Offener Brief an den Ukrainischen Botschafter Dr. Melnyk

Sehr geehrter Herr Dr. Melnyk,
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Ihre manchmal sehr deutlich werdende Verzweiflung kann ich gut verstehen, ebenso auch die Ihres Präsidenten. Ich verstehe auch Ihre Auffassung, dass Ihr Volk mit seinen tapferen Männern Europa nicht  nur einen großen Dienst erweist, sondern auch schützt.
Ihre Kritik an einer gewissen Langsamkeit in Deutschland ist auch berechtigt.
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Aber ich glaube, dass Sie auch vieles übersehen: Am Zerfall des UDSSR hatte auch Deutschland einen gewissen nicht zu unterschätzenden Anteil. Die „Ostpolitik“ Willy Brandts hat Entwicklungen in Gang gesetzt, von denen auch Sie profitiert haben, usw. usw…. – Wir könnten nun viel debattieren und uns mit Fehlern der Verangenheit beschäftigen….
– Aber meinen Sie nicht, dass wir das wirklich informierten Historikern überlassen und denen ein paar Jahre Zeit geben sollten?
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So schlau, uns darüber schnelle und treffende Urteile anzumaßen, sind weder ich noch Sie noch Herr Präsident Selenskyj, den ich ansonsten durchaus bewundere.
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Glauben Sie nicht, dass wir alle hier in Europa jetzt Wichtigeres zu tun haben?? – Jeder geht seinen Weg, hat seine Gedanken und Verantwortung, keiner sollte es sich leicht machen und den Anderen verurteilen bevor er dessen Gedanken und Handlungen wirklich kennt. Nur so haben wir alle die größtmögliche Kraft, die wir noch über Monate und vielleicht Jahre hinweg benötigen werden…
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Leider stellen Sie und Herr Selenskyj die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung durch Ihre Reden und Ihr Vorgehen, insbesondere durch die Tatsache einen allseits beliebten und anerkannten Bundespräsidenten einen Besuch in Ihrem Land zu verweigern, vor das Problem einen solchen Affront  gut zu heißen oder auch nur hinzunehmen.
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Sie haben, das lassen Sie mich deutlich sagen, die gedankliche und gefühlsmäßige Umorientierung innerhalb der Deutschen Bevölkerung nicht sehr gut verstanden. Diese Umorientierung findet – hier schneller, dort langsamer – durchaus statt, aber sie ist beschwerlich und sollte nicht durch undiplomatische Reden und Aktionen aufgehalten werden, denn der Eine oder die Andere wird sauer sein über die ‚Unverfrorenheit‘ mancher Ihrer Reden und der Handlung Ihres Präsidenten. Liefern Sie denen keinen Ausreden, die die Tendenz haben in dem Bemühen die ‚Zeitenwende‘ zu vollziehen nachzulassen. Distanzieren Sie die Deutschen nicht von der wachsenden Solidarität mit der Ukraine! – Versuchen Sie politischen Schaden zu begrenzen!
Handeln Sie nicht gegen Ihre eigenen Interessen und denen Ihres eigenen Landes!
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Mit freundlichen Grüßen
Wolfgang Siebert