Afghanistan I: „Wenn wir in Afghanistan wenigstens die Scharia hätten!“

Liebe Freunde,

die Bemühungen unserer Kabuler Kollegen, mit unserem Partnerministerium den Wiederbeginn des Unterrichts zu vereinbaren, sind mühsam. Im November war ein Leiter für die Abteilung, die in diesem Ministerium für uns zuständig ist, ernannt worden. OFARINs Büro-Manager Abdul Hussain hatte den neuen Abteilungsleiter besucht und die für uns wichtigen Fragen gestellt: Wann können wir wieder mit dem Unterricht beginnen? Wie steht es mit dem Unterricht für Schülerinnen und mit der Mitarbeit von Trainerinnen, Lehrerinnen und sonstigen Büromitarbeiterinnen? Unseren Mitarbeitern drohen weiterhin Inhaftierungen, weil sie für eine westliche Organisation arbeiten. Sind unsere Mitarbeiter und ihre Angehörigen in Zukunft vor Übergriffen geschützt? Der Abteilungsleiter war überfordert. Alle unsere Fragen musste er mit höheren Taliban abklären.

Vor einer Woche hatte er immer noch keine Antworten auf unsere Fragen. Abdul Hussain war mit Naqib, einem unserer paschtunischen Kollegen, dort. Beide haben deutlich gemacht, dass wir darauf angewiesen sind, zu erfahren, wie es weitergeht. Unsere Geldgeber finanzieren derzeit den Leerlauf des Apparates OFARIN. Das werden sie nicht bis in alle Ewigkeit tun. Wenn uns das Ministerium für Religiöse Angelegenheiten nicht bald eine Perspektive bietet, müssten wir mit anderen Ministerien über eine Partnerschaft sprechen. Der Klartext unserer Leute beeindruckte den Abteilungsleiter. Er versprach in einer Woche Bescheid zu wissen. Doch nun ist der Minister verreist, mit dem er Fragen klären wollte.

Erinnern Sie sich an das, was ich im Oktober-Rundbrief über die Entscheidungsfindung der Paschtunen geschrieben habe? Die folgen den zeitraubenden Riten in ihren Stammesversammlungen. Wir werden noch viel Geduld benötigen. Die Taliban sind noch lange nicht so organisiert, um die Hilfsorganisationen, die sich jetzt als Partner anbieten, einzuschätzen und mit ihnen eine Zusammenarbeit zu beginnen. Einigen Organisationen wurde erlaubt, in einigen begrenzten Bereichen vorläufig die Arbeit aufzunehmen. Auf endgültige Entscheidungen müssen sie warten. Die Taliban wollen die Büros aller Hilfsorganisationen inspizieren. Bis dahin gibt es allenfalls Vorläufiges.

Dabei geht es vermutlich nicht nur um die Inhalte und Modalitäten der Arbeit von Hilfsorganisationen, sondern um die Macht innerhalb der Gruppierungen der Taliban. In Afghanistan spricht man über den Gegensatz zwischen den Khosti und den Kandahari. Die Kandahari sind die Vertreter der „alten Taliban“. Einige von ihnen waren schon bis 2001 Minister. Die Kandahari stützen sich auf die Krieger auf dem Land. Das sind Bauern oder Nomaden die gelegentlich an Überfällen auf Transporte oder Stützpunkte der Regierung oder der Ausländer in ihrer näheren Heimat teilnahmen. Das kam der kriegerischen Mentalität dieser Männer entgegen. Anschläge in großen Städten wurden dagegen von Spezialisten des Haqqani-Netzwerkes ausgeführt. Das wird vom Clan der Haqqanis geführt, der in der Provinz Khost ansässig ist.

Was wollen die Taliban? Was sagen sie über ihre eigenen Absichten?

Gibt es Prinzipien, die für sie unverzichtbar sind? Offiziell stellen die Taliban nur heraus, dass sich in ihrem Herrschaftsbereich alles nach der Scharia richten muss. Man schreckt zusammen. Scharia-Recht heißt, dass Dieben die Hände abgehackt und Ehebrecher (vor allem Ehebrecherinnen) gesteinigt werden. Vermutlich fallen auch den Taliban als erstes diese brutalen Strafen ein, wenn sie „Scharia“ hören.

Wussten Sie, dass die Scharia keine Zwangsverheiratungen erlaubt? Wenn ein Mädchen den Bewerber ablehnt, den der Vater mit dem potentiellen Schwiegervater ausgehandelt hat, darf das Mädchen nicht verheiratet werden. Dieses Scharia-Gesetz kennen in Afghanistan sogar viele Laien. Dennoch wird sich weder die Taliban-Regierung noch eine nennenswerte Zahl von Bürgern an dieses Gesetz halten. Ein Bekannter ist Deutsch-Iraner und Moslem und Professor für Menschenrechte und Völkerrecht in Wien. Er stöhnt: „Wenn wir in Afghanistan wenigstens die Scharia hätten. Das Recht in Afghanistan ist vorislamisches Stammesrecht.“

Als die Taliban vor 2002 in Afghanistan herrschten, wurden Männer, die ihren Bart gestutzt oder sich gar rasiert hatten, ins Gefängnis geworfen. Der Prophet hatte nämlich seinen Bart wild wachsen lassen, und da er ein Vorbild für alle Gläubigen ist, dürfen auch die den Bart nicht pflegen. Die Scharia stellt es dagegen dem Gläubigen frei, den Bart zu trimmen oder auch nicht. Vermutlich halten die meisten Taliban das selbst-erfundene Bartgesetz für Scharia-Recht.

Die Scharia wurde mehr als 200 Jahre nach dem Tod des Propheten kanonisiert. Es sollte das Zusammenleben aller Moslems regeln. Damals reichten die islamischen Gebiete von Indien bis Spanien. Die Völker, die dort lebten, hatten sehr verschiedene Traditionen und Sitten. Nur wenige Gesetze passten für alle. Viele Gesetze der Scharia galten nur für bestimmte Regionen. Von Anfang an gab es im Scharia-System viele Möglichkeiten, Ausnahmen zu machen. Viele Regeln konnten befristet oder unbefristet ausgesetzt werden.

Für Völker in der südlichen Sahara galt über Jahrhunderte das Gesetz des schlafenden Fötus. Die Männer dort waren mit ihren Kamelen oft jahrelang auf Handelsreisen oder Kriegszügen unterwegs. Man fügte die Möglichkeit in das regionale Scharia-Recht ein, dass ein Fötus lange Zeit im Mutterleib schlafen kann, bevor er sich weiterentwickelt und geboren wird. Das trug wesentlich zum Rechtsfrieden bei.

Die große Flexibilität der Scharia ließ die Idee aufkommen, dieses Recht so auszulegen, dass es mit allen Anforderungen der UN-Menschenrechtskonvention vereinbar ist. Die Iranerin Schirin Ebadi arbeitete diesen Ansatz aus. Sie bewies, dass das möglich ist. Dafür wurde sie 2003 mit dem Friedensnobelpreis geehrt. Dem Mullah-Regime gefiel diese Auslegung des Scharia-Rechts nicht. Frau Ebadi wurde gezwungen, ihre Heimat zu verlassen.

Auch die Taliban sind sicher nicht mit jedem Rechtskanon, der unter dem Begriff Scharia Platz fände, einverstanden. Offenbar verfolgen sie mit ihrer konkreten Politik durchaus Ziele, die sich nicht mit dem Scharia-Recht begründen lassen. In den Friedensverhandlungen mit den USA haben sie die angemessene Beteiligung aller Ethnien an der Regierung zugesagt. Diese Zusage widerspricht nicht der Scharia – auch nicht dem engen Verständnis, das die Taliban von diesem Recht haben. Warum erfüllen sie die Zusage dennoch nicht?

Die Taliban gehen also sehr großzügig mit der Scharia um. Die große Flexibilität, die dieses Rechtssystem bietet, dürften nur wenige von ihnen kennen. Manche Scharia-Gesetze, die sie kennen, ignorieren die Taliban, wenn sie ihnen nicht in den Kram passen. Stattdessen haben sie rigorose Gesetze erfunden, die nicht zur Scharia gehören, die sie aber für Scharia-Recht halten. Die einzige und oft wiederholte Aussage der Taliban über die Prinzipien ihres Handelns, nämlich dass sie nach dem Scharia-Recht handeln, ist also kaum belastbar.

Wenn es keine Prinzipien gibt, die sie vertreten, warum greifen die Taliban dann äußerst massiv in das Leben der anderen Afghanen ein? Offenbar vertreten sie bestimmte Interessen. Dazu gehören sicher Interessen der bei den Taliban führenden Ethnie der Paschtunen. Es gibt Interessen bestimmter Richtungen innerhalb des sunnitischen Islams. Sicher geht es auch um Interessen ausländischer Mächte. Keine dieser Interessen wird offen genannt. Und es ist aus der Ferne schwer, diese Interessen zu beurteilen und gegeneinander abzuwägen.

Was die Durchsetzung dieser Interessen bedeutet, konnte man während der Herrschaft der alten Taliban lernen: Die vollkommene Unterdrückung der Frauen, die Vorherrschaft der Paschtunen, die Demütigung vieler Menschen, die Unterdrückung anderer islamischer Konfessionen, die Vernichtung von Bildungseinrichtungen, die Zerstörung des vorislamischen kulturellen Erbes Afghanistans, das Abtöten aller wirtschaftlichen Initiativen und Aktivitäten.

Inzwischen verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage schnell. Mangelnde Niederschläge haben zu schlechten Ernten geführt. Vor der Machtübernahme der Taliban wurde der öffentliche Dienst Afghanistans ganz überwiegend von der internationalen Gemeinschaft finanziert. Einen kleineren Teil der staatlichen Ausgaben konnte die bisherige Regierung aus dem Aufkommen von Steuern und Gebühren bestreiten. Doch seit der Machtübernahme der Taliban zieht niemand mehr die Steuern ein. Kurz: Afghanistan hat keine Einnahmen.

Es ist vollkommen auf internationale Hilfe angewiesen. Diese Abhängigkeit von fremder Hilfe gibt der internationalen Gemeinschaft die Möglichkeit, Bedingungen zu stellen.

Die Taliban haben einen Krieg gegen den Westen und seine Ideale gewonnen. Die Gleichberechtigung der Frau, die Menschenrechte gemäß der UN-Konvention, die Religionsfreiheit und vieles mehr, was für uns unverzichtbar ist, hat den Krieg in Afghanistan verloren. Können wir die Notlage dazu nutzen, unsere Ideale doch noch durchzusetzen?

In den Friedensverhandlungen in Doha wurde einiges mit den Taliban vereinbart. Bei der Verteilung der Macht sollten alle Ethnien angemessen beteiligt werden. Frauen sollten nicht ganz rechtlos sein. Was genau in den Verhandlungen vereinbart wurde und wie verbindlich es ist, weiß ich nicht. Immerhin geben diese vagen Zusagen westlichen Diplomaten die Möglichkeit, besonders krasse Fehlentwicklungen zu beanstanden und durch Verknüpfung mit Bedingungen für humanitäre Hilfe zu verhindern.

Doch sollten wir nicht weitergehen? Sind uns die Gleichberechtigung der Frau oder die Religionsfreiheit nichts wert? Die Notlage Afghanistans bietet die Chance, jetzt mehr zu erreichen.

Hier sollte man innehalten und sich klar machen, was wir auf diese Weise durchsetzen würden. Vielleicht könnten wir die Taliban-Regierung zwingen, eine Vereinbarung zu unterzeichnen, in der sie die Gleichberechtigung der Frau anerkennt. Dazu zwingen, dass sie entsprechend handeln, könnten wir die Taliban nur mit enormem Personaleinsatz. Das ist unrealistisch.

Bevor man überhaupt überlegt, wie man den Ausgang des Taliban-Krieges rückgängig machen kann, sollte man besser fragen, wie es zu diesem Krieg gekommen ist und wer wofür kämpfte.

zur 2.Folge

 

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