Kabul, 10.09.2024 – Jetzt bin ich eine gute Woche in Kabul. Tagsüber ist der Himmel blau. Es wird über 30 Grad heiß. Nachmittags weht ein sanftes Lüftchen. Eigentlich ideal. Aber irgendwelche Pollen tummeln sich in der Spätsommerluft, und ich reagiere allergisch darauf. Jedenfalls muss ich oft niesen und husten. Die Nase ist verstopft. Vielen Afghanen geht es nicht besser. Auch muss ich gegen Diabetes ankämpfen und morgens und abends die Blutwerte messen. Die sind immer zu hoch, obwohl ich es mit der Ernährung so genau nehme wie sonst nie.
Als der Wecker mich heute früh in den Tag schubst, ist mir alles egal. Ich bin benommen. Alle Verrichtungen führe ich automatisch durch – wie von außerhalb gesteuert. Der Tag ist dahin. Den rettet mir keiner. Nun kommen auch noch Adschmal und Bahruddin. Die haben gestern Nachmittag und heute früh um sechs Uhr den Unterricht in Bini Hissar besucht. Darüber wollen sie berichten. Auch das noch! Mein dröhnender Kopf braucht Ruhe. Aber die kommen mir mit Bini Hissar. Doch als Chef kann man sich nicht drücken: „Also gut, um halb neun.“
Um halb neun nehmen Adschmal und Bahruddin mit mir auf der Veranda Platz. Hamid setzt sich dazu. Dann kommt noch Naqib, der Chef-Manager von OFARIN. Ich mache mich auf die vorhersehbaren Unerfreulichkeiten aus Bini Hissar gefasst. Dort sind Bilal und Naqib die Trainer, also die Aufseher über den Unterricht. Anne Marie und ich halten die beiden für faul. In Bini Hissar ist meist ein zu großer Teil der Schüler abwesend, und die Trainer finden dafür haarsträubende Begründungen. Die Leistungen der Schüler sind nur selten befriedigend.
Adschmal und Bahruddin beginnen: Die Anwesenheit der Schüler war hoch. Von den Leistungen der Schüler sind sie angetan. Wenn Bahruddin und Adschmal etwas nicht gefällt, dann sagen sie es. Aber sie loben nur. Was ist passiert?
Die Kollegen erklären mir, dass man während meiner Abwesenheit Seminare für die lokalen Trainer durchgeführt habe. Dabei hatte man die Trainer wie Lehrkräfte dafür geschult, selber Unterricht zu halten. Offenbar wissen die Trainer jetzt viel besser, was die Lehrkräfte, die sie betreuen, zu tun haben. Irgendwann hatten wir die Aufgaben der Trainer in einem Papier skizziert. Auch Inhalte dieser Zusammenfassung hatten den Weg in die Seminare gefunden. Jedenfalls hatte sich der Unterricht deutlich verbessert. Trainer, Lehrer und Schüler haben mehr Spaß bei der Arbeit. Bahruddin und Adschmal berichten auch, dass die Seminare für die Trainer nicht nur in Bini Hissar klare Fortschritte gebracht haben.
Der Unterricht war mein persönliches Revier. Über Pflanzung von Nussbäumen weiß ich vieles und auch über die Arbeit unserer Hebammen. Schließlich bin ich verantwortlich. Aber diese Projekte haben afghanische Kolleginnen und Kollegen geschaffen. Die haben sich alles ausgedacht, mit Betroffenen besprochen und dann mit glänzendem Erfolg durchgeführt.
Doch OFARINs Schulunterricht habe ich persönlich importiert. Die Lehrbücher hatte ich auf Englisch oder Deutsch verfasst und genau hingesehen, wie die Kollegen meine Texte in die Landessprachen übersetzt haben. Mehrfach habe ich den ganzen Unterricht umgekrempelt. Schließlich war er gut genug, dass viele Schüler den Stoff wirklich lernten und beherrschten. Seminare, in denen die Lehrer auf den Unterricht vorbereitet werden, hatte ich entworfen. Das alles war erfolgreich und gut.
Doch jetzt hatten die Kollegen von sich aus Seminare für Trainer entworfen und durchgeführt. Der Unterricht ist offenbar noch einmal besser geworden. Bilal und Naqib sind nicht faul. Sie wussten nur nicht gut genug, was sie als Trainer zu tun haben. Sie hatten Angst, wenn Besuch aus der Zentrale kam. Afghanische Kollegen hatten in meiner persönlichen Domäne ein eigenes Seminar installiert. Als Entwicklungshelfer glaubt man gerne, Verbesserungen müssten von uns Ausländern ausgehen. Aber erst wenn Afghanen Projekte von sich aus verbessern, beherrschen sie diese selber.
Am allermeisten freut mich, dass die Zusammenarbeit im Unterrichtswesen jetzt noch mehr von gegenseitigem Vertrauen getragen wird. Wir hatten gedacht, die Trainer Bilal und Naqib müssten mit Androhungen von Lohnkürzungen oder gar von Entlassungen genötigt werden, effizienter zu arbeiten. Die Trainer-Seminare der Kollegen haben nun gezeigt, dass Naqib und Bilal nur besser auf ihre Aufgaben vorbereitet werden mussten. Drohungen und Zwang können wir uns sparen. Die hätten ohnehin nichts gebracht. Naqib und Bilal wollen gerne dazu beitragen, den Unterricht zu verbessern. Man musste ihnen nur zeigen, wie das geht.
Stichproben und Nachrechnen sind unverzichtbar, wenn es ums Geld geht. Doch wenn es ums Zwischenmenschliche bei der Zusammenarbeit geht, z.B. bei der Verbesserung des Unterrichts, sollte man voraussetzen, dass alle das gleiche Ziel haben. Dann verbieten sich Drohungen und Strafen. Dann arbeiten alle ohne Angst aber mit mehr Freude und Erfolg.
OFARINs vielfältiges Programm, das in verschiedenen Landesteilen stattfindet, funktioniert nur auf der Basis gegenseitigen Vertrauens. Sobald Vorgesetzte die Mitarbeiter kontrollieren, zeigen sie, dass sie ihnen nicht trauen. Die Mitarbeiter protestieren gegen diesen Bruch des Vertrauens, indem sie nach Mitteln und Wegen suchen, die Kontrollen zu unterlaufen. In einem Kleinkrieg wird dann mehr und mehr Arbeitskraft und Intelligenz verschwendet, um Kontrollen zu verbessern bzw. auszuhebeln.
Schniefen und husten muss ich immer noch. Aber die gute Viertelstunde Berichterstattung über den Unterricht in Bini Hissar hat den Tag gerettet. Die Arbeit bei OFARIN macht Spaß.
Der Unterricht in Bini Hissar findet in einer großen und zwei kleinere Moscheen statt. In einer der kleineren Moscheen wurde jetzt ein ehemaliger Schüler von OFARIN Imam, also Leiter.
Mit freundlichen Grüßen,
Peter Schwittek.