im „Lumpenlook“ uniformierter „Hilfssheriffs„, Proben neu erstandenen Ordnungssinns und allmählich wiedererstehender deutscher Staatsgewalt: Mit viel Tatü-Tata brausten dann gleich mehrere Lastwagen, voll beladen mit Polizisten, die respektheischend ihre Gummiknüppel schwangen, heran! Die alliierten „Handelspartner“, die Besatzer, blieben von diesen überfallartigen Razzien natürlich verschont. Wer von den Deutschen jedoch nicht aufs schnellste die Flucht ergreifen konnte, wurde mit „Ordnungsmacht Gebrüll“ von den Hilfspolizisten geschnappt und – ruck-zuck – mit Polizeigriff auf bereitgestellte weitere Lastwagen bugsiert. „Vorläufig festgenommen“ hieß das dann.“

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Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 41

…noch im Zustand jugendlicher Beweglichkeit

– Ende 1945: Das in Trümmern liegende Berlin bietet meinem Cousin (14) und mir (11) so manches Abenteuer, so auch die ständigen Besuche des Schwarzmarktes auf dem Alexanderplatz…:

„Ulli und ich gehörten, damals noch im Zustand jugendlicher Beweglichkeit, dankenswerterweise immer zu denen, die sich gewandt und mit Affenzahn durch Flucht, meist holterdipolter hinab über die zahlreichen Treppenzugänge zum weitläufigen Areal der vielen U-Bahn-Bahnsteige unterhalb des Alexanderplatzes, bei Razzien dem Zugriff der Ordnungskräfte entziehen konnten. Und wenn wir dann noch das Glück hatten, flugs in eine anfahrende U-Bahn springen zu können, ja, dann konnte man, dem drohenden Unheil entronnen, wieder aufatmen und präsentierte wechselseitig und nicht ohne Stolz seine Schwarzmarkt-Beute: Die von Ulli bestand vorzugsweise aus Ami-Zigaretten, die er dann mit Aufpreis weiterverscherbelte. Ich zog es – meinem Alter entsprechend – zunächst vor, mich mit Kaugummi und amerikanischen oder englischen Drops zu versorgen. Eine Packung Kaugummi (5 Streifen) konnte ich für 20,– Mark (!) alliierter Währung erstehen. Die Rolle Drops gab es für 15,– Mark des nur in Berlin in Umlauf gebrachten Alliierten Geldes, das eine größere Kaufkraft als die alte Reichsmark hatte. Ich erinnere mich, das eine „Ami“, so nannte man kurz und bündig eine amerikanische Zigarette, sag und schreibe das Stück (nicht etwa die ganze Packung!) 20,– Mark alliiertes Geld und eine deutsche Zigarette („Sondermischung 4“ nannte sich die erste nach dem Kriege wieder produzierte) das Stück 12,– Deutsche Reichsmark kostete! Eine Chesterfield, Lucky Strike, Camel, oder wie die ausländischen alle hießen, wurde – vor allem auch als Tauschobjekt – natürlich sehr bevorzugt. Ich weiß noch. dass sie wegen ihrer besonderen Fermentierung des verarbeiteten Tabaks einen wirklich wunderbaren, süßlichen und aromatischen Duft verbreiteten. Ich kam dann auch mit der mir mittlerweile angeeigneten Berliner Pfiffigkeit „helle und janz schnelle“ dahinter, dass man mit dem Verkauf von Zigaretten blendende Geschäfte machen konnte. Nur erwischen lassen durfte man sich dabei natürlich nicht! So war ich in guter Ausbalancierung von Schwarzmarkt-Risiko und Verdienstmöglichkeiten bemüht, den Gewinn aus dem Verkaufserlös stetig zu optimieren. Und das gelang prima, befriedigte auf prickelnde Weise jugendliche Abenteuerlust und machte über dies auch noch richtig Spaß! Erwischt wurden wir übrigens nie von der Polizei! Ulli und ich waren schließlich beide Söhne von Polizisten…!

Zigaretten waren im Nachkriegs-Berlin sehr gefragt! Auch als damals gerade erst 11 Jahre alt gewordener ostpreußischer „Lorbass“ empfand ich es als irgendwie befremdend und beschämend, mit ansehen zu müssen, wie deutsche Männer, aber auch Frauen, hastig sich nach den Zigaretten-Kippen bückten, die amerikanische oder englische Soldaten mit arrogantem Fingerschnipp auf die Straße befördert hatten. „Kippen-Sammeln“ hieß diese erniedrigende Tätigkeit, derer sich die besiegten Deutschen in ihrer Sucht nach Nikotin überall gierig befleißigten. Ich bin mir bis heute nicht klar geworden darüber, ob die GI es den sich behende auf die Kippen stürzenden Deutschen dadurch, dass sie ihre Zigaretten oft nur bis zur Hälfte aufrauchten, eine „milde Gabe“ zukommen lassen wollten oder ob dieses Verhalten als Provokation gedacht war, mit der sie die Besiegten ganz bewusst zu kränken und zu beschämen beabsichtigten. Auf jeden Fall haben sich mir diese Bilder als besonders signifikant für die damalige Zeit im Nachkriegs-Berlin in mein Gedächtnis eingegraben. Es waren Szenen, derer man sich als Deutscher schämen musste. So empfand ich es zumindest als damals 11jähriger Junge.

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Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 42

„Kinderarbeit“ und Wurstbruehe im naechtlichen Nachkriegs-Berlin

– Ende 1945/Anfang 1946 im Nachkriegs-Berlin: Der Schwarzmarkt brummt, und Berlin ist der reinste Abenteuerspielplatz für meinen Cousin (14) und mich (11):

„Dass die zahlreichen Abenteuer im Berlin um die Jahreswende 1945/1946 kein Ende nahmen, dafür sorgte auch unser lieber Onkel Adolf, der – beginnend mit seiner selbstlosen Hilfe für seinen lungenkranken Neffen Klaus – eine für die damalige Zeit typische Schwarzhändler-Karriere gestartet hatte. Und als Schlachtermeister und mit zahlreichen wiederbelebten Beziehungen aus Geschäftskreisen rund um das kostbare Lebensmittel „Fleisch“ war er geradezu prädestiniert für den schwungvollen Handel damit. Und dies in allen nur denkbaren Varianten. Da wurde – alles natürlich verbotenerweise und damit äußerst Risiko belastet – schwarz geschlachtet, schwarz gewurstet, schwarz geräuchert und natürlich schwarz gehandelt. Und dazu bedurfte es vor allem auch gewiefter Absatzstrategien und einer ausgeklügelten Risiko minimierenden Logistik, für die unser Onkel Adolf – das war schließlich naheliegend – seine beiden pfiffigen, halbwüchsigen Neffen einspannte. Das hätte man also eindeutig als Kinderarbeit bezeichnen können. Aber in jenen Tagen, in denen alles als legal betrachtet wurde, was dem Überleben diente, konnte man sich Skrupel heutiger Art einfach nicht leisten.

Das Geschäftsleben oben geschilderter Art spielte sich natürlich überwiegend des Nachts ab, denn dann war die Gefahr, entdeckt, erwischt zu werden, zumindest ein wenig reduziert und besser kalkulierbar.

Ich rieche noch heute das frische, rohe Fleisch, das da portionsweise in der Mietwohnung des Hinterhauses in der Adalbertstr. 76, quasi versandfertig, geschützt durch eine Wachsdecke, auf der Couch in der guten Stube ausgebreitet lag und auf das Tätigwerden der „Lieferanten Ulli & Klaus“ wartete.

Die an besonders ausgesuchte und vertrauenswürdige Kunden zu liefernde Ware wurde in Rucksäcken verstaut (zwei hatten wir ja von unserer Flucht mitgebracht!), und nach Einprägung der Anschriften (nichts Schriftliches sollte man bei sich tragen!) ging es dann hinaus in das dunkle, nächtliche Berlin.

„Meister Adolf“ sagte uns zwar klipp und klar, wie viel Reichsmark er als Verkaufserlös erwarten würde, überließ es andererseits ganz großzügig uns beiden. Wie viel wir unseren Kunden für die kostbare Schwarzmarktware würden abnehmen wollen. Das war natürlich ein gefundenes Fressen für uns und wirkte in hohem Maße motivierend, ein wenig aber auch unsere Ängste mildernd! Junge, Junge! Waren das Preise, mit denen wir da zum Segen der hungernden Bevölkerung Berlins die Nachkriegswirtschaft Deutschlands wieder anzukurbeln begannen! Wenn Onkel Adolf – angenommen – für 1 Pfund Rindfleisch 500 Mark einnehmen wollte, hatten wir absolut keine Hemmung, dafür 600 bis 650 Mark zu verlangen und auch zu kassieren. Botenlohn und Gefahrenzulage war das zugleich, und wir hatten in diesen lukrativen Monaten Geldbeträge in unseren (gestopften) Hosentaschen, dass es nur so eine Freude war! Der Handel lief prächtig, und „Meister Adolf“ und seinen „Lieferanten“ ging es prima!

Eine besonders große und damit enorm reizvolle Verdienstspanne wurde uns „Junioren-Schwarzhändlern“ vom Onkel zugebilligt, wenn wir die von ihm meisterhaft abgeschmeckte, berühmte Wurstbrühe an verschiedene Gaststätten, meist aber an sogenannte „Budiken“, also urige Eckkneipen, ausliefern mussten. Dann zogen wir, schwer an den 25-Liter-Milchkannen tragend, zu zweit durch die nächtlichen Trümmerstraßen Kreuzbergs und wurden in allen Kneipen der Umgebung freudig zwar, aber stets mit gebremster Lautstärke, empfangen. Geheimhaltung war alles! Muss ja nicht jeder wissen! Früher hieß es bei den Nazis: „Psst! Feind hört mit!“. Heute musste man befürchten, dass irgend ein Schupo (ein Schutzpolizist) auftaucht und die wunderbar würzig duftende Wurstbrühe nebst Milchkanne beschlagnahmt und uns „hopp nimmt“! „Neese!“ wär es dann gewesen mit dem Geschäft, und Onkelchen wäre dadurch ganz sicher in große Gefahr geraten. Aber wir hatten wirklich Glück damals und wurden, auch bei jenem nächtlichen Treiben, nie erwischt. Mit großer Freude nahm man uns dann daheim in die Arme, wenn wir mit den leeren Milchkannen wieder schnaufend die vier Hinterhaustreppen erklommen hatten. Besonders unsere Mütter zeigten dann immer große Erleichterung, wenn die „ganze Bande“ wieder im „Heimathafen“ gelandet war und unter Kontrollblicken unserer Erziehungsberechtigten Kasse gemacht wurde.“

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Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 43

Polizeiliche Suchaktion nach verschollener Familie

– Anfang 1946 in Berlin: Verbotene Schwarzmarktgeschäfte halten uns am Leben. Cousin Ulli (14) und ich (11) sind dabei unersetzliche Helfer unseres Onkel, der uns in gefährliche nächtliche Aktionen schickt…:

„Die stets optimale Ausnutzung der den Hilfskräften von Onkelchen eingeräumten Verdienstspannen imponierten ihm offensichtlich ungemein. Er sparte nicht mit anerkennenden Worten, ermunterte uns mit einem fröhlichen „Weiter so!“ und zeichnete mich, den „Kleinen Klausi“, mit dem Ehrentitel „Mein kleiner Geschäftsführer“ aus! Ich war sehr stolz darauf und fasste, auf diese Weise ungemein „geadelt“ und angespornt, zu jener Zeit den Entschluss, später einmal (mindestens!) Großhandelskaufmann zu werden! Ob meine damals vermeintlich zu Tage getretenen und von Onkel A. entdeckten „kaufmännischen Fähigkeiten“ ausgereicht hätten, sie in berufsmäßiger Ausübung eines Tages gewinnbringend zum Lebensinhalt machen zu können, sei dahin gestellt. Immerhin aber erkor ich mir als meine „Frau fürs Leben“ Ende der Fünfziger Jahre eine gelernte Großhandelskauffrau. (Großhandelskaufmännin sagte man damals noch) Zugegeben, spielte diese Tatsache bei der „Gattinnenwahl“ nur eine absolut untergeordnete Rolle, denn da gab es wesentlich reizvollere und betörend ins Auge stechende Merkmale, die mich schwach werden ließen…!) Wie man weiß, orientierte ich mich trotz der ermutigenden Beurteilung durch Onkelchen in punkto Berufswahl in späteren Jahren anders.Geblieben ist mir allerdings, auch aus jener Zeit, meine heute allseits anerkannte Fähigkeit, insgesamt und in breiter Produktstreuung nutzbringende Preisvergleiche anzustellen und mich zweifelsfrei darauf festzulegen, wann z. B. der Preis für ein halbes Pfund Butter noch angemessen oder nicht mehr akzeptabel ist! Eine für einen Einkäufe tätigenden männlichen Ruheständler nicht zu unterschätzende „Begabung“!

Meine Berliner Zeit, eine Zeit zwischen Türmern und voller Trostlosigkeit, grau und düster, hatte trotzdem etwas, was rückblickend in mir so etwas wie ein großes Gefühl von Geborgenheit und unendlicher Wärme und Dankbarkeit aufkommen lässt. Ich weiß, dass ich das meiner geliebten Mutter, meinen beiden Tanten in Berlin, vor allem aber meinem guten Onkel Adolf zu verdanken habe, die mich mit ihrer aufopferungsbereiten und unendlich scheinenden Liebe und Fürsorge umgaben. Ich wurde wieder gesund, überstand dank ihrer uneigennützigen Pflege meine lebensbedrohende Erkrankung und wurde dem Leben wieder geschenkt. Natürlich habe ich das alles zu damaliger Zeit als Kind noch nicht in aller Tiefe und Bedeutung empfinden können. Aber dass ich „meinen Beschützern aus Kreuzberg“ so wahnsinnig dankbar sein musste für all das, was sie mir unter Verzicht auf die Erfüllung eigener Bedürfnisse in jenen Berliner Monaten schenkten, das war mir auch damals schon klar! Und das habe ich ihnen – so hoffe ich – auf meine Art auch schon damals zeigen können. Gern hätte ich es ihnen auch noch heute sagen und danken mögen. Aber alle weilen nicht mehr unter den Lebenden. Tante „Tuta“ erlag, noch in Berlin, einem Nierenleiden, Tante Lisbeth und bald danach auch Onkel Adolf verstarben, und im Jahre 1983 beendete auch meine Mutter nach – weiß Gott – nicht leichten, leidgeprüften Jahren ihr irdisches Dasein. (Dass mein Onkel später für seine Schwarzmarktaktivitäten, an dessen Anfang seine Hilfe für mich und meine Erkrankung stand, vor Gericht gestellt und sogar zu einer mehrmonatigen Haftstrafe verurteilt wurde, hat mich sehr betroffen gemacht.)

Doch zurück ins Jahr 1946. Mein Vater hatte uns – als Polizist naheliegend für ihn – durch die Polizei und unter Einschaltung des Deutschen Roten Kreuzes suchen lassen und uns schließlich in Berlin entdeckt. Es waren sehr ambivalente Gefühle, die mich damals beschlichen, als ein erster Brief meines Vaters bei uns in Berlin-Kreuzberg eintrudelte. Da mischte sich die Freude über das lang ersehnte Lebenszeichen mit der Angst davor, dass die für mich so interessante und bewegte Berliner Zeit nun enden und uns eine total ungewisse Zukunft irgendwo – aber eben außerhalb meiner großen Liebe
Berlin – erwarten würde! Das verursachte schon gehöriges Herzklopfen, das sich später dann noch steigerte, als bekannt wurde, dass es Papa in ein winzig kleines Dorf im Emsland verschlagen hatte… Ein Umzug von der ehemaligen Reichshauptstadt Berlin in ein „500-Seelen-Kaff“ namens Oberlangen wurde nun wohl in Kürze unausweichlich. Und am liebsten wäre ich doch „ein Berliner“ geblieben! Und die zurückliegende vaterlose Zeit hatte bei aller Vorfreude, unseren Papa wiedersehen zu können, ja durchaus auch erfreuliche – sprich: freiheitlichere(!) – Seiten! Was da wohl auf mich zukam?“

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Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 44

Mein Abschied von Berlin: In vollen Zuegen genossen…

– Mitte 1946 hatte uns mein Vater mit Hilfe der Polizei (er war Polizist) und des DRK in Berlin entdeckt, und nun sah ich (11) mit gemischten Gefühlen der angestrebten Familienzusammenführung entgegen…:

„Von o. Skepsis verschaffte dann schließlich recht bald eine wunderbare Nachricht viel umjubelte Ablenkung: Bruder Reinhold lebte! Er war nicht gefallen, wie wir in unserer Ungewissheit voller Ängste schon befürchten mussten. Aus England erreichte uns die gute Botschaft, zwar ohne Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen, aber mit der tröstlichen Gewissheit, dass Reinhold sich gesund und unversehrt in einem Kriegsgefangenenlager auf den Britischen Inseln befand und sich nun darüber freuen konnte, dass auch wir alle am Leben waren und er uns – einer guten Eingebung folgend – tatsächlich in Berlin bei unseren Verwandten gefunden hatte.

Die Ereignisse überschlugen sich dann, denn nun stand ja die von meinem Vater natürlich erwartete Familienzusammenführung und unsere nicht problemlose und strapaziöse Übersiedlung von Berlin nach Oberlangen im Emsland bevor.

Eine Menge Herzeleid erzeugte in mir der Abschiedsschmerz, den zu mildern die Aussicht auf das Wiedersehen mit meinem gestrengen Herrn Papa und „geregelten Zeiten“ nur höchst unzulänglich in der Lage war…

Nachdem die langwierige Prozedur der Reisegenehmigungen vom „amerikanischen Sektor“ in Berlin in die „Britische Besatzungszone“ im heutigen Land Niedersachsen (das es damals noch nicht gab) bewältigt war, wurden unsere letzten geretteten Habseligkeiten in insgesamt drei Rucksäcken verstaut, und die strapaziöseste und unbequemste Bahnreise meines Lebens konnte angepeilt werden.

Der Abschied von Tante Liesbeth, Onkel Adolf, Tante „Tuta“ und von Ulli, meinem Vetter, war tränenreich.

Drei Tage (!) benötigten wir für die Bewältigung der Bahnstrecke zwischen Berlin und Lathen/Ems. Die Reisebedingungen waren, gemessen an heutigen Verhältnissen, unvorstellbar katastrophal! Das Gedränge in dem Zug, den wir nur mit größtem Kraftaufwand erklettern konnten, lässt sich nur schwer beschreiben.

Der schwer von Bomben verwüstete Bahnhof war nur notdürftig wieder hergestellt. Bereits die Bahnhofshalle war schwarz von Menschen, die alle nur das eine Ziel hatten: Irgendwann einen der gelegentlich bereitgestellten Züge zu erreichen und gen Westen fahren zu können. Das war ein Geschiebe und ein Schubsen! Die Ellenbogen wurden ausgefahren und rücksichtslos gebraucht. Die Leute schrien sich an, beschimpften sich. Jeder suchte nur seinen Vorteil, keiner gab die Hoffnung auf, zu jenen zu gehören, denen es gelingen könnte unter größtem Kraftaufwand und mit viel Glück eine Mitfahrgelegenheit auf den von den Kriegseinwirkungen ramponierten, klapprigen, alten Waggons der Deutschen Reichsbahn zu ergattern.

Den Begriff „fahrplanmäßig“ gab es ohnehin nicht, und so war es auch ein pures Glücksspiel, dass und wann ein Zug überhaupt bereitgestellt würde. Ob und zu welchem Zeitpunkt er sich nach unsäglich langer Wartezeit würde in Bewegung setzen können, war dann noch eine weitere Frage.

Und als dann endlich, von einer fauchenden Dampflok gezogen, ein ziemlich mitgenommen aussehender, maroder Personenzug in den Bahnhof verbracht wurde, begann „des Sturmes zweiter Teil“. Die Heftigkeit und Rücksichtslosigkeit, mit der die Waggons mit ihren schmalen Türen gestürmt wurden, steigerten sich. Gepäckstücke flogen förmlich über die Köpfe der sich drängenden Menschenmassen hinweg. Es war – man kann es nicht anders sagen – die reinste Hölle!

Als es uns nach mehrfachen Anläufen endlich gelungen war, einen der Waggons schweißtriefend zu erklimmen, waren wir fix und fertig! Aber wir hatten das Ziel erreicht: Wir waren im Zug! Wir saßen nicht, wir standen nicht, wir hingen irgendwie, wir waren halt im Zug und rangen nach Luft. Umzukippen war unmöglich! Wir wurden Teil dieser aufgeregten, atemlosen Masse Mensch, die uns umfing und das Zugabteil mit den Holzbänken der damaligen 3. Wagenklasse zum Bersten ausfüllte.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis endlich ein leichter Ruck durch die Menge ging und uns ahnen ließ, dass der Zug sich nun wohl in Bewegung setzen würde. Was für ein Glücksgefühl! Die Reise konnte beginnen. Wir durften sie „in vollen Zügen“ genießen…“

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Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 45

Wie man in vollen Zuegen ruecksichtslos beklaut wurde…

– Frühjahr 1946, nach Kriegsende sollte es zu einer Familienzusammenführung im Emsland kommen, und wir (meine Mutter und ich (11) verließen mein geliebtes Berlin…!

„Ein Blick auf das nun entschwindende Berlin war uns verwehrt. Die Abteilfenster des anfahrenden Zuges waren wegen Überfüllung blockiert und hinderten ein Abschied nehmen. Aber das Rattern der Räder und der beißende Geruch des Dampfes, den die fauchende Lok zu uns trieb, schafften die Gewissheit, dass hier und jetzt ein Zeitabschnitt in meinem noch so jungen Leben zu Ende ging, der zu den spannendsten und aufregendsten meiner Vita gehört haben sollte. Ein wirres Gefühl bemächtigte sich meiner. Es war eine Mischung von Neugier auf das Kommende und einer unsäglichen Traurigkeit über den Verlust dessen, was die letzten Monate bei allen Aufgeregtheiten, Kümmernissen und dramatischen Ereignissen auch an beglückenden Momenten für mich bereit gehalten hatten.

Nach vielen, vielen Stunden nervend langsamer Fahrt, die zudem noch immer wieder von schier endlosen Pausen (oft Halt auf freier Strecke) unterbrochen wurden, erreichten wir endlich den düster und ungastlich wirkenden Bahnhof von Hamm/Westfalen. Dort mussten wir den Zug verlassen und zur Weiterfahrt auf einen Anschlusszug warten, der irgend wann (kein Mensch wusste zu sagen, wann!) eintreffen sollte. Man nahm es hin mit großer Gelassenheit, denn Zeit spielte in diesen wirren Tagen nach Kriegsende weniger eine Rolle als heutzutage.

Voller Dramatik verlief für meine Mutter und mich dann die Wartezeit zwischen Ankunft des aus Berlin kommenden Zuges und der angestrebten Weiterfahrt: Im unvorstellbaren Gedränge während des Aussteigens wurde Mutti beim Herabsteigen über die steilen Abteilstufen von irgend einem fiesen und hinterhältigen Typ ganz offensichtlich mit Absicht so intensiv von hinten geschubst, dass sie – in jeder Hand einen unserer insgesamt drei Rucksäcke tragend – vornüber stürzte und mit einem Schmerzensschrei auf den Bahnsteig prallte. Ich wollte ihr wieder auf die Beine helfen. Und in meine besorgte Frage, ob sie sich wehgetan habe, platzte ein weiterer Aufschrei: „Unsere Rucksäcke!! Klausi, wo sind unsere Rucksäcke?!“ Es dauerte nicht lange, bis uns erschreckend klar wurde, dass jemand der meiner Mutter bei ihrem Sturz entglittenen beiden Rucksäcke in der Aufregung des Geschehens offensichtlich an sich gerissen und damit spurlos im Menschengedränge verschwunden war! Es war zum Heulen, es war zum Verzweifeln: Der Schrecken des Sturzes die folgenden Schmerzen und nun auch noch der Verlust von zwei Dritteln unseres uns noch verbliebenen Eigentums, das wir durch die turbulenten Tage von Flucht und Vertreibung gerettet hatten! All unser Hab und Gut bestand nun nur noch aus dem Inhalt eines einzigen Rucksacks! Meine Mutter heulte jämmerlich und ich mit ihr! Es war ganz, ganz schlimm für uns!

Wir suchten natürlich Hilfe bei verschiedenen Bahnbediensteten, die aber alle nur ihr Bedauern zum Ausdruck bringen und uns mit mitfühlenden Worten trösten konnten. Und als dann unser Anschlusszug nach vielen Stunden des Wartens auf dem zugigen, kalten Bahnsteig endlich einfuhr, da setzte wieder der turbulente Ansturm auf die Güterwagen an, in dem wir hoffnungslos unterzugehen drohten, denn Mutti konnte vor Schmerzen nicht mehr richtig laufen. Und das hätte man schon können müssen, um auch nur die geringste Chance auf die Eroberung eines Platzes in einem der meist offenen Viehwaggons zu haben. Wie sollte das nur enden? Vor Verzweiflung standen wir beide da und heulten vor uns hin. Und wenn sich nicht ein Bahnbeamter, unsere Situation erkennend, barmherzig unser angenommen hätte, dann wäre besagter Güterzug wohl ohne uns abgefahren! Energisch hakte er meine Mutter unter und führte uns zu einem der Güterwaggons, auf denen sich die vielen Menschen drängten. Dann zeigte er auf ein sog. „Bremserhäuschen“ an einem Ende des Wagens, öffnete mit einem speziellen Schlüssel dessen schmale Tür und bugsierte Mutti mit einem kräftigen Schwung hinauf und hinein. Ich folgte, die Türe schloss sich, und wir quetschten uns in das fast dunkle Gehäuse, in dem wir – ganz im Gegensatz zu den vielen anderen Mitreisenden – sogar ein winziges Dach über unseren Köpfen hatten. Das war ein großes, ein dankbares Aufatmen! Unser hilfreicher Freund von der Deutschen Reichsbahn bedeutete uns gestenreich und mit nur geflüsterten Worten, dass er „das Alles“ gar nicht hätte tun dürfen, denn natürlich sei es strengstens verboten, Unbefugten Zutritt zu diesem nur von Bahnbediensteten zu betretenden Bereich zu gewähren. Ganz still sollten wir uns verhalten und – vor allem bei Aufenthalten auf freier Strecke oder auf Bahnhöfen – auf keinen Fall die Türe des Bremserhäuschens öffnen. So konnten wir während der folgenden vielen Stunden unserer Weiterfahrt lediglich durch einen schmalen Sichtschlitz Verbindung zur Außenwelt aufnehmen. Das war natürlich alles andere als angenehm, aber wir fühlten uns trotzdem sehr glücklich und zufrieden, so als außerordentlich Bevorzugte. Die größte Schwierigkeit bestand für uns darin, dass wir keine Toilette aufsuchen und nur unter sicher akrobatisch anmutenden Verrenkungen durch den schmalen Sehschlitz hindurch feststellen konnten, wo sich unser „Menschentransport auf Viehwagen“ gerade befand. Schließlich wollten wir unser Ziel, Lathen/Ems, nicht verfehlen. Und mit dem Ausrufen der Haltepunkte haperte es doch ziemlich…“

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Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 46

Gibt es eine deutsche Kollektiv-Schuld?

– Die von meinem Vater angestrebte Familienzusammenführung brachte zunächst meine Mutter und mich Ende 1946 von Berlin ins Emsland:

„Vom beengten und verkrampften Sitzen fühlten meine Mutter und ich kaum noch unsere Glieder, als wir schließlich am späten Abend eines kalten und regnerischen Herbsttages im Jahre 1946 unsere neue Heimat erreichten und von meinem Vater, verbunden mit vielen, vielen Tränen der Freude, in die Arme geschlossen werden konnten.

Ein neuer Lebensabschnitt begann.

Im Lathener Haus von Frau Pf., einer Witwe mit mehreren Kindern, wurden wir recht freundlich empfangen. Mein Vater war dort, bevor er nach Oberlangen, einem kleinen Dorf mit ca. 500 Einwohnern, jenseits der Ems, ca. 4 km von Lathen entfernt, versetzt worden war, vorübergehend untergekommen.

Man muss wissen, dass mein Vater unmittelbar nach Kriegende das Schicksal vieler seiner Polizisten-Kollegen teilte, die fast allesamt auf Grund ihrer politischen Vergangenheit zwar im Polizeidienst belassen, jedoch meist um einige Dienstränge degradiert worden waren. So war im Falle meines Vaters aus dem Oberleutnant der Schutzpolizei ein einfacher Polizei-Meister geworden, der trotz allem froh und dankbar sein konnte, überhaupt wieder in seinem alten Beruf tätig sein zu dürfen.
Er musste, wie alle anderen seiner Kollegen auch, die sogenannte „Entnazifizierung“ durch die alliierten Militärbehörden über sich ergehen lassen und wurde dann mit empfindlich gekürzten Dienstbezügen als „wieder verwendungsfähig“ im Polizeidienst erklärt.
Alle Polizeibeamte mussten im 3. Reich, also unter Hitler, ausnahmslos Mitglieder der Partei, der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche ARBEITER-Partei) sein, wenn sie Interesse an einer beruflichen Karriere hatten… – so jedenfalls hatte mein Vater es mir damals erklärt. Und ich fand es später durch eigene Befassung mit den Zuständen während des Hitler-Regimes bestätigt.

Die Herabsetzung nach der „Entnazifizierung“ muss meinen Vater sehr gekränkt haben, das wurde mir erst später deutlich, nachdem ich begreifen konnte, was dieses Geschehen vor allem auch in wirtschaftlicher Hinsicht für unsere Flüchtlingsfamilie bedeutet haben muss.

Aber so war das Leben halt nach dem von uns Deutschen angezettelten und verlorenen Krieg. Alle mussten, jeder auf seine Weise und in seinem individuellen Lebensbereich, dafür zahlen, „dafür büßen“, wie meine Mutter es immer nannte. Nach ihrer Auffassung – wir haben auch in späteren Jahren häufig (vor allem mit ihr, weniger mit meinem Vater) darüber diskutiert, nach ihrer Auffassung hatten alle Deutschen ohne Ausnahmen Schuld auf sich geladen – direkt oder indirekt – und mussten nun dafür zahlen. Es war also der durchaus umstrittene Begriff der „deutschen Kollektiv-Schuld“, den meine Mutter, sicher auch durch ihre tief verwurzelte christliche Einstellung beeinflusst, nicht von sich weisen mochte.
Mein Vater hatte sich zu diesem Thema stets großer Zurückhaltung befleißigt. Mit ihm war schlecht reden über Kriegsschuld, Nazivergangenheit und über die vielen grausamen Verbrechen, die der Menschheit während der Jahre des 2. Weltkrieges durch Deutsche, so unendlich großes Leid auslösend, angetan worden waren. Häufig gab es hierüber Streit zwischen uns, wenn mein Vater, durch meine bohrenden Fragen wohl verunsichert, abrupt jedes Gespräch zu diesem heiklen Thema abbrechen wollte…und es auch tat.

So blieb in diesem Punkt manches unklar zwischen mir, seinem jüngsten Sohn und ihm, dem ehemaligen Polizei-Offizier mit politischer Vergangenheit. Ob er wirklich Schuld auf sich geladen hatte in jenen Jahren der Nazizeit, ist mir auf diese Weise letztlich verborgen geblieben. Zu seinen Gunsten bin ich allerdings immer davon ausgegangen, dass er ernsthaft wohl nichts zu verbergen gehabt haben kann. Dafür war er nach meiner Einschätzung eine „zu ehrliche Haut“! Vielleicht war Scham über sein, wenn auch widerstrebendes, an der Karriere orientiertes Mitläufertum in jener Zeit der Grund für seine Unnahbarkeit und Verschlossenheit zu diesen Fragen nach dem Kriege. Ich habe es jedenfalls so eingeordnet und so verstanden.“

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Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 47

„…und dann auch noch mit meiner Mutter in ein- und demselben Bett!“

– 1946 hatte es meine Mutter und mich (12) im Zuge der Familienzusammenführung von Berlin zu meinem Vater ins Emsland verschlagen. Na ja…:

„Oberlangen, das kleine Dorf an der Ems, gut 4 km von Lathen/Ems entfernt, mit damals etwa 500 Einwohnern, zumeist Bauern und alle ausnahmslos römisch-katholischen Bekenntnisses: Das war nun nach den aufregenden und ereignisreichen Monaten in der alten Reichshauptstadt Berlin der neue Lebens-Mittelpunkt unserer Familie, zunächst und auf unbestimmte Zeit allerdings noch nicht wieder komplett, denn Bruder Reinhold war immer noch in englischer Kriegsgefangenschaft.

Mein Vater, wegen seiner Parteizugehörigkeit zur NSDAP degradiert worden, war bald nach Kriegsende nach Oberlangen versetzt worden, um dort die Aufgaben des dortigen Polizeipostens (so nannte man das) wahrzunehmen. Schon in Erwartung der bevorstehenden Familienzusammenführung war ihm eine Dienstwohnung bei dem größten Bauern des Ortes, R.-F., zugewiesen worden. Sie bestand aus einem Schlafzimmer, einem als Küche und Wohnzimmer genutzten Raum und dem Büroraum für den Polizeiposten. Der Clou war ein sehr geräumiger Balkon mit Blick auf den riesengroßen, üppig bepflanzten Garten, für den die Bezeichnung „Park“ nicht übertrieben war. Ein Bad allerdings hatte diese Flüchtlings(behelfs)wohnung leider nicht zu bieten. In dieser Hinsicht waren wir auf die Gastfreundschaft unseres Vermieters angewiesen. Ein mehr als nachteiliger Umstand!

Unsere erste Nacht auf dem größten Bauernhof des Ortes verlief nach Monaten in der größten Stadt Deutschlands, was mich betraf, tränenreich und voller Verzweiflung! Für meine Mutter und für mich war – aus welchen Gründen auch immer – eine sofortige Unterbringung in o. beschriebener Wohnung nicht möglich. So mussten wir – ich werde es nie vergessen – zunächst mit einem winzig kleinen Raum mit Zementfußboden (!) vorlieb nehmen und waren gezwungen, zu zweit in einem viel zu schmalen Bett unter einer feucht-klammen Zudecke zu nächtigen. An Schlaf war ohnehin nicht zu denken, denn dafür war man, auch wegen der Nachwirkungen der mehr als strapaziösen mehrtägigen Bahnfahrt, viel zu aufgewühlt, viel zu aufgeregt. Heulend, frierend, zähneklappernd und zornig verkündete ich daher meiner lieben Mutter, dass ich diesen mich so arg schmerzenden Wechsel zwischen Großstadt und bäuerlichem Klein-Kaff nicht verkraften könne! Auf keinen Fall! Für mich stand in jener Nacht fest, dass ich den eben erst wieder zusammengeführten Familienverbund so schnell wie möglich würde verlassen wollen, um nach Berlin zu Onkel Adolf und zu Tante Liesbeth zurückzukehren! In diesem Kaff und dann auch noch mit Mutti in einem Bett,,,! Das war einfach zu viel! Das wollte der gerade eben erst zwölfjährige Klaus nicht ertragen, nicht auf Dauer erdulden!

Als die Tränen der Nacht dann am nächsten Morgen getrocknet und wir nach einigen Tagen in die Behelfswohnung eingewiesen worden waren, taten die energischen Worte meines gestrengen Vaters dann ein übriges, um mir meine „Fluchtgedanken“ auszutreiben. Was hätte ich auch tun können? Die Autorität der wiedervereinigten Erziehungsberechtigten bestimmte fortan wieder mein Leben. (Ich hatte es geahnt…) Was Papa sagte, das galt! Und Mutti konnte notfalls auch ganz schön streng sein. Bei ihr hatte ich allerdings immer „einen Stein im Brett“, und das lag wohl an den schwierigen Zeiten der Flucht und Vertreibung, die uns beide in ganz besonderer Weise zusammengeschweißt hatte. Manche der mich betreffenden Vorgänge erschienen ihr somit in sanfterem Licht und führten zu entsprechend milden und großzügigen Beurteilungen.

Es dauerte lange Wochen, bis meine Mutter und ich uns an die veränderte Lebenssituation gewöhnt hatten. Es war eben doch etwas anderes, umgeben von ländlicher Stille und weitgehender Eintönigkeit ein wieder in streng geregelte Bahnen übergegangenes, normales Lebens zu führen, als in der Hektik und im Trubel rasanten Großstadttreibens und – das für mich vor allem – ohne väterliche Erziehungszwänge wunderbare Freiheiten zu genießen!

Aber es half alles nichts: Alltag und Normalität forderten ein Umdenken, verlangten unerbittlich, sich umzustellen und in das Unabänderliche zu fügen. Dazu gehörte natürlich auch das Erfordernis, nach meiner gesundheitlichen Genesung wieder regelmäßig die Schule zu besuchen. Das fiel mir nicht gerade leicht. Erschwert wurde es nicht zuletzt auch dadurch, dass ich ausschließlich von katholischen Mitschülerinnen und Mitschülern umgeben war. Sie ließen es mich immer wieder und schmerzhaft spüren, dass ich nicht ihres Glaubens war. So befand ich mich permanent in einer Art „Verteidigungsposition“, die ganz schön an die Nerven ging.“

– weiter zur nächsten Folge –

Meinen verehrten Leserinnen und Lesern möchte ich an dieser Stelle von Herzen ein gesegnetes, geruhsames und frohes Weihnachtsfest wünschen! Und sollte es in Ihnen eine gewisse Sehnsucht nach einer „weißen Weihnacht“ geben, so schließe ich mich Ihnen auch in diesem Punkte gerne an! Ihr Klaus Perrey

Aus meinen Lebenserinnerungen Folge 48

„Du alte Protestanten-Sau!“

– Ins „erzkatholische“ Emsland waren meine Mutter und ich (11) 1946 im Wege einer Familienzusammenführung von Berlin zu meinem Vater, dem Polizisten, gekommen:

„Als einziger Protestant inmitten römisch-katholischer Schüler fühlte ich mich auf Grund ihres herausfordernden Verhaltens ständig in eine Verteidigungsposition gedrängt. Im Extremfall flogen sogar Steine auf mich, und ich musste mir die Hassgesänge „Du alte Protestanten-Sau!“ und ähnliches gefallen lassen. Mein „Bekenner-Mut“ als erziehungsmäßig geprägter Lutheraner, mit mir selbst rätselhaft anmutenden Neigungen zum „Märtyrertum“, führte dann auch gelegentlich zu handgreiflichen Auseinandersetzungen auf dem Schulhof, die nur durch energisches, wenn auch zögerliches Einschreiten des Lehrers unterbunden werden konnten. Was mich aber am meisten fuchste, war der Umstand, dass ich von Seiten des schlichtenden Lehrers keinesfalls mit Zuspruch für mich oder gar einer Rüge für die mich attackierenden Schulkameraden rechnen durfte. Der Streit war beendet. Ursachenforschung entfiel! Da konnte ich mir natürlich meinen Vers drauf machen…

Ein Glück für mich in dieser Situation war die Tatsache, dass ich auf der Suche nach einer Möglichkeit, meinen immer noch unbändigen Lesehunger zu stillen, auf die reich ausgestattete katholische Pfarrbücherei gestoßen war und mich auf diese Weise nach und nach mit dem örtlichen katholischen Pfarrer angefreundet hatte. Dieser liebenswürdige ältere Herr hielt offensichtlich schon zu damaliger Zeit etwas vom heraufdämmernden ökumenischen Geist, in dem er mit mir als dem zugereisten „glaubensfernen Jüngling“ ev.-luth. Bekenntnisses auf die freundlichste und toleranteste Art und Weise umzugehen pflegte. Das waren für mich immer die schönsten Stunden der Woche, in denen ich mich mit den Stapeln verschlungener Bücher unter dem Arm beim Herrn Pfarrer melden durfte. Gern folgte ich seinen sachkundigen Leseempfehlungen und genoss – neben dem Glas frischer Milch, das mir seine runzelige Haushälterin zu servieren pflegte – auch das so wunderbar erfrischende Gespräch mit dem so liebenswerten Priester, das er mit mir immer „auf gleicher Augenhöhe“ führte. Er gab mir auf diese Weise das gute Gefühl. ernst genommen und (fast) wie ein Erwachsener behandelt zu werden. Ich habe bei diesem gütigen Menschen viel gelernt, viel über den katholischen Glauben, aber auch über Toleranz zwischen den unterschiedlichen Konfessionen. Seinen Bemühungen vor allem und seiner Autorität verdankte ich es, dass die Anfeindungen, denen ich anfangs in der Schule ausgesetzt war, sehr bald nachließen und schließlich total endeten. Ich wurde von meinen Mitschülern hinfort ernst genommen und akzeptiert. Wenn auch unverändert und für lange Zeit noch mit dem unsichtbaren „Aufkleber“ „FLÜCHTLINGSKIND!“ Aber das störte mich nicht sonderlich. Mein Selbstbewusstsein wuchs zusehends, nicht zuletzt auch durch die schulischen Leistungen, die nach und nach – nach den langen Zeiten der krankheitsbedingten schulischen Abstinenz – wieder so etwas wie Normalstand erreichten.

Ein ganzes, durch Flucht und Vertreibung versäumtes Schuljahr konnte ich mit Fleiß sehr schnell nachholen, und nach Ende der 4. Klasse wechselte ich dann in die Mittelschule nach Lathen, 4km von Oberlangen entfernt. Fast ein ganzes Jahr lang musste ich mich – mangels anderer Möglichkeiten – Tag für Tag, den der liebe Gott einen Schultag sein ließ, zu Fuß auf den Schulweg machen . 4km hin, 4km zurück! Wofür ist die Straße da, zum Marschieren, zum Marschieren in die weite Welt… Und die lag für mich da hinten, auf der anderen Seite der Ems. Die annähernd 300 km, die meine Mutter und ich im Sommer 1945 (Vertreibung) auf dem Weg von Pommern nach Berlin auf Schusters Rappen bewältigt hatten, waren da sicher ein ganz gutes Training gewesen für diese nun tägliche Anforderung. Es war nicht immer leicht. Vor allem nicht, wenn es regnete oder wenn die Sonne heiß vom emsländischen Himmel schien. Auch der Heimweg fiel mir, ganz im Gegensatz zum Pferdchen, das beschwingt dem heimischen Stall zustrebt, eigenartigerweise immer schwerer…“

ALLEN LESERINNEN UND LESERN wünsche ich von Herzen einen von Zuversicht und positivem Denken bestimmten Übergang ins Neue Jahr 2009, das Ihnen allen Gesundheit, Freude und Erfolg bescheren möge!

– weiter zur nächsten Folge –

2 Kommentare

  1. Lieber Herr Siebert, gerade entdeckte ich mit großer Freude das Ergebnis Ihrer „Fleißarbeit“ im Zusammenhang mit der Systemumstellung. Ich danke ihnen, dass Sie bei dieser Gelegenheit auch für meine „Lebensspuren“ einen Platz eingeräumt und damit ihre „Wiederauferstehung“ ermöglicht haben! DANKE für all Ihre Mühe und Ihre freundlichen Worte der Empfehlung! Für die weitere Arbeit an der Umgestaltung und Neuordnung darf ich Ihnen viel Kraft und Durchhaltevermögen wünschen! Ihr Klaus Perrey

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