Dieser Rundbrief soll ein Einblick in unsere Situation geben. Ein Durchblick wird es nicht. Den haben wir selber noch nicht.
Willkommen in Kabul:
Zwei deutsche Landsleute sind eingetroffen. Hadschi Latif und ich haben sie am frühen Morgen am Flugplatz abgeholt und fahren jetzt mit ihnen zu unserem Büro. Wir sind schon einige Kilometer auf den sechsspurigen Straßen unterwegs. Wir fahren nicht schnell aber ganz links, weil sich der Verkehr rechts von uns nur langsam bewegt. Hinter uns drängelt ein Fahrzeug und möchte uns überholen. Als sich die Möglichkeit bietet, weicht Hadschi Latif nach rechts aus. Das Fahrzeug hinter uns überholt uns und gibt uns ein Zeichen, rechts ranzufahren. Es ist mit drei Männern besetzt. Der Haartracht nach sind es Taliban. Vermutlich sind es Polizisten, die etwas am Fahrverhalten von Hadschi Latif auszusetzen haben. Ihr Fahrzeug hält rechts am Straßenrand. Wir halten dahinter.
Hinter uns taucht ein weiteres Fahrzeug auf. Der Fahrer springt raus, läuft zu uns vor und zieht eine Pistole. Seiner Aufmachung nach ist auch er ein Talib. (Taliban ist der Plural von Talib. Talib heißt Religionsschüler.) Durch das offene Fahrerfenster beruhigt er uns: Er sei Polizist. Die im anderen Fahrzeug seien Verbrecher, die uns kidnappen wollen.
In seinem Fahrzeug, das hinter dem unseren steht, sitzen viele Kinder. Der Mann, der tatsächlich Polizist ist, wollte die Kinder in die Schule bringen, als er die Situation, in die wir gerieten, durchschaute und eingriff. Geschossen hat er lieber nicht wegen der Kinder in seinem Auto. Die Verbrecher im Auto vor uns haben Gas gegeben und sich davon gemacht.
Kann man Regieren lernen?
In Deutschland meinte ich, unsere Regierung solle den Taliban etwas entgegenkommen. Die haben den Krieg gegen Demokratie und Menschenrechte gewonnen. Besonders schlimm traf es die Frauen. Es stimmt auch, dass die Taliban sich nicht an Zusagen halten, die sie dem Westen gemacht hatten, als dessen militärischer Rückzug vereinbart wurde.
Alle Ethnien sollten angemessen an der Macht im Staat beteiligt werden. Nichts ist davon zu sehen. Die Paschtunen, die etwas mehr als ein Drittel der Bevölkerung stellen, besetzen fast alle Führungspositionen. Islamistische Terroristen sollten sich nicht wieder in Afghanistan niederlassen können. Vor einem Monat wurde der Chef der Terror-Organisation Al-Qaida, die die Anschläge vom 11. September 2001 organisiert hatte, von einer US-Drohne getötet, als er sich auf dem Balkon des Hauses des talibanischen Innenministers aufhielt. Frauen sollten Rechte auf Bildung und Berufstätigkeit haben. Jetzt dürfen sie nicht einmal die Mittelstufe der Schulen besuchen.
Dennoch: Wenn der Westen Afghanistan isoliert, treibt er das Land in die Arme von „Partnern“ wie Iran, Russland, China oder Pakistan. Damit tut sich der Westen keinen Gefallen. Auch hätte man durch ein gewisses Entgegenkommen Einfluss auf die Rechte der Frauen und der anderen Ethnien nehmen können. Angesichts eigener Erfahrungen mit den „alten Taliban“, also denen, die bis 2001 regierten, hatte ich viel Vertrauen in den Pragmatismus und die Heterogenität der Taliban-Bewegung.
Als wir dann in Afghanistan eintrafen, stellten wir schnell fest, dass die Herrschaft der neuen Taliban – aus der Nähe gesehen – lange nicht so mild und „halb so schlimm“ ist, wie es von zu Hause aus aussah. In verschiedenen Gegenden – im Pandschir und nördlich des Hindukusch – wird noch gekämpft oder es gibt neue Unruhen. Scheinbar werden junge Männer umgebracht, damit sie sich nicht Widerstandsbewegungen anschließen können. Die Anzahl von Menschen, die bei Kämpfen, aber auch bei Erdbeben, Erdrutschen oder bei Anschlägen der Da’esch (also des „Islamischen Staates“) umkommen, werden offiziell weit niedriger angegeben als sie tatsächlich sind. Es gibt viel Hass und individuelle Sucht nach Rache. Menschen, die für die Regierung oder für Ausländer gearbeitet haben, sind auch jetzt nicht sicher vor Übergriffen.
Man darf den offiziellen Stellungnahmen einiger führender Taliban dennoch glauben, dass sie für Frieden und Ausgleich in der Bevölkerung sind und bisherige Feinde auffordern, sich am friedlichen Neuaufbau des Landes zu beteiligen. Wie sonst soll vermieden werden, dass die internen Gegensätze zu Bürgerkrieg und ausländischer Einmischung führen?
Aber nicht alle Taliban-Führer werben für Ausgleich und Verständigung. Anderen ist die Durchsetzung der Gesetze der Scharia und der Kultur des afghanischen Volkes wichtiger. Dabei dürften die Taliban die Scharia mit ihren weiten Möglichkeiten kaum kennen. So beschränken sie sich auf die Durchsetzung afghanischer Traditionen, genauer: Der Sitten der Menschen in den ländlichen Gebieten, mit straffem Patriarchat und Hass auf alle anderen Ethnien, Religionen und Konfessionen. Die Botschaften dieser Politiker kommen bei der Masse der Taliban, die selber aus den ländlichen Gegenden stammen, deutlich besser an als Appelle zu Versöhnung und konstruktiver Zusammenarbeit.
Taliban-Krieger haben mehr als zwei Jahrzehnte darüber nachgedacht, wie sie Treibstofftransporte oder Regierungsposten überfallen können. Darauf, wie man mit anderen Ethnien und Konfessionen oder gar Anhängern anderer Regierungsformen und Lebensstile zusammenleben und -arbeiten soll, hatten sie keinen Gedanken verschwendet – warum denn auch? Die musste man besiegen und dann zu bodenständigem, gottgefälligen Leben zwingen – was denn sonst?
Blicken wir auf die Verwaltungsstruktur, die die Taliban geschaffen haben! Sie haben die meisten unteren Verwaltungsposten unverändert gelassen. Die höheren Positionen ab Ra’is haben sie mit eigenen Leuten besetzt. Ra’is kann man mit Abteilungsleiter übersetzen. In der Verwaltungshierarchie sind Ra’isse die untersten Ränge mit Entscheidungskompetenz. Für die nationalen Ministerien braucht man Hunderte Rai’sse und höhere Entscheidungsträger. Man braucht sie auch für nachgeordnete Behörden, für die Ministerien der rund vierzig Provinzen und für die Bezirke. Der Staat der Taliban braucht einige Tausend Ra’isse und höhere Beamte.
Woher nimmt man die? Selbst wenn man wollte, findet man unter denen, die bisher Krieger und kleine Kommandanten waren, keine hundert Personen, denen klar ist, dass nur ein friedlicher Ausgleich an weiterem Blutvergießen, Bürgerkrieg und ausländischer Einmischung vorbeiführt. Für die anderen Entscheidungsträger ist die Welt recht übersichtlich besiedelt: Vertrauen kann man Menschen nicht, die keine Paschtunen sind und den meisten Paschtunen auch kaum. Schiiten sind Ungläubige. Ausländer sind Spione. Schulen sind Feinde des Islam.
Die Weltsicht dieser Entscheidungsträger fördert kein gedeihliches Zusammenleben. Vor allem ist die Erfahrungswelt dieser Menschen weit entfernt von allem, was eine einigermaßen funktionierende Verwaltung braucht. Dass eine Verwaltung, der andere zu gehorchen haben, selber Termine einhalten muss, ist für einen talibanischen Ra’is eine Zumutung.
Für Lohnauszahlungen an unsere Lehrer brauchen wir das Einverständnis unseres Partnerministeriums. Wir konnten Geld nach Afghanistan schaffen, um endlich Löhne auszuzahlen, die wir unseren Lehrkräften schuldig sind. Das Opferfest war nahe. Die Gläubigen kaufen, wenn es ihnen möglich ist, Kühe, Ziegen, Schafe oder Hühner, um sie zu schlachten, selber zu verzehren und um an Freunde oder arme Mitmenschen Fleisch zu verschenken. Damit kommen sie einer religiösen Pflicht nach. Unser Büro hatte unser Partnerministerium schon fünfmal schriftlich und noch öfter telefonisch gedrängt, die Auszahlung der fälligen Lohngelder zu bewilligen. Aber der Minister fand wochenlang keine Zeit, den Stempel unter unseren Antrag zu setzen. Der Rais erlaubte die Auszahlung nicht. Unser Verwaltungschef rief mich in seiner Not in Deutschland an. Wir entschieden, die Löhne auch ohne talibanische Genehmigung noch vor dem Fest auszuzahlen. Jetzt macht uns der Ra’is schwere Vorwürfe, dass wir nicht darauf gewartet haben, bis der Minister für unseren Antrag Zeit hatte und verhindert jede Lohnauszahlung an Lehrkräfte. Wie soll man mit solchen Partnern zurechtkommen? Die afghanischen Bürger haben es nicht einfacher mit ihren Ämtern und auch ein Zusammenspiel der Ämter untereinander gibt es nicht. Es klappt nichts.
Die Zusammensetzung dieser Verwaltung ist voller Sollbruchstellen. Die einfachen Beamten unter den Ra’issen sind weiterbeschäftigt worden. Die Oberschicht von Ra‘issen und höheren Entscheidungsträgern ist größtenteils des Lesens und Schreibens nicht mächtig. Bestenfalls sind sie paschtunisch alphabetisiert. Die Amtssprache ist aber in den meisten Landesteilen Dari. Diese Sprache können nur wenige Ra’isse lesen. Also sind sie stark von der Unterschicht der alten Beamten abhängig. Dieser Unterbau fürchtet seine neuen Herren, verachtet, und betrügt sie und nutzt sie aus.
Vor vielleicht vier Monaten rief ein alter Freund an: „Wann kommst Du nach Kabul? Wenn Du da bist, hole ich Dich ab. Wir können jetzt Euer Programm in unserer Provinz durchführen. Es herrscht eine große Freiheit. Es gibt viele Möglichkeiten.“ Jetzt bin ich in Kabul und der Freund sitzt mir gegenüber. „Nein, diese Regierung kann keine staatlichen Strukturen schaffen. Sie ist unfähig. Es wird jeden Tag schlimmer.“ – „Wie wird es dann weitergehen?“ – „Es wird Aufstände und einen Bürgerkrieg geben.“
Das Ariana-Krankenhaus:
Anne Marie und ich brauchen eine Arbeitserlaubnis. Der Hintergrund dieser Geschichte ist unerfreulich. Den erspare ich Ihnen. Für die Arbeitserlaubnis müssen wir uns medizinisch untersuchen lassen – von einem Augenarzt, einem Hautarzt, ein Labor muss ran – insgesamt sollen sich acht Spezialisten über uns hermachen. Wo geht man da hin? Offenbar gibt es mehrere Krankenhäuser, die das können. Wir wählen das Ariana-Krankenhaus und fahren mit Ingenieur Nagib dorthin.
Ein sechsgeschossiger Bau nimmt uns in Empfang. Alles ist peinlich sauber. Die zahlreichen Patienten finden sich ohne Schwierigkeiten zurecht. In jeder Abteilung warten wir eine angemessene Zeit und kommen dann dran. Überall werden wir von freundlichen Ärzten und nettem Personal behandelt. Die Geräte sind meist nicht die allerneusten. In deutschen Krankenhäusern standen entsprechende Apparaturen vor zwanzig Jahren. Aber die haben auch schon ausreichend gut gemessen, vielleicht auf eine Kommastelle weniger genau und zehn Sekunden langsamer als die heutige Technik. Aber die Technik hier reicht, wie sie vor zwei Jahrzehnten für uns gereicht hat. Die Abläufe sind eingespielt. Weibliche und männliche Angestellte arbeiten professionell zusammen. Ich bin kein Arzt. Aber das Ariana-Krankenhaus ist beeindruckend gut organisiert.
Der Ingenieur erzählt, dass es von einem afghanischen Arzt aus der Provinz Nangarhar aufgebaut wurde. Auch schwierige Operationen, z.B. am Herzen, werden hier durchgeführt. Es gibt einige andere Krankenhäuser in Kabul, die ähnlich arbeiten.
Afghanen können auf hohem Niveau organisieren, wenn man sie lässt.
Besuch von Sovida:
In unserem Unterrichtsgebiet „Ser-e-Kotal“ in Kabul läuft es schon lange nicht rund. Dort hingelockt wurden wir einst von Qarizadah, einem Mullah und Beamten aus dem Partnerministerium. Die Gegend war so arm, dass wir es nicht übers Herz brachten, dort nichts zu tun. Das war vor vielleicht 15 Jahren.
Jetzt sind wir unzufrieden. Die Anzahl der Schüler geht zurück. Einige Klassen wurden geschlossen, darunter alle Jungenklassen. Liegt das an Qarizadah? In Ser-e-Kotal ist er eine Führungsperson – aber eine umstrittene. Familien, mit denen er Streit hat, schicken ihre Kinder nicht in unseren Unterricht.
Fausia und Sovida sind in Ser-e-Kotal als Trainerinnen für die Aufsicht über den Unterricht zuständig. Beide sind Eigengewächse. Sie waren Schülerinnen bei uns, dann Lehrerinnen und schließlich Trainerinnen. Von ihnen bekamen wir bisher keine klaren Antworten, wenn wir nach Gründen für den schwachen Unterrichtsbesuch fragten.
Versetzen Sie sich in die Lage unserer Trainerinnen und Lehrerinnen! Seit Jahren mäkelt die Führung von OFARIN über schlechte Teilnehmerzahlen, unternimmt aber nichts. Die Trainerinnen und die Lehrkräfte wollen Unterricht geben. Sie wissen, warum es nicht rund läuft. Die Führung von OFARIN ist unzufrieden mit Qarizadah, vermeidet aber immer wieder den Bruch. Ja, Qarizadah hatte für sich und seine Familie ein sehr geräumiges Haus gebaut. Dorthin hatten wir den ganzen Unterricht verlegt. OFARIN half dabei, die neuen Räume für den Unterricht auszustatten. Mit solch‘ einer Allianz legten sich Trainerinnen und Lehrerinnen lieber nicht an. Wenn sie verraten, woran der Unterricht krankt, glaubt man ihnen das bei OFARIN nicht, und sie fliegen als Querulantinnen selber raus.
Einige Wochen vor unserer Ankunft hatte unser Büroleiter Abdul Hussain mit Qarizadah Klartext geredet. Er kündigte an, den Unterricht in Ser-e-Kotal einzustellen. Wenn wir da seien, werde das endgültig entscheiden. Aber wir waren uns schon am Telefon einig: Ser-e-Kotal wird geschlossen.
Irgendwoher wussten Trainerinnen und Lehrerinnen das schon. Sie wussten auch: Das ist das Ende von Ser-e-Kotal, wenn sie nicht handeln.
Als wir jetzt in Kabul eintrafen, kam Sovida, die jüngere der Trainerinnen, in unser Büro. Fausia ist die ältere Trainerin. Sie ist verheiratet und hat ein Kind. Fausias Bruder war vor wenigen Tagen bei einem Anschlag umgekommen. Daher kam Sovida allein. Sie ist keine zwanzig. Die Redlichkeit, die sie ausstrahlt, meint man zu spüren.
Ohne Umschweife erzählte sie, dass Qarizadah von allen Lehrkräften und auch von den Schülern, Gebühren für unseren Unterricht kassiert und nannte Zahlen dazu. Wir sahen uns betreten an. Vermutet hatten wir so etwas auch schon. Aber solange wir nicht ernsthaft Konsequenzen aus Missständen zogen, wagten Trainer, Lehrer und Schüler nicht, uns etwas zu sagen.
Sovida und ihre Kollegen hatten längst weitergedacht. Unten im Tal hatten sie eine Madressah gefunden. Dorthin kann der Unterricht verlegt werden.
Eine Madressah ist eine Religionsschule. Auch kleine Moscheen nennt man Madressah. Ist eine Madressa eine Moschee, dürfen wir dort keinen Unterricht für Mädchen durchführen. Aber Sovidas Madressah hatten Bürger geschaffen, um eine religiöse Ausbildungsstätte in ihrer Gegend zu haben. Jetzt nehmen sie gerne auch andere Unterrichtsprogramme auf, insbesondere solche für Mädchen. Der Unterricht ist mit den Regeln der Taliban vereinbar.
Allgemeines zum Unterricht:
Der vorangehende Abschnitt stellt die Situation in Ser-e-Kotal und das beherzte Handeln von Sovida und ihren Kolleginnen heraus. Das ist ungerecht, denn in ziemlich allen Gegenden, in denen unser Programm läuft, haben wackere Frauen – manchmal auch Männer – zugepackt, um den Unterricht, den OFARIN der Bevölkerung anbietet, weiter durchführen zu können. Mich rührt es an, wenn ich sehe, welche Opfer gebracht werden.
Die Schwierigkeiten In Ser-e-Kotal gehen auf Qarizadah zurück. Überall sonst leidet unser Unterricht unter den Bestimmungen der Taliban. Das Ministerium, unser „Partner“, hat den Unterricht für Mädchen in Moscheen verboten. Auch in Privatwohnungen darf nicht unterrichtet werden. Das betrifft auch die Jungen. Doch die dürfen wenigstens in den Moscheen weitermachen.
Den Mädchen haben die talibanischen Bestimmungen fast alle bisherigen Unterrichtsmöglichkeiten genommen. Nun ja, in Bini-Hissar nötigten die Weißbärte ihren Imam, in der Moschee Unterricht für kleine Mädchen zu erlauben. Die Weißbärte sind der Ältestenrat der Gemeinde. Ein Mullah lebt zum Teil von den Zuwendungen der Gläubigen. Diese sind verpflichtet, einen Teil ihres Einkommens für religiöse Zwecke zu spenden. Der Moslem kann diese religiöse Steuer seinem Imam zukommen lassen. Er kann aber auch religiöse Stiftungen oder Arme damit bedenken. Ich habe erlebt, dass Gemeinden ihren Imam regelrecht rausgemobbt haben.
Einige Räume am Rande des Moschee-Komplexes in Qalatscha gehören der Gemeinde. Die sind aber keine Moschee. Dort gab es schon immer Unterricht für Mädchen. Jetzt werden die Räume rund um die Uhr genutzt. Das reicht aber nicht. Lehrerinnen fanden acht weitere Räume, die sie angemietet haben. In Afschar wurde eine Garage angemietet. Die reicht den Tag über für die vier Klassen dort. In Reschkhor fanden Lehrerinnen drei Räume und einen Flur. In Dascht-e-Bartschi liegen weit verstreut achtzehn Klassen. Hier wurden verschiedenste Räumlichkeiten angemietet.
Überall haben sich Lehrerinnen aufgemacht und haben Räume gefunden, in denen man unterrichten kann. Die können ganztägig genutzt werden. Oft muss Miete gezahlt werden. Dazu legen die betroffenen Lehrerinnen zusammen. Bis zu einem Drittel ihres Lohnes opfern sie dafür. Ihr Monatsgehalt beträgt 3000 Afghani. Das entspricht derzeit 33 €. OFARINs Lehrkräfte unterrichten täglich nur 90 Minuten. Die Mieten, die die Lehrerinnen aushandeln, sind unglaublich günstig. OFARIN, als ausländische Organisation, müsste ein Vielfaches zahlen. Außerdem sind wir froh, dass wir nicht selbst als Mieter dastehen. Sonst würden bald überall neben den Lehrergehältern, Mieten für Unterrichtsräume fällig, verbunden mit ständigem Gefeilsche um die Miethöhen. Das würde den Unterricht verteuern, bzw. OFARIN müsste die Zahl seiner Klassen senken. Wir hoffen, dass das Partnerministerium das willkürliche Verbot des Unterrichts in Privatwohnungen aufhebt und Mietzahlungen entfallen. Diese Überlegungen sollen nicht davon ablenken, mit welcher Bravour unsere Lehrerinnen – manchmal auch Lehrer – für ihren Unterricht kämpfen. Mir fehlen die Worte.
Unser „Partnerministerium“ für Religiöse Angelegenheiten hat – scheinbar als Rache für die oben erwähnte Auszahlung von Lehrergehältern vor dem Opferfest – weitere Lohnauszahlungen blockiert. Zunächst müsse ein neues Protokoll – also ein Vertrag über die Zusammenarbeit – abgeschlossen werden. Der zuständige Ra’is hat vor einem Monat Vorschläge dafür angekündigt. Bisher hat er die nicht geschickt. Üblicherweise würde man in einem solchen Fall die weitere Zusammenarbeit nach bisherigen Regeln vereinbaren, bis das neue Protokoll unterzeichnet ist. Das lehnt der Ra’is ab.
Auf die Dauer ist OFARIN solchen Feindseligkeiten – oder ist es Inkompetenz? – nicht hilflos ausgeliefert. Etliche Ministerien (das Grenzministerium, das Landwirtschaftsministerium, das Ministerium für Arbeit und Soziales, … ) haben Abteilungen für Unterricht und Erziehung. Schon vor der Machtübernahme der Taliban hatten wir an eine Zusammenarbeit mit einer der verschiedenen Abteilungen des Erziehungsministeriums gedacht. Es sollte leicht möglich sein, zumindest für einen Teil unserer Klassen, Ministerien zu finden, mit denen eine Partnerschaft problemloser ist als mit dem Ministerium für Religiöse Angelegenheiten. Insbesondere der Unterricht in Privatwohnungen wird für andere Partner kein Problem sein.
Wir werden einen Weg aus den Ärgernissen finden, in denen wir stecken. Leider erfordert das alles unter den Bedingungen der talibanischen Verwaltung enorm viel Zeit. Wir brauchen Geduld und gute Nerven. Aber das haben wir.
Über eine endgültige Trennung vom Ministerium für Religiöse Angelegenheiten wäre ich unglücklich. OFARINs Programm ist 1998 auf das Drängen dieses Ministeriums entstanden. Es ist wichtig, die Mullahs und die Moscheen mit im Boot zu haben, wenn man in Afghanistan Fortschritte ansteuern will.
Liebe Freunde, unser Aufenthalt in Kabul gibt viel Anlass zum Verdruss. Gut, dass wir in dieser Phase hier sind. Sicher ginge es auch ohne uns. Hier ist alles in Ordnung. Aber die Gemeinschaft stärkt. Und für uns sind diese Erfahrungen wichtig. Vieles können wir noch nicht richtig einschätzen und erst recht nicht in die richtigen Worte fassen. Wir bemühen uns.
Bisher reichten weibliche oder männliche Trainer. Die konnten jeden Unterricht besuchen. Jetzt brauchen wir überall für die Jungen männliche Trainer und für die Mädchen weibliche. Das erfordert zusätzliches Personal. Aus der Tatsache, dass man uns vorübergehend die Auszahlung von Lohnschulden blockiert, schließen Sie bitte nicht, dass wir Geld sparen! Wir werden unsere Schulden begleichen, sobald die Taliban das nicht verhindern und wir das Geld dafür haben.
Bitte, halten Sie mit uns durch! Vergessen Sie unsere wackeren Lehrerinnen nicht! Unser Programm wird gebraucht.
Herzliche Grüße,
Peter Schwittek.
Das Ariana-Krankenhaus: Anne Marie und ich brauchen eine Arbeitserlaubnis. Der Hintergrund dieser Geschichte ist unerfreulich. Den erspare ich Ihnen. Für die Arbeitserlaubnis müssen wir uns medizinisch untersuchen lassen – von einem Augenarzt, einem Hautarzt, ein Labor muss ran – insgesamt sollen sich acht Spezialisten über uns hermachen. Wo geht man da hin? Offenbar gibt es mehrere Krankenhäuser, die das können. Wir wählen das Ariana-Krankenhaus und fahren mit Ingenieur Nagib dorthin.
Ein sechsgeschossiger Bau nimmt uns in Empfang. Alles ist peinlich sauber. Die zahlreichen Patienten finden sich ohne Schwierigkeiten zurecht. In jeder Abteilung warten wir eine angemessene Zeit und kommen dann dran. Überall werden wir von freundlichen Ärzten und nettem Personal behandelt. Die Geräte sind meist nicht die allerneusten. In deutschen Krankenhäusern standen entsprechende Apparaturen vor zwanzig Jahren. Aber die haben auch schon ausreichend gut gemessen, vielleicht auf eine Kommastelle weniger genau und zehn Sekunden langsamer als die heutige Technik. Aber die Technik hier reicht, wie sie vor zwei Jahrzehnten für uns gereicht hat. Die Abläufe sind eingespielt. Weibliche und männliche Angestellte arbeiten professionell zusammen. Ich bin kein Arzt. Aber das Ariana-Krankenhaus ist beeindruckend gut organisiert.
Der Ingenieur erzählt, dass es von einem afghanischen Arzt aus der Provinz Nangarhar aufgebaut wurde. Auch schwierige Operationen, z.B. am Herzen, werden hier durchgeführt. Es gibt einige andere Krankenhäuser in Kabul, die ähnlich arbeiten.
Afghanen können auf hohem Niveau organisieren, wenn man sie lässt.
Besuch von Sovida: In unserem Unterrichtsgebiet „Ser-e-Kotal“ in Kabul läuft es schon lange nicht rund. Dort hingelockt wurden wir einst von Qarizadah, einem Mullah und Beamten aus dem Partnerministerium. Die Gegend war so arm, dass wir es nicht übers Herz brachten, dort nichts zu tun. Das war vor vielleicht 15 Jahren.
Jetzt sind wir unzufrieden. Die Anzahl der Schüler geht zurück. Einige Klassen wurden geschlossen, darunter alle Jungenklassen. Liegt das an Qarizadah? In Ser-e-Kotal ist er eine Führungsperson – aber eine umstrittene. Familien, mit denen er Streit hat, schicken ihre Kinder nicht in unseren Unterricht.
Fausia und Sovida sind in Ser-e-Kotal als Trainerinnen für die Aufsicht über den Unterricht zuständig. Beide sind Eigengewächse. Sie waren Schülerinnen bei uns, dann Lehrerinnen und schließlich Trainerinnen. Von ihnen bekamen wir bisher keine klaren Antworten, wenn wir nach Gründen für den schwachen Unterrichtsbesuch fragten.
Versetzen Sie sich in die Lage unserer Trainerinnen und Lehrerinnen! Seit Jahren mäkelt die Führung von OFARIN über schlechte Teilnehmerzahlen, unternimmt aber nichts. Die Trainerinnen und die Lehrkräfte wollen Unterricht geben. Sie wissen, warum es nicht rund läuft. Die Führung von OFARIN ist unzufrieden mit Qarizadah, vermeidet aber immer wieder den Bruch. Ja, Qarizadah hatte für sich und seine Familie ein sehr geräumiges Haus gebaut. Dorthin hatten wir den ganzen Unterricht verlegt. OFARIN half dabei, die neuen Räume für den Unterricht auszustatten. Mit solch‘ einer Allianz legten sich Trainerinnen und Lehrerinnen lieber nicht an. Wenn sie verraten, woran der Unterricht krankt, glaubt man ihnen das bei OFARIN nicht, und sie fliegen als Querulantinnen selber raus.
Einige Wochen vor unserer Ankunft hatte unser Büroleiter Abdul Hussain mit Qarizadah Klartext geredet. Er kündigte an, den Unterricht in Ser-e-Kotal einzustellen. Wenn wir da seien, werde das endgültig entscheiden. Aber wir waren uns schon am Telefon einig: Ser-e-Kotal wird geschlossen.
Irgendwoher wussten Trainerinnen und Lehrerinnen das schon. Sie wussten auch: Das ist das Ende von Ser-e-Kotal, wenn sie nicht handeln.
Als wir jetzt in Kabul eintrafen, kam Sovida, die jüngere der Trainerinnen, in unser Büro. Fausia ist die ältere Trainerin. Sie ist verheiratet und hat ein Kind. Fausias Bruder war vor wenigen Tagen bei einem Anschlag umgekommen. Daher kam Sovida allein. Sie ist keine zwanzig. Die Redlichkeit, die sie ausstrahlt, meint man zu spüren.
Ohne Umschweife erzählte sie, dass Qarizadah von allen Lehrkräften und auch von den Schülern, Gebühren für unseren Unterricht kassiert und nannte Zahlen dazu. Wir sahen uns betreten an. Vermutet hatten wir so etwas auch schon. Aber solange wir nicht ernsthaft Konsequenzen aus Missständen zogen, wagten Trainer, Lehrer und Schüler nicht, uns etwas zu sagen.
Sovida und ihre Kollegen hatten längst weitergedacht. Unten im Tal hatten sie eine Madressah gefunden. Dorthin kann der Unterricht verlegt werden.
Eine Madressah ist eine Religionsschule. Auch kleine Moscheen nennt man Madressah. Ist eine Madressa eine Moschee, dürfen wir dort keinen Unterricht für Mädchen durchführen. Aber Sovidas Madressah hatten Bürger geschaffen, um eine religiöse Ausbildungsstätte in ihrer Gegend zu haben. Jetzt nehmen sie gerne auch andere Unterrichtsprogramme auf, insbesondere solche für Mädchen. Der Unterricht ist mit den Regeln der Taliban vereinbar.
Allgemeines zum Unterricht: Der vorangehende Abschnitt stellt die Situation in Ser-e-Kotal und das beherzte Handeln von Sovida und ihren Kolleginnen heraus. Das ist ungerecht, denn in ziemlich allen Gegenden, in denen unser Programm läuft, haben wackere Frauen – manchmal auch Männer – zugepackt, um den Unterricht, den OFARIN der Bevölkerung anbietet, weiter durchführen zu können. Mich rührt es an, wenn ich sehe, welche Opfer gebracht werden.
Die Schwierigkeiten In Ser-e-Kotal gehen auf Qarizadah zurück. Überall sonst leidet unser Unterricht unter den Bestimmungen der Taliban. Das Ministerium, unser „Partner“, hat den Unterricht für Mädchen in Moscheen verboten. Auch in Privatwohnungen darf nicht unterrichtet werden. Das betrifft auch die Jungen. Doch die dürfen wenigstens in den Moscheen weitermachen.
Den Mädchen haben die talibanischen Bestimmungen fast alle bisherigen Unterrichtsmöglichkeiten genommen. Nun ja, in Bini-Hissar nötigten die Weißbärte ihren Imam, in der Moschee Unterricht für kleine Mädchen zu erlauben. Die Weißbärte sind der Ältestenrat der Gemeinde. Ein Mullah lebt zum Teil von den Zuwendungen der Gläubigen. Diese sind verpflichtet, einen Teil ihres Einkommens für religiöse Zwecke zu spenden. Der Moslem kann diese religiöse Steuer seinem Imam zukommen lassen. Er kann aber auch religiöse Stiftungen oder Arme damit bedenken. Ich habe erlebt, dass Gemeinden ihren Imam regelrecht rausgemobbt haben.
Einige Räume am Rande des Moschee-Komplexes in Qalatscha gehören der Gemeinde. Die sind aber keine Moschee. Dort gab es schon immer Unterricht für Mädchen. Jetzt werden die Räume rund um die Uhr genutzt. Das reicht aber nicht. Lehrerinnen fanden acht weitere Räume, die sie angemietet haben. In Afschar wurde eine Garage angemietet. Die reicht den Tag über für die vier Klassen dort. In Reschkhor fanden Lehrerinnen drei Räume und einen Flur. In Dascht-e-Bartschi liegen weit verstreut achtzehn Klassen. Hier wurden verschiedenste Räumlichkeiten angemietet.
Überall haben sich Lehrerinnen aufgemacht und haben Räume gefunden, in denen man unterrichten kann. Die können ganztägig genutzt werden. Oft muss Miete gezahlt werden. Dazu legen die betroffenen Lehrerinnen zusammen. Bis zu einem Drittel ihres Lohnes opfern sie dafür. Ihr Monatsgehalt beträgt 3000 Afghani. Das entspricht derzeit 33 €. OFARINs Lehrkräfte unterrichten täglich nur 90 Minuten. Die Mieten, die die Lehrerinnen aushandeln, sind unglaublich günstig. OFARIN, als ausländische Organisation, müsste ein Vielfaches zahlen. Außerdem sind wir froh, dass wir nicht selbst als Mieter dastehen. Sonst würden bald überall neben den Lehrergehältern, Mieten für Unterrichtsräume fällig, verbunden mit ständigem Gefeilsche um die Miethöhen. Das würde den Unterricht verteuern, bzw. OFARIN müsste die Zahl seiner Klassen senken. Wir hoffen, dass das Partnerministerium das willkürliche Verbot des Unterrichts in Privatwohnungen aufhebt und Mietzahlungen entfallen. Diese Überlegungen sollen nicht davon ablenken, mit welcher Bravour unsere Lehrerinnen – manchmal auch Lehrer – für ihren Unterricht kämpfen. Mir fehlen die Worte.
Unser „Partnerministerium“ für Religiöse Angelegenheiten hat – scheinbar als Rache für die oben erwähnte Auszahlung von Lehrergehältern vor dem Opferfest – weitere Lohnauszahlungen blockiert. Zunächst müsse ein neues Protokoll – also ein Vertrag über die Zusammenarbeit – abgeschlossen werden. Der zuständige Ra’is hat vor einem Monat Vorschläge dafür angekündigt. Bisher hat er die nicht geschickt. Üblicherweise würde man in einem solchen Fall die weitere Zusammenarbeit nach bisherigen Regeln vereinbaren, bis das neue Protokoll unterzeichnet ist. Das lehnt der Ra’is ab.
Auf die Dauer ist OFARIN solchen Feindseligkeiten – oder ist es Inkompetenz? – nicht hilflos ausgeliefert. Etliche Ministerien (das Grenzministerium, das Landwirtschaftsministerium, das Ministerium für Arbeit und Soziales, … ) haben Abteilungen für Unterricht und Erziehung. Schon vor der Machtübernahme der Taliban hatten wir an eine Zusammenarbeit mit einer der verschiedenen Abteilungen des Erziehungsministeriums gedacht. Es sollte leicht möglich sein, zumindest für einen Teil unserer Klassen, Ministerien zu finden, mit denen eine Partnerschaft problemloser ist als mit dem Ministerium für Religiöse Angelegenheiten. Insbesondere der Unterricht in Privatwohnungen wird für andere Partner kein Problem sein.
Wir werden einen Weg aus den Ärgernissen finden, in denen wir stecken. Leider erfordert das alles unter den Bedingungen der talibanischen Verwaltung enorm viel Zeit. Wir brauchen Geduld und gute Nerven. Aber das haben wir.
Über eine endgültige Trennung vom Ministerium für Religiöse Angelegenheiten wäre ich unglücklich. OFARINs Programm ist 1998 auf das Drängen dieses Ministeriums entstanden. Es ist wichtig, die Mullahs und die Moscheen mit im Boot zu haben, wenn man in Afghanistan Fortschritte ansteuern will.
Liebe Freunde, unser Aufenthalt in Kabul gibt viel Anlass zum Verdruss. Gut, dass wir in dieser Phase hier sind. Sicher ginge es auch ohne uns. Hier ist alles in Ordnung. Aber die Gemeinschaft stärkt. Und für uns sind diese Erfahrungen wichtig. Vieles können wir noch nicht richtig einschätzen und erst recht nicht in die richtigen Worte fassen. Wir bemühen uns.
Bisher reichten weibliche oder männliche Trainer. Die konnten jeden Unterricht besuchen. Jetzt brauchen wir überall für die Jungen männliche Trainer und für die Mädchen weibliche. Das erfordert zusätzliches Personal. Aus der Tatsache, dass man uns vorübergehend die Auszahlung von Lohnschulden blockiert, schließen Sie bitte nicht, dass wir Geld sparen! Wir werden unsere Schulden begleichen, sobald die Taliban das nicht verhindern und wir das Geld dafür haben.
Bitte, halten Sie mit uns durch! Vergessen Sie unsere wackeren Lehrerinnen nicht! Unser Programm wird gebraucht.
Herzliche Grüße,
Peter Schwittek.
Mehr Informationen unter: www.ofarin.org
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Sparkasse Mainfranken Würzburg
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