Es hat sich sehr wenig getan in Afghanistan. Die islamische Welt hat die Hadsch gefeiert. Daran haben aus Afghanistan viele Taliban teilgenommen, die in der staatlichen Verwaltung wichtige Posten einnehmen. Inzwischen sind die meisten Entscheidungsträger heimgekehrt. Aber nun werden sie von Freunden und Bekannten begrüßt und beglückwünscht. Da ist es für die Beamten unter den neuen Hadschis undenkbar, die Dienstgeschäfte in den Wochen nach der Heimkehr wieder aufzunehmen. So hat Frau Schlesier, die für Arte einen Film über uns drehen soll, noch immer keine Genehmigung dafür. Auch sind wir nicht sicher, ob das Hebammenprojekt, das wir im Kabuler Stadtteil Schindowal vorbereitet haben, den Segen des Gesundheitsministeriums bekommt.
Das Vorgehen der Behörden gegen beschuldigte Bürger
Immerhin hat sich eine böse Bedrohung eines unserer wichtigsten Mitarbeiter in Wohlgefallen aufgelöst. Hewad Khan Tanai war unser Chefbuchhalter, hatte sich aber auch bei der Organisation der Pflanzung der Nussbäume in Khost sehr verdient gemacht. Plötzlich wurde er von einer anderen Familie beschuldigt, vor gut zehn Jahren einen Mann erschossen zu haben. Er hat uns glaubhaft versichert, dass er die Tat nicht begangen hat. Aber der Vorwurf wurde den Behörden gemeldet und die stellten einen Haftbefehl aus. In unserem Fernsehen kann man täglich bewundern, wie die Polizei in Deutschland und in anderen Ländern die Wahrheit ermittelt. In Afghanistan gibt es nur wenige pfiffige Ermittler. Wenn sich dort ein Beschuldigter stellt oder wenn er gefangen wird, wird er auf der Polizeistation brutal zusammengeschlagen. Besteht er danach noch auf seiner Unschuld, wird er abermals misshandelt, man kann auch sagen: gefoltert. Wenn er danach immer noch behauptet, er sei unschuldig, hat man sich in „demokratischen“ Zeiten gesagt: „Dann wird der wohl tatsächlich unschuldig sein.“ und hat ihn laufen lassen. Die Taliban foltern aber den Beschuldigten weiter, bis er sich schuldig bekennt oder tot ist. Mir ist unbekannt, ob sich das Vorgehen der Taliban aus dem Scharia-Recht ableiten lässt. Hewad zog es jedenfalls vor, dieses Verfahren nicht über sich ergehen zu lassen und tauchte unter. Schließlich ging er nach Dubai, wo er mit ausländischen Arbeitskräften zusammenlebte. Mit Entsetzen berichtet er über deren Lebens- und Arbeitsbedingungen. Nun war der Mordvorwurf aber von Privat gegen Privat erhoben worden. Auch der Getötete war eine Privatperson. Nach afghanischer Vorstellung war dem Staat kein Nachteil entstanden. In solch‘ einem Fall laden die Behörden den Beschuldigten vor und ermitteln – wenn möglich – auf Ihre Weise. Wird der Beschuldigte aber nach einem halben Jahr nicht gefunden, ist die Angelegenheit für den Staat erledigt. Die Anschuldigung wird gelöscht. Hewad ist wieder in Afghanistan.
Anders ist es bei Abdul Hussain. Er war früher der Leiter unseres Programmes in Afghanistan. Er wurde von einem Beamten, der zu den Taliban gehört, beschuldigt, ein iranischer Spion zu sein. Die Beschuldigung war frei aus der Luft gegriffen. Auch Abdul Hussain wurde per Haftbefehl gesucht. Er verschwand nach Pakistan. Sein Fall ist leider nicht nach einem halben Jahr erledigt, weil er beschuldigt wird, etwas gegen den afghanischen Staat unternommen zu haben und nicht „nur“ gegen privat.
Mit besten Grüßen
Peter Schwittek