Afghanistan beginnt sein Neujahr in Starre – Zum Schluss eine gute Nachricht

Am 21. März war Naurus, also Neujahr. Da begann das Neue Jahr im afghanischen Kalender. Afghanistan und Iran haben den gleichen Kalender. In diesem Kalender ist immer der 21. März, also der Frühjahrsbeginn, der Neujahrstag. Das Jahr hat, wie bei uns, zwölf Monate, die in Afghanistan die Namen der Sternkreiszeichen führen. Das Jahr Null dieses Kalenders ist das Jahr der Hidschra, also des Umzugs des Propheten Mohammed und seiner Anhänger von Mekka nach Medina, wo der erste islamische Staat entstand. Das geschah nach christlicher Zeitrechnung im Jahr 621, so dass am 21. März 2022 das Jahr 1401 der afghanischen und der iranischen Zeitrechnung begann.

Bitte seien Sie nicht zu kleinlich mit den Zahlen! Die Hidschra fand nicht ordentlich am 1. Januar 621 statt, sondern im Sommer dieses Jahres. Manchmal wird sie für das Jahr 622 nach Christus angegeben.

Der Kalender der meisten arabischen Länder unterscheidet sich vom Kalender der Afghanen und Iraner. Aber auch er beginnt mit der Hidschra. Doch die zwölf Monate des arabischen Kalenderjahres richten sich nach dem Mond. Sie beginnen und enden jeweils am Neumond. Da zwölf Umläufe des Mondes um die Erde gut neun Tage schneller beendet sind als ein Umlauf der Erde um die Sonne, haben wir jetzt im arabischen Kalender das Jahr 1443.

Die großen Feste aller Moslems richten sich nach den Feiertagen des arabischen Kalenders. Auch der heilige Monat Ramadan ist ein Monat des arabischen Kalenders.

Im vorislamischen Persien wurde zum Frühlingsbeginn am 21. März ein Frühjahrsfest gefeiert. Der Beginn des iranisch-afghanischen Kalenderjahres wurde auf diesen vorislamischen Feiertag gelegt. Im Iran wird der Beginn des neuen Jahres tagelang gefeiert.

Auch in Afghanistan ist das Neujahrsfest ein Volksfest. In Kabul wird es vor allem in den schiitischen Stadtteilen gefeiert. Das Zentrum der afghanischen Neujahrsfeiern ist aber Mazar-e-Scharif. Dort beteiligen sich alle am Neujahrsfest. Viele Menschen reisen aus allen Teilen des Landes nach Mazar. Vor allem Musiker strömen zusammen und geben zwei Wochen lang Konzerte.

Den alten Taliban – also denen, die in Afghanistan bis 2001 herrschten – war der unislamische Ursprung des Festes ein Stein des Anstoßes. Sie versuchten das Fest zu verhindern, indem sie die Zufahrtsstraßen zu den Stadtvierteln sperrten, in denen die Menschen feiern wollten. Doch hielten sie solche Kraftakte nicht immer durch und brachen die Sperren nach wenigen Stunden ab. Auch radikale sunnitische Islamisten wie die Anhänger des Islamischen Staates bekämpften das Neujahrsfest durch blutige Anschläge auf Volksfeste und Gottesdienste der Schiiten.

In diesem Jahr war die Lust aufs Feiern angesichts der katastrophalen Versorgungslage gering, so dass das Neujahrsfest kein Anlass für besondere Vorfälle war.

 

Mein Bericht über zeitlose Gewissheiten wie die Kalender der Araber, Iraner und Afghanen zeigt Ihnen schon, dass ich nicht viel Aktuelles zu sagen weiß. In Kabul wartet man.

Man wartet und hofft auf größere Änderungen zum Besseren. Selbst die Taliban sehen, dass es so nicht weitergehen kann. Die internationale Gemeinschaft sieht das auch. Sie hat die finanziellen Möglichkeiten, zu helfen und kann dafür Bedingungen stellen und tut das vermutlich auch. Darauf stützen sich die Hoffnungen der Menschen auf Änderungen. Aber welche Änderungen könnten das sein?

Lebensmittelhilfen für die Bevölkerungen sind sicherlich erforderlich. Aber wie führt man die durch? Dazu braucht man viele Organisationen, die über zahlreiche zuverlässige Mitarbeiter verfügen, damit alle Menschen in Afghanistan ihre Portion bekommen. Um die Jahrtausendwende gab es in einer bei weitem nicht so schlimmen Lage, viele, meist ausländisch geführte, Hilfsorganisationen, die in der Lage waren, solche Programme zu organisieren. Aber jetzt?

Vor allem sind die Taliban vollkommen zerstritten und kaum in der Lage, Entscheidungen zu treffen. Sicher besteht ein großer Druck der internationalen Gemeinschaft, die Schulen auch für Mädchen wieder zu öffnen. Schülerinnen bis zur sechsten Klasse gingen bereits wieder zur Schule. Jetzt ging es um die Klassen 7 bis 12. Am zweiten Tag nach Neujahr begann das neue Schuljahr. Am Abend davor wurde verkündet, dass nun auch der Unterricht für große Mädchen wieder beginnt.

Am nächsten Morgen wurde den Mädchen, die erwartungsvoll vor den Schulen standen, mitgeteilt, dass sie noch einige Monate warten müssen. Es müsse noch vieles geklärt werden. Vor allem müsse eine Schulkleidung für Schülerinnen entwickelt werden, die mit den Scharia-Gesetzen und den Sitten Afghanistans vereinbar sei.

Das lässt ahnen, welche Vorstellungen in den Köpfen mancher Taliban-Häuptlinge herumspuken. Der Verlauf der Posse zeigt auch, dass Standpunkte innerhalb der Taliban-Bewegung sehr gegensätzlich und vollkommen ungeklärt sind. Wenn man berücksichtigt, dass Afghanistan Hilfe braucht und mögliche Geldgeber auf dem Unterricht für Schülerinnen bestehen, ist es sehr wahrscheinlich, dass sich die Umstände des Schulunterrichtes noch erheblich ändern werden.

Im Februar-Rundbrief hatte ich darüber berichtet, dass unsere Mitarbeiter es abgelehnt haben, jetzt schon mit dem Unterricht zu beginnen. Die Posse um die Beschulung älterer Mädchen zeigt, dass unsere Kollegen richtig entschieden haben. Auf den ersten Blick scheint uns die Geschichte kaum zu betreffen, denn unser Unterricht ist elementar und richtet sich nicht an Schüler der siebenten Klasse. Aber es geht um das Alter der Schülerinnen, und wir unterrichten auch erwachsene Frauen. Unser Partnerministerium hat jeden Unterricht für Mädchen in Moscheen abgelehnt. Unterricht in Privatwohnungen erlaubt es auch nicht. Solange wir uns mit diesen „Partnern“ arrangieren müssen, haben wir keine Möglichkeit, Frauen oder Mädchen zu unterrichten. Es ist also sinnvoll, auf eine Änderung der Arbeitsbedingungen zu warten, zumal die Aussichten darauf realistisch ist.

Ich könnte mir vorstellen, dass wir wieder mit dem Unterricht beginnen, sobald die große Mehrheit unserer Schüler teilnehmen darf. Wir würden anfangen, auch wenn zunächst kleine Gruppen – z.B. erwachsene Frauen – vom Unterricht ausgeschlossen sind und dann nach Mitteln und Wegen suchen, uns von solchen Einschränkungen zu befreien. Außerdem dürften in den Provinzen die offiziellen Vorschriften, die in der Hauptstadt gelten, wesentlich lockerer gehandhabt werden. Aber das Gros unserer Klassen befindet sich in Kabul, so dass es richtig ist, sich noch etwas zu gedulden.

Zum Schluss dann doch noch etwas Positives: Beheschta ist eine Schülerin von uns, deren Auge vor Jahren bei einem Streit mit den Geschwistern verletzt wurde. Ihr Vater Saber brachte sie damals nach Pakistan, hatte aber nicht das Geld, um eine Behandlung zu bezahlen. Im letzten Sommer war er wieder mit seiner Tochter in Pakistan. Der Augenarzt teilte ihm mit, dass das Auge inzwischen verloren sei und eine Prothese eingesetzt werden müsse. Wieder hatte Saber nicht das nötige Geld und reiste nach Kabul zurück. Jetzt erst sprach er mit OFARIN darüber. Wir berichteten im Rundbrief darüber und ein Ehepaar erklärte sich spontan bereit, die Behandlung zu finanzieren. Weitere Hilfsangebote gingen ein. Aber inzwischen war die Grenze nach Pakistan wegen Corona geschlossen und blieb es dann wegen des Einmarsches der Taliban.

Beheschta wurde in Kabul von Dr. Kamal betreut. Er selber hätte den Eingriff durchführen können, riet aber dazu, abzuwarten, bis die Behandlung in Pakistan möglich sei, da man in Afghanistan nur minderwertige Prothesen bekommen könne. Dr. Hager, ein deutscher Augenarzt, bot an, das für den Eingriff nötige Material zu beschaffen. Davon konnten wir keinen Gebrauch machen, weil unter den jetzigen Umständen der Transport nicht möglich war.

Inzwischen können Afghanen wieder nach Pakistan reisen, sofern sie es schaffen, ein Visum zu bekommen. Saber gelang das für Beheschta und sich. Die Behandlung von Beheschta konnte erfolgreich abgeschlossen werden. Die Prothese muss vermutlich in einigen Jahren erneuert werden, wenn Beheschta größer ist. Die Aufnahme zeigt Vater und Tochter direkt nach Ihrer Rückkehr nach Afghanistan.

Herzliche Grüße,

Peter Schwittek.