Afghanistan: Verzicht auf Kampf mit Windmühlenflügeln der Bürokratie

In Kabul hatte uns das beständige Harren auf kleine Fortschritte beim Kampf gegen bürokratische Hindernisse betäubt. Wieder in Deutschland haben wir diese Betäubung noch nicht ganz abgeschüttelt. Telecom und Sparkassenverband sorgen dafür, dass diese Betäubung nicht schnell vergeht. Bürokratie ist ein weltweites Übel. In Deutschland begegnet sie einem immer mehr in verschärfter Form, nämlich digitalisiert. Wenn ich am Computer vor einem Formular sitze, das ein Nerd, in seinem Kauderwelsch verfasst hat, sehne ich mich nach der übelwollenden, missgelaunten Person hinter dem Schalter, die einem vor zwanzig Jahren den Tag verdorben hat. Und wenn mir alle drei Minuten gesagt wird „Bitte warten! Der nächste freie Mitarbeiter wird sich an Sie wenden.“ und sonst seichtes Gedudel auf mich einrieselt, dann weiß ich, dass ich, der Bürger, gerade vor einer Behörde stehe – auf Augenhöhe, wie es heißt.

Der Niedergang der afghanischen Verwaltung verläuft allerdings nach Regeln, die nichts mit Digitalisierung zu tun haben. Die Taliban denken plötzlich systematisch und wollen Ordnung unter den Aufgaben der Ministerien schaffen. Wir hatten schon zahlreiche Ministerien genannt, die alle Unterrichtsprogramme betrieben. Ähnlich muss es auf anderen Feldern aussehen, etwa in der Medizin. So etwas hat sich allmählich entwickelt. Das Ministerium für die Grenzen hat z.B. Schulen gefördert, die sich um Söhne von „Freiheitskämpfern“, die in den Grenzgebieten zwischen Pakistan und Afghanistan angeblich für den Anschluss ihrer Heimat an Afghanistan kämpften. Wenn sich ein Ministerium eine Nische im Unterrichtswesen erkämpft hatte, verteidigte es diesen Brückenkopf erbittert und veranlasste weitere Minister, sich ebenfalls im Erziehungsbereich einzunisten. Dieses unsystematische Nebeneinander wollen die Taliban nun beseitigen – nicht nur im Unterrichtswesen, sondern auf allen Gebieten, in denen die Verwaltung waltet. Für Schulen und Unterricht soll nur noch das Erziehungsministerium zuständig sein. Geht das gut? Finden sich alle Ministerien, die jetzt Kompetenzen im Erziehungswesen abgeben sollen, damit ab, oder gibt es Hahnenkämpfe zwischen den Ministern? Wie integriert das Erziehungsministeriums die Vielfalt von Anstalten und Methoden, die sich unter der Ägide der anderen Ministerien im Unterrichtswesen entwickelt haben? Im Prinzip ist es richtig, hier Ordnung zu schaffen. Es fragt sich nur, wie das gerade jetzt umgesetzt werden soll.

Diese Neuordnung kommt zur Unzeit. Das Schulwesen steht im Fokus der politischen Auseinandersetzung um den Unterricht für Mädchen. Die von den Taliban erzwungene strikte Geschlechtertrennung – männliche Lehrer nur für Jungen, Lehrerinnen nur für Mädchen – ist organisatorisch noch lange nicht bewältigt. Das Erziehungsministerium ist in dieser Lage mit der Einordnung von Unterrichtsprogrammen des Ministeriums für Arbeit und Soziales, des Ministeriums für Flüchtlinge, des Ministeriums für das Grenzwesen und die Stämme, … überfordert. Hinzu kommt der talibanische Umbau der Verwaltung, der deren Handlungsfähigkeit ohnehin stark eingeschränkt hat. Dieser Umbau wurde in vorangehenden Rundbriefen beschrieben: Die Entscheidungspositionen wurden mit meist unqualifizierten Taliban besetzt; die nachgeordnete Verwaltung besteht aus den Bürokraten des vorherigen Regimes. Die Durchführung der Einordung der Erziehungsprogramme der anderen Ministerien wird Ewigkeiten in Anspruch nehmen. Das Erziehungsministerium wird den Überblick über den Stand der Dinge verlieren. Zumindest Teile der Schulverwaltung werden schlicht nicht mehr arbeiten. Eine solche Entwicklung findet derzeit in vielen Bereichen der Staatsverwaltung statt. Der Schulunterricht entgleitet dem Erziehungsministerium. In den meisten Provinzen liegt er bereits in den Händen lokaler Behörden oder von Privatinitiativen.

Auch in anderen Bereichen sorgen die Taliban für den Niedergang bestehender Institutionen. In Afghanistan ist OFARINs Hausbank die Azizi-Bank. Dort haben wir je ein Konto für Dollars, für Euros und für die afghanische Währung, den Afghani. Nach dem Einmarsch der Taliban fehlte es in allen Bereichen an Geld. Die Banken durften das vorhandene Geld nicht auszahlen. Später durften in jeder Woche nur 5 % der Einlagen abgehoben werden. Lange Schlangen bildeten sich schon nachts vor den Geldinstituten. Unsere Mitarbeiter machten sich die Mühe, ab und zu Geld abzuheben. Inzwischen befinden sich noch gut 10.000 € dort. Außerdem wurde wieder erlaubt, Geld, das neu überwiesen wurde, unbeschränkt abzuheben. Davon machten wir keinen Gebrauch, weil wir plötzliche staatliche Eingriffe fürchteten. Außerdem waren die äußeren Umstände des Geldabhebens weiterhin schwierig.

Inzwischen haben wir noch einen Grund, kein Geld mehr auf die Konten in der Azizi-Bank zu schicken – und uns an den Gedanken zu gewöhnen, dass wir unser Geld verlieren, das wir dort noch haben. Den Taliban fällt in dieser wirtschaftlich katastrophalen Lage nichts Besseres ein, als die Banken zu zwingen, „Islamisches Banking“ einzuführen. Im Islam ist es verboten für ausgeliehenes Geld Zinsen zu nehmen. Bei uns verleihen Banken Geld und nehmen dafür Zinsen ein. Dadurch können sie ihrerseits Sparern einen gewissen Zins für ihre Einlagen zahlen. Beim islamischen Banking darf dieses Geschäftsmodell nicht direkt angewandt werden. Es muss simuliert werden: Geldbesitzer werden mit Geldverleihern durch Vermittlung der Bank verbunden und die Bank erhält Gebühren für ihre Dienste. Im Detail ist das ein kompliziertes Verfahren. Die meisten afghanischen Banken sind nicht in der Lage, sich schnell auf dieses System umzustellen. Die Azizi-Bank schafft das auch nicht. Man rechnet damit, dass sie in den nächsten beiden Monaten zusammenbricht.

Der Beschluss der Taliban, Ordnung zwischen den Ministerien zu schaffen, beendet OFARINs freudlos gewordene Partnerschaft mit dem Ministerium für Religiöse Angelegenheiten. Es darf bezweifelt werden, dass OFARIN noch in einem afghan-bürokratisch einwandfreien Verfahren ein Partner des Erziehungsministeriums wird. Der Antrag auf diese neue Partnerschaft muss über das Wirtschaftsministerium eingeleitet werden. Darum bemühen wir uns seit Monaten. Dennoch ist dieser erste Teil des Prozesses noch nicht bewältigt. Das Wirtschaftsministerium braucht immer weitere Informationen und Dokumente. Diese endlosen Prozeduren werden übrigens nicht durch talibanische Eingriffe verursacht. Sie sind afghanische Verwaltungsroutine und hätten uns auch schon in „demokratischen“ Zeiten geblüht. Die Prozeduren sind so ausgestaltet, dass sie möglichst viele Ansätze für Schmiergeldforderungen bieten. Wenn wir die Hindernisse des Wirtschaftsministeriums überwunden haben, stehen wir vor denen des Erziehungsministeriums. Und das steht, wie oben beschrieben, unter erheblichem politischem und organisatorischem Druck.

Vermutlich wäre eine Partnerschaft mit dem Erziehungsministerium ein Vorteil für OFARIN. Aber es muss mit dem weiteren Verfall der Verwaltung gerechnet werden, so dass OFARIN in absehbarer Zeit, weitgehend unbehelligt von der Aufsicht durch ein Ministerium arbeiten wird. Das bedeutet vermutlich, dass wir ungestört unsere Lehrkräfte bezahlen können, wenn wir das Geld dazu haben. Da in jeder Gegend, in der wir aktiv sind, lokale Trainer von OFARIN arbeiten, die dort wohnen, wird unser Unterricht nicht unbeobachtet bleiben. Es wird von der Sicherheitslage abhängen, ob auch die Trainerinnen und Trainer, die im OFARIN-Büro arbeiten, den Unterricht ausreichend besuchen können.

OFARIN wird sich bemühen, in den nächsten Monaten durch seine Leistungen und seine Arbeitsweise den Rückhalt bei der Bevölkerung noch zu stärken. Wenn wir so arbeiten wie bisher, wird sich das von selbst ergeben. Es wäre schön, wenn wir auch die Aufmerksamkeit von Persönlichkeiten fänden, die eine führende Rolle spielen werden, wenn die Zeiten in Afghanistan wieder ruhiger und geordneter werden.

Herzliche Grüße,

Peter Schwittek.