Afghanistan II: Eine gespaltene Gesellschaft zusammen führen

(Fortsetzung von Teil I, der gestern erschienen ist)

Afghanistan ist spätestens seit 1919 ein gespaltenes Land. Schon vor dem ersten Weltkrieg waren einige wohlhabende Afghanen bis nach Europa oder gar Amerika gereist. Dort sahen sie Fabriken, in denen die tollsten Produkte schnell und zu niedrigen Preisen hergestellt wurden. Sie fuhren in Eisenbahnen von einer Stadt in die nächste. Sie sahen die Jugend der Gastländer in den Schulen und Universitäten Theorien studieren, von denen die weisesten Männer Afghanistans noch nie etwas gehört hatten. In Kliniken wurden Krankheiten geheilt, die in Afghanistan niemand überleben würde. Die reisenden Afghanen schämten sich, wie rückständig ihr Land war. Wieder zu Hause drängten sie darauf, Afghanistan so zu organisieren wie ein modernes Land.

1919 bestieg der König Amanullah den afghanischen Thron. Er war bereit, sein Land in die Zukunft zu katapultieren. Die Wehrpflicht wurde eingeführt und die Schulpflicht. Ein Gesetzbuch wurde geschaffen und Richter und Staatsanwälte. Die Verwaltung wurde in Fachministerien eingeteilt. Viele Beamte wurden eingestellt. Die Zukunft hatte begonnen. Afghanistan wurde modern. Es brauchte sich nicht mehr vor Italien oder England zu verstecken.

Der Jubel der Modernisten, der Anhänger des Fortschritts, war groß. Für sie waren die Beamten die Personifizierungen der neuen Zeit. Sie wurden gefeiert und geehrt. Der Staat konnte mit seiner Verwaltung für Ordnung sorgen. Jetzt konnte nicht mehr jeder Afghane dort ein Haus bauen oder ein Geschäft eröffnen, wo es ihm passte. Der Staat legte fest, wo das erwünscht war und wo nicht. Der Bürger musste einen Antrag stellen, wenn er ein Haus bauen wollte. Die Verwaltung entschied darüber, ob das Haus der staatlichen Planung entsprach. So konnte staatliche Planung durchgesetzt werden – und die Korruption aufblühen. Viele Beamte verstanden ihre Aufgabe nicht. Niemand konnte sie in ihre Pflichten einweisen. Das Erziehungsministerium sollte den Unterricht in den Schulen überwachen. Aber die meisten Beamten dieses Ministeriums waren selber nicht in die Schule gegangen. Dennoch verbanden sich viele Hoffnungen mit ihnen.

Die Nomaden, die Bauern und die kleinen Handwerker in den Städten waren skeptischer. Was sollten ihre Kinder in der Schule? Die brauchten sie für die Arbeit in der Familie. Und die Söhne zum Militär zu schicken war erst recht eine Zumutung. Warum machte man alles nach, was es in den Ländern der Ungläubigen gab? Früher lag die Rechtsprechung in der Hand von religiös ausgebildeten Kadis. Jetzt konnte man auch vor einem staatlichen Gericht um sein Recht kämpfen. Wollte man die Macht des Klerus schwächen? Viele Mullahs sahen das so. Sie misstrauten den Neuerungen und bestärkten große Teile der Bevölkerung in ihrer Abwehrhaltung. Sie predigten, dass es eine Sünde sei, seine Kinder in die staatliche Schule zu schicken.

Der Glaube an den Segen der Moderne und die Herrschaft des Staates und seiner Bürokratie war für seine Anhänger eine Ersatzreligion, eine Ideologie. Der Traditionalismus, die Ablehnung von Modernisierungen, das Misstrauen gegen den Staat und die Unterstützung der Mullahs war die Gegenideologie. 1929 entluden sich die Spannungen in einem furchtbaren Aufstand. König Amanullah dankte ab und ging ins Ausland um das Blutvergießen zu begrenzen. Es kostete Mühen, die Ordnung wiederherzustellen. In den Jahrzehnten danach lebten die Modernisten, die glaubten, dass der Staat Fortschritt und Glück bringen wird, und die Traditionalisten, die Angst um ihre Identität und ihre Religion hatten, in grimmiger Feindschaft nebeneinander.

1978 putschen sich afghanische Kommunisten an die Macht. Noch energischer als Amanullah wollten die Kommunisten Afghanistan durch die Herrschaft des Staates in eine noch bessere Zukunft führen. Auch sie bedrohen Religion und Traditionen. Militärischer Widerstand erhob sich. Die Sowjetunion schickte eigene Truppen. Westliche und islamische Länder unterstützten den afghanischen Widerstand.

1992 waren die Kommunisten besiegt. Doch nun kämpften die siegreichen Parteien der Traditionalisten verbissen um die Macht. Eine weitere Partei, die Bewegung der Taliban, entstand während dieses Bürgerkriegs. Ihre traditionalistische Ideologie, geht mit ihren islamistischen Vorschriften deutlich über die traditionelle Religionsausübung der Afghanen hinaus. Die Taliban gewinnen im Bürgerkrieg die Oberhand. Aber es gelingt ihnen nicht, das ganze Land zu erobern, obwohl sie von Pakistan, Saudi-Arabien und Islamisten aus anderen Ländern kräftig unterstützt werden.

Einer dieser Islamisten war der Araber Osama bin Laden. Der plante und organisierte von Afghanistan aus, weltweit Anschläge. Insbesondere die Anschläge vom 11. September 2001 auf die USA gehen auf ihn zurück. Die USA forderten die Taliban auf, bin Laden auszuliefern. Die Taliban lehnten ab. Die USA griffen die Taliban mit der Luftwaffe an. Die Taliban flohen.

Die Weltgemeinschaft beschloss, Afghanistan zu einem funktionierenden, stabilen Staat zu machen. Nie wieder sollten von hier aus Terroristen Anschläge planen können. Auf Grund der Erfahrungen von 1992, als die Sieger über die Kommunisten in einem Bürgerkrieg übereinander herfielen, beschloss man, den Neuanfang durch die Entsendung des internationalen Truppenkontingents ISAF zu stabilisieren. Die Staatsform Afghanistans sollte die Demokratie sein.

Den Ländern, die den Neuanfang Afghanistans planten, fiel nur diese Staatsform ein. Schließlich waren sie selber Demokratien. Die Afghanen hatten keine Wahl. Sie hatten bisher keine Demokratie erlebt.

 

Zur ISAF gehörten zunächst keine amerikanischen Truppen. Die USA entsandten ein eigenes Kontingent, das den Terrorismus bekämpfen sollte. Was das bedeutete, war unklar. Das feindselige Auftreten dieser Truppen legt nahe, dass es sich um einen Rachefeldzug für die Anschläge vom 11.9.2001 handelte. Jedenfalls trug dieses US-Kontigent sehr zur Wiederbelebung der Taliban-Bewegung bei. Später wurden die amerikanischen Truppen und die ISAF zusammengefügt, was den Schaden nur noch vergrößerte.

Für die Traditionalisten waren die Völker, die sich um den Neuaufbau des Staatswesens bemühten, ungläubig. Damit waren diese Länder zumindest Gegner des Islam, denn für Moslems gibt es keine Religion, die mit dem Islam gleichberechtigt sein kann. Auch das, was den Afghanen mit der Demokratie aufgenötigt werden sollte, verstieß gegen die Traditionen: Die Gleichberechtigung der Frauen, die Gleichwertigkeit aller Religionen und Ethnien – das ging weit über das hinaus, was der König Amanullah seinem Volk zumuten wollte.

Für die Traditionalisten war der Versuch, eine Demokratie zu installieren, nur die Fortsetzung der Modernisierer und ihrer ungläubigen Helfer, die Traditionen des Landes und seine Religion zu zerstören. Die Modernisten fügten sich lustlos in den neuen Versuch ein. Sicher, die Demokratie sollte auch eine starke Regierung schaffen, die das Land mit Hilfe einer Bürokratie regierte. Aber die ausländische Regie bei diesem Neuanfang gefiel vielen Menschen nicht, zumal sie zahlreiche Fehler machte. Die Mehrheit der Modernisten machte dennoch mit, aber sie stand nicht dahinter. Es war nicht ihr Ding.

Im Grunde bestand die Spaltung der Gesellschaft weiter und hat mit dem Sieg der Taliban keine Befriedung erfahren. Große Teile der Bevölkerung wollen jetzt ihr Land verlassen. Die Taliban haben kein Konzept, Afghanistan zu einem Land zu entwickeln, das Anschluss an das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben findet, und schließlich ein gleichberechtigtes Mitglied der Völkergemeinschaft wird.

Afghanistan muss seinen inneren Frieden finden und die Gegensätze in der Gesellschaft abbauen. Eine gemeinsame Perspektive für alle Afghanen kann ein Einstieg in Ausgleich und Versöhnung sein. Sie dürfen mich jetzt auslachen, aber ich bin überzeugt davon, dass unser Programm dazu beitragen kann.

Die Erfahrungen, die ich mit den „alten Taliban“ bis 2001 gemacht habe, geben mir den Mut, mich lächerlich zu machen. Damals habe ich gelernt, dass die Taliban-Bewegung aus sehr verschiedenen Menschen besteht. Auch in höheren Positionen saßen Männer, die mit den rigorosen selbstgemachten Gesetzen ihrer Bewegung sehr locker umgingen. Sie luden uns ein, das Verbot des Schulunterrichts für Mädchen gemeinsam zu unterlaufen. Viele waren begierig, von uns Fremden zu lernen. Und die Mullahs in „unseren Moscheen“ verteidigten unseren Unterricht entschlossen gegen die Hardliner. Vor und nach der damaligen Vertreibung der Taliban stiftete unser Unterricht viel Vertrauen und Gemeinsamkeit unter allen Betroffenen. Schüler, Lehrer und ihre Betreuer sind glücklich über ihr gemeinsames Lernen. Gemeinsinn entwickelt sich. Mut, etwas neu zu beginnen, entsteht.

OFARINs Unterricht vermittelt elementares Schulwissen und damit persönliches Selbstvertrauen sowie einen Sinn für die Allgemeinheit. Was die Betroffenen daraus machen, liegt nicht in unserer Hand. OFARIN hilft den Grundstein zu setzen. Ohne den ist kein wirtschaftlicher und technologischer Neuanfang denkbar. Er ist auch Teil einer emotionalen Basis für einen mutigen gemeinsamen Neuanfang. Welchen Weg die Afghanen schließlich wählen werden, ist ihre Sache.

Wir grüßen Sie ganz herzlich und wünschen Ihnen ein Frohes Weihnachtsfest und alles Gute zum Neuen Jahr,

Peter &  Anne Marie Schwittek.

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