Hat Emir Haibatullah den Bogen überspannt?

In Afghanistan ist das Leben nach dem Opferfest am Ende des Ramadan wieder erwacht. Unsere Schulen laufen. Unsere Hebammen führen Informationsveranstaltungen durch, besuchen und beraten Schwangere, begleiten Geburten, helfen Wöchnerinnen, untersuchen Neugeborene und sorgen dafür, dass den betroffenen Familien die nötigen Medikamente und Nahrungsmittel zur Verfügung stehen. Dabei stehen sie mit einem Bein im Gefängnis, denn ihr Tun ist immer noch nicht vom Gesundheitsministerium offiziell genehmigt worden. Für dessen Beamten ist die Arbeit der Hebammen ohne ihre Genehmigung ein krimineller Akt. Das Leben und die Gesundheit von Müttern und Kindern spielen keine Rolle. Die Hoheit der Verwaltung steht über allem.

Die jetzige Beamtenschaft wurde vor hundert Jahren vom König Amanullah geschaffen. Die Mullahs wehrten sich gegen die Modernisierungen Amanullahs und gegen seine Beamten. Dieser Kampf zwischen dem traditionellen Leben der Afghanen und dem Beamtenstaat bestimmte die Zeit seitdem. Jetzt haben sich mit den Taliban die Vertreter der religiös grundierten Tradition durchgesetzt. Aber auch sie müssen eine afghanische Staatlichkeit aufbauen. Es bleibt ihnen keine Wahl als dazu den alten Beamtenapparat zu nutzen, nachdem sie eigene Funktionäre in dessen Führungspositionen entsandt haben. Der Beamtenapparat mit seinen hoheitlichen Dünkeln und der Neigung zur Korruption hat also die Seite gewechselt und prägt jetzt auch den Staat der Taliban.

In Khost im Bezirk Tani haben von den 33.500 Nussbaumsetzlingen gut 2.600 keine Blätter getrieben. Sie werden ersetzt. Ein Team von fünf Mann streift beständig durch das Projektgebiet. Die Gruben, die für jeden Baum Flüssigkeit sammeln, werden in Ordnung gehalten. Das Team sorgt dafür, dass niemand Tiere ins Projektgebiet treibt. Jetzt wachsen dort nicht nur unsere Bäume. Aus dem Boden strecken sich Triebe von Eichen und Zedern. Die Bäume wuchsen dort vor Jahrzehnten und waren dann abgeholzt worden. Die kahlen Flächen wurden als Weideland genutzt. Jetzt haben die Eichen und Zedern wieder eine Chance. Durch Informationsveranstaltungen in den verstreuten Weilern des Projektgebietes wird die Bevölkerung für Erosion und Bewaldung sensibilisiert.

In diesem Herbst werden in den Rinnen, in denen die Niederschläge abfließen, Mauern aus Steinen errichtet, die von Maschendraht zusammengehalten werden. Das schränkt die Erosion weiter ein.

OFARIN hat seit 2023 mehrfach das Bergland des Bezirkes Zazi-Maidan in Khost besucht und mit Vertretern der Bevölkerung verhandelt. Inzwischen hat man ein ähnlich großes Areal wie in Tani festgelegt. Dort werden in diesem Spätherbst und Winter ebenfalls Nussbäume gepflanzt.

Inzwischen hat Haibatullah, der Emir von Afghanistan einen sehr langen Erlass herausgegeben, in dem er ein Zusammenleben der Afghanen erzwingen will, wie es zur Zeit der „alten Taliban“ (also von 1996 bis 2001) herrschte. Frauen dürfen nur total verschleiert den öffentlichen Raum betreten und dort nicht laut sprechen. Musik ist vollkommen verboten, auch auf Hochzeiten. Die Männer müssen sich Bärte wachsen lassen. Und so geht es weiter. Der Emir ist überzeugt, dass die katastrophale Herrschaft der alten Taliban genau die war, die die Scharia vorschreibt. Ja, er ging noch weiter. Er verbietet den Gläubigen, Freundschaft mit Ungläubigen zu schließen und zu pflegen.

Wenn ich mit meinen Kollegen in Kabul telefoniere, nehmen die die neuen Erlasse sehr gelassen hin. Das Leben in den Straßen habe sich nicht geändert, berichten sie. Zikria, einer unserer Fahrer, trägt seine Haare immer nach dem neusten Chick. Er könnte in jedem deutschen Jugendclub als DJ auftreten. Westliche Frisuren hat der Emir aber auch verboten. Wir stellen uns mit Vergnügen vor, wie Zikria mit dem Befehl des Emirs zurechtkommt, falls dieser tatsächlich Ernst macht.

Der Eindruck überwiegt, dass Emir Haibatullah den Bogen überspannt hat. Das werden ihm die anderen Taliban-Führer nicht durchgehen lassen. Die werden ihn stoppen. Aber wie soll das gehen? Als Haibatullah vor zwei Jahren verfügte, dass Mädchen nur bis zur sechsten Klasse zur Schule gehen und Frauen nicht studieren dürfen, reisten Seradschuddin, der Innenminister, und Mohammad Yaqoub, der Verteidigungsminister und Sohn von Mullah Omar, der zu Zeiten der alten Taliban Emir war, nach Kandahar, um den Emir umzustimmen. Das misslang. Sie vermieden offenen Streit. Der hätte schnell zum Bürgerkrieg und zum Verlust der Taliban-Herrschaft führen können.

Als Außenstehender neigt man dazu, das Kräfteverhältnis so zu beurteilen, wie die Menschen, mit denen man zu tun hat. Fast alle Taliban, die ich kenne, lehnen die restriktiven Schulgesetze des Emirs ab. Doch als Ausländer lerne ich Taliban, die mit Ungläubigen nichts zu tun haben wollen, kaum kennen. Außerdem bereise ich nicht alle Teile Afghanistans. Dennoch schätze ich, dass Haibatullahs neuer Vorstoß von der Mehrheit der Taliban abgelehnt wird. Natürlich wünsche ich mir eine Kurskorrektur, hoffe aber inständig, dass sie gewaltfrei gelingt.

Es ist auch denkbar, dass man den Emir gewähren lässt, aber seine Anordnungen immer weniger befolgt. Dann gäbe es bald keine nationale Entscheidungszentrale mehr. Die Macht würde auf mehrere Zentren übergehen. Die Machthaber dort würden näher an der Bevölkerung leben. Im Idealfall müssten sie mehr darauf achten, dass sie im Einverständnis mit den Einwohnern ihres Machtbereiches handeln. Ob und wie Afghanistan dann seine staatliche Einheit wahrt, bliebe offen.

Genug spekuliert! Der Emir Haibatullah hat mit weitgehenden Vorschriften kräftig in das Leben seiner Mitbürger eingegriffen. Das dürfte nicht ohne Folgen bleiben. Die kommenden Monate werden spannend. Von hier aus lässt sich schlecht vorhersehen, was kommt. Am ehesten wird man in Afghanistan erfahren, was die Zukunft bringt. Deshalb schweige ich jetzt lieber und reise nach Afghanistan.

Mit freundlichen Grüßen,

Peter Schwittek.