Dietrich Hornung: Die Rolle Pakistans in Afghanistan

Mich beunruhigt und empört die Rolle Pakistans in der gesamten Geschichte der Taliban-Bewegung. In den Medien erfährt man allenfalls in Nebensätzen etwas. Warum? In Afghanistan sagt Dir das jeder, dem Du auf der Straße begegnest: Die Taliban-Bewegung ist das Werk Pakistans.

Aus Afghanistan von außen her eine Demokratie zu machen, wie es die Westmächte wollten, war eine verwegene Idee. Doch das sollte uns nicht davon abhalten, den entscheidenden Feind dieses Versuchs, auf die Finger zu sehen.

Was zum Teufel soll denn ein armes Land wie Pakistan dazu treiben, sich massiv in die Belange eines Nachbarlandes einzumischen? Nun, zunächst müssen Sie den tiefsitzenden Glauben ablegen, dass alle Übel dieser Welt von den Großmächten, also von China, Russland und vor allem von den USA, ausgehen. Es gibt überall auf der Welt – zumal in der dritten Welt – gefährliche Feindseligkeiten unter Nachbarstaaten.

Pakistan hat in gewissem Maß sogar nachvollziehbare Interessen an Einfluss auf Afghanistan. Pakistan entstand 1947 als einer der Nachfolgestaaten von Britisch Indien. Es erbte von den Briten die Grenze zu Afghanistan. Diese Grenze teilt das Volk der Paschtunen in eine afghanische und eine – jetzt also – pakistanische Hälfte. Afghanistan erkannte diese Grenze nicht an und beanspruchte alle von Paschtunen besiedelten Gebiete für sich. Das konnte Pakistan nicht akzeptieren. Darauf heizte Afghanistan separatistische Bewegungen in Pakistan an. Für ein künstlich entstandenes Land wie Pakistan ist so etwas gefährlich.

Die pakistanische Außen- und Verteidigungspolitik liegt ganz in den Händen des Militärs, namentlich des militärischen Geheimdienstes ISI. Die gewählte politische Führung Pakistans ist Fassade. Pakistan ist ein Geheimdienst, dem ein Land gehört. Für das pakistanische Militär ist Indien der Todfeind. Es lebt in der Angst, Indien könnte sich Pakistan einverleiben. Tatsächlich ist Pakistan ein relativ schmales Land, das Indiens Militär schnell durchstoßen könnte. Auf der anderen Seite von Pakistan liegt Afghanistan. Wenn Afghanistan und Indien zusammenarbeiten, wäre Pakistan noch leichter zu besiegen. Wenn Pakistan dagegen Afghanistan beherrschte, hätte es mehr „strategische Tiefe“. Pakistanisches Militär könnte sich bei einem indischen Angriff nach Afghanistan zurückziehen und von dort einen Gegenschlag führen.

Auf jeden Fall sieht Pakistan einen Vorteil darin, dass Afghanistan rückständig und unterentwickelt bleibt, damit es sich keine Aktivitäten zum Nachteil Pakistans leisten kann.

Die militärisch geprägten, anti-indischen Ängste Pakistans hätte man allenfalls durch ein internationales Abkommen entkräften können, an dem alle Großmächte und regionalen Mächte hätten mitarbeiten müssen. Das wurde nie versucht. Die dafür nötigen internationalen Konstellationen gab es nie.

1978 hatten sich Kommunisten in Afghanistan an die Macht geputscht. Die Sowjetunion unterstützte die ideologischen Brüder seit Ende 1979 mit eigenen Truppen. Die Bevölkerung Afghanistans leistete militärischen Widerstand, der über pakistanisches Territorium von den Westmächten und islamischen Ländern unterstützt wurde. Die Sowjetunion zog sich zurück und löste sich Ende 1991 auf. Die afghanischen Kommunisten ergaben sich im Frühjahr 1992. Die Sieger, die afghanischen Widerstandsparteien gegen die Kommunisten, begannen untereinander einen erbitterten Bürgerkrieg um die Macht.

Die Lage war dadurch brisant geworden, dass Pakistan in den achtziger Jahren auch eine Atombombe besaß, nachdem Indien eine hatte. Wegen des Krieges der Afghanen gegen die Sowjets und die Kommunisten hielten sich in Pakistan viele Islamisten auf, um gegen die Kommunisten zu kämpfen. Die USA hatten Sorge, dass Pakistan aus Affinität zu radikalen Islamisten oder einfach aus Gewinnsucht seine Bombenkenntnisse an radikale Islamisten weitergeben oder verkaufen könnte. Enge Beziehungen zum pakistanischen Militär sollten die Gefahr bannen. Mit Pakistan wurde eine „Strategische Partnerschaft“ geschlossen. Hohe Zahlungen gehen seitdem an den ISI. Natürlich wird die Höhe dieser Schutzgeldzahlungen nicht veröffentlicht. Aber der Leser liegt nicht ganz falsch, wenn er an eine Milliarde Dollar pro Jahr denkt. Tatsächlich wurde die Bombe bisher nicht weitergereicht. Doch der ISI erhielt und erhält viel frei verfügbares Geld. Das verwendet er so, wie es sich die USA nicht gedacht und gewünscht haben. Er finanziert damit die Taliban-Bewegung.

1994 erschien diese Taliban-Bewegung als weitere Partei im afghanischen Bürgerkrieg. Ihre personelle Basis bestand aus armen, ungebildeten Insassen von Flüchtlingslagern, in denen Afghanen lebten, die seit 1978 vor den Kommunisten und den Sowjets nach Pakistan geflohen waren. Der ISI hatte die Taliban-Bewegung mit einer islamistischen Ideologie ausgestattet. Frauen durften nur voll verschleiert und in männlicher Begleitung ihre Wohnung verlassen. Männer durften sich nicht rasieren oder auch nur den Bart stutzen, weil der Prophet das auch nicht getan hatte. Jede Musik außer religiösen Gesängen war verboten. Mädchen durften nicht zur Schule gehen, Frauen keinen Beruf ausüben. Die Gefängnisse waren voll und Hinrichtungen an der Tagesordnung. Wo die Taliban sich durchgesetzt hatten, erstarrte das Leben. Diese Ideologie – man könnte sie ISI-Scharia nennen – gab den Taliban die Aura besonderer Frömmigkeit. Vor allem aber verkümmerte die afghanische Wirtschaft und das Bildungswesen.

Militärisch kamen die Taliban voran – dank pakistanischer Versorgung mit Waffen und Geld, dank pakistanischer Beratung bei der militärischen Führung und dank einiger Einsätze der pakistanischen Luftwaffe. 1996 besetzten sie Kabul und 1998 weite Teile Nordafghanistans. Dann hatte die Bewegung kaum noch personelle Reserven. Pakistan schaffte Tschetschenen, Araber und Pakistani heran, aber das ganze Land bekamen die Taliban nicht unter ihre Kontrolle.

Wegen Osama bin Laden griff 2001 der Westen mit UN-Zustimmung ein, vertrieb die Taliban und begann danach seinen Demokratieversuch. Die USA schickten eigene Truppen, die „gegen den Terrorismus kämpften“, in die Siedlungsgebiete der Paschtunen. Die meisten Taliban gehörten nämlich dem Volk der Paschtunen an. Die Amerikaner traten das sehr „robust“. Das belebte die Taliban-Bewegung, und sie erstarkte wieder.

Bei den Auseinandersetzungen mit der afghanischen Regierung und ihren ausländischen Verbündeten waren die Kämpfer der Taliban auf dem Land zuallermeist Feierabend-Krieger. In einer Stammesgesellschaft genießt der erfolgreiche Kämpfer den höchsten Ruhm. Ein Guerilla-Krieg, in dem der Mann seine Felder bestellen und in seiner näheren Umgebung Beweise seines kriegerischen Könnens vorführen kann, ist ein Selbstläufer, sofern ausreichend Waffen geliefert werden. Dafür sorgte Pakistan.

Große Städte sind ein anderes Biotop. Für Terrorattacken in Kabul schuf sich der ISI das „Haqqani-Netzwerk“. Eigentlich führen Absolventen einer bestimmten Religionsschule in Pakistan den Namenszusatz „Haqqani“. Einer der Absolventen war Dschalaluddin Haqqani, ein afghanischer Paschtune aus der Provinz Khost, der als Kommandant gegen die Kommunisten kämpfte. Der ISI baute Dschalaluddins Trupp zum Haqqani-Netzwerk aus. Bis zum Auftauchen des Islamischen Staates in Afghanistan hatte dieses Netzwerk das Monopol für Terroranschläge in Kabul. Heute führt Siradschuddin Haqqani, ein Sohn von Dschalaluddin, das Netzwerk. Mike Mullen, der Chef des amerikanischen Generalstabs, sagte 2011: „Das Haqqani-Netzwerk ist praktisch ein Arm des ISI.“ Der FBI hat auf Siradschuddin ein Kopfgeld von 30 Millionen Dollar ausgesetzt.

Dergleichen erfährt man aus den Medien bestenfalls nebenher. Offenbar sollte vermieden werden, dass der amerikanischen Öffentlichkeit klar wurde, dass sie beide Seiten des Afghanistankrieges bezahlte: die Taliban und die Haqqanis durch Zuwendungen an den ISI und das eigene Militär und die afghanischen Regierungstruppen über den US-Haushalt. Auch in Deutschland werden Aussagen wie die des damaligen US-Generalstabschef allenfalls weiter unten erwähnt. Von den pakistanischen Machenschaften in Afghanistan erfährt man in Eiertänzen wie: Das werde öfter behauptet, sei aber nie richtig nachgewiesen worden. Es ist anzunehmen, dass sich Deutschland an der strategischen Partnerschaft der USA und Pakistans finanziell beteiligt und so auch beide Seiten des Krieges mitbezahlte. Zur Erinnerung: Es geht dabei zuerst um die Sicherung der pakistanischen Bombe, was leider nötig ist. Aber fraglos zahlt Deutschland reichlich Entwicklungshilfe und sicher auch Militärhilfe an das Land, das dem ISI gehört.

Während der ersten Herrschaft der Taliban habe ich bis 2001 verschiedene Taliban kennen gelernt, auch einige in hohen Positionen. Ihr Hass auf Pakistan war ausgeprägt. Aber sie brauchten die Waffenlieferungen ihrer ungeliebten Schöpfer. So war jetzt eigentlich klar, dass ein Sieg der Taliban ihre Abhängigkeit von Pakistan beenden dürfte. Sie hätten dann Zugriff auf das Waffenarsenal der afghanischen Regierung und brauchten Pakistan nicht mehr. Das ließ uns auf eine milde Machtübernahme der Taliban hoffen. Wir dachten zu kurz. Natürlich sah Pakistan auch, dass es die Kontrolle über die Taliban verlieren würde, wenn es sie einfach siegen ließ. Alles, was sich der ISI in Afghanistan geschaffen hatte, die Aussicht auf strategische Tiefe und die Möglichkeit eine stramme koloniale Fremdherrschaft über das Nachbarland zu installieren, um dieses rückständig und schwach zu halten, alles war bedroht.

Der ISI verfügte also über die unzuverlässigen Taliban und über das viel enger geführte Haqqani-Netzwerk. Afghanen behaupten oft, dass man den Islamischen Staat – im Orient, „die Da’esch“ genannt – zum pakistanischen Repertoire hinzuzählen muss. Inwiefern die Da’esch etwas mit der gleichnamigen Bewegung in Syrien und im Iraq zu tun haben, weiß ich nicht. Möglicherweise wurde der Name „Islamischer Staat“ nur gewählt, weil er ein Garant für Angst und Schrecken war. Die Da’esch sind nach afghanischer Version so entstanden: Während und nach der ersten Taliban-Herrschaft in Afghanistan, waren pakistanische Paschtunen von dem Modell begeistert und schufen eine pakistanische Taliban-Bewegung. Die Paschtunen Pakistans neigten schon immer zum Separatismus von Pakistan. Das war bis dahin stets mit einer kommunistischen Grundierung verbunden. Nach dem Untergang der Sowjetunion bekam der Separatismus der Paschtunen eine islamistische Tendenz. Das passte viel besser. Die pakistanischen Taliban beherrschten eine Zeit lang große Gebiete des pakistanischen Nordens, ehe sie von der pakistanischen Armee zurückgedrängt wurden. Dem ISI gelang es, die pakistanischen Taliban mit einer neuen Aufgabe zu beschäftigen. Er machte sie zu einer weiteren Terrorplage für Afghanistan und gab ihnen den Namen Islamischer Staat. Im Osten Afghanistans – etwa bis Kabul – verübte der Islamische Staat seitdem besonders brutale Anschläge, vor allem auf Schiiten und auf Bildungseinrichtungen. Die afghanischen Taliban und die Da’esch sind erbitterte Feinde und bekämpfen sich gegenseitig. Es spricht trotzdem nichts dagegen, dass beide Organisationen vom ISI unterstützt und gesteuert werden. Der ISI wusste, dass die Taliban nur unwillige Partner sind und schuf sich, als sich die Gelegenheit anbot, frühzeitig ein weiteres Standbein. Außerdem gibt es wohl auch Al Qaida-Kräfte in Afghanistan, über deren mögliche Anbindungen ich nichts weiß.

Beim Vormarsch der Taliban und der Machtergreifung in einzelnen Bezirken wurde immer wieder berichtet, dass sich unter den Kämpfern viele „Pandschabi“ befänden. Gemeint waren damit Pakistaner, die keine Paschtunen sind. Das zeigte, dass der ISI sich darauf vorbereitete, die Taliban-Bewegung weiterhin zu beherrschen und damit auch Afghanistan.

Drei Tage nach dem Fall von Kabul rief der Verantwortliche für unsere Aktivitäten in einer Provinz an. Ich hatte ihn in Kabul getroffen. Er war fraglos ein Sympathisant der Taliban. Er versicherte mir in Kabul, dass unser Programm auch in Zukunft arbeiten könne. Es sei sicher kein Problem, dass unsere Kolleginnen weiter im Büro arbeiteten. Die Taliban wüssten doch, wer wir seien.

Jetzt rief er an und bat mich, ihm zu helfen, aus Afghanistan rauszukommen. Verblüfft fragte ich nach den Gründen. Er berichtete, dass die Taliban, die in seiner Provinz die Macht ergriffen hätten, Fremde seien. Die alten Taliban, die z.B. als Schattenprovinzregierung unser Programm wohlwollend geduldet hatten, hätten nichts mehr zu sagen. Sie seien vollkommen überrumpelt worden. Diejenigen, die dort jetzt als Taliban herrschten, hätten viele Pandschabi mitgebracht und auch Tschetschenen sowie islamistische Usbeken, Staatsbürger Usbekistans, die wegen ihrer islamistischen Haltung nach Pakistan geflohen waren.

Kollegen berichteten von neuen Ministern (sagten sie, vermutlich handelte es sich um vorläufige Amtsträger), die im Fernsehen interviewt wurden. Die beherrschten offenbar keine der afghanischen Landessprachen Dari oder Paschtu. Sie sprachen Urdu und wurden übersetzt. Auch der neue Leiter der Staatsbank sprach nur Urdu.

Das Pandschirtal wehrte sich einige Tage gegen die Taliban. Dort wurden pakistanische Drohnen eingesetzt. Gegen die Pandschiri wird jetzt grausame Rache geübt. In Kabul werden die Stadtviertel nach ihnen abgesucht. Mit gefundenen Pandschiri wird kurzer Prozess gemacht.

Viel wird über Reibereien zwischen den Khosti und den Kandahari gesprochen. Die Kandahari sind die „alten Taliban“. Manche von ihnen haben schon bis 2001 hohe Ämter bekleideten. Abdul Ghani Baradar gehört dazu. Er hat den Vertrag mit den USA ausgehandelt. Die Kandahari stammen aus dem Süden Afghanistans. Die Khosti sind das Haqqani-Netzwerk. Die Ernennung des Kabinetts verzögerte sich, vermutlich auf Grund dieser Gegensätze.

Dann flog Faiz Hameed, der Chef des ISI, nach Kabul und die Kabinettsliste wurde bekannt gegeben. Regierungschef wurde Mullah Mohammad Hassan Akhond, ein weniger bekannter Mann, nicht der erwartete Abdul Ghani Baradar. Der wurde stellvertretender Regierungschef. Über ihn ist bekannt, dass er länger in Pakistan im Gefängnis saß und dieses Land hasst. Inzwischen fiel auf, dass Baradar, der für den Westen „das Gesicht der Taliban“ war, nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen wird. Siradschuddin Haqqani, der Arm des ISI, auf den der FBI 30 Millionen ausgesetzt hat, wurde Innenminister.

Es ist offenkundig, dass es jetzt in Afghanistan nicht um den wahren Islam oder um einen nationalen Befreiungskampf geht. Es geht schlicht um die Kolonisierung eines Landes durch ein anderes. Pakistan will das stemmen, was Briten, Sowjets und die NATO nicht geschafft haben. Der ISI glaubt dieses Ziel erreichen zu können, indem der Widerstand konsequent eliminiert.

Frühere vage Ankündigungen der Taliban, alle Völker und alle Konfessionen Afghanistans angemessen an der Regierung zu beteiligen und auch Frauen zu berücksichtigen, wurden ignoriert. Vielleicht wollten manche Kandahari, also „alte Taliban“, sogar Frieden und Aussöhnung erreichen. Jetzt aber wird alles so durchgezogen, wie es sich die Militaristenhirne des ISI für ihre Taliban-Bewegung ausgedacht haben – mit Konsequenz und Härte und ohne Flexibilität. Das Kabinett besteht fast nur aus Paschtunen, die vielleicht 40 % der Bevölkerung stellen. Einige Schiiten wurden Stellvertreter. Frauen sind keine im Kabinett.

Diese sture Einseitigkeit wird schnell Widerstand hervorrufen. Verschiedene Nachbarländer werden sich beeilen, diesen Widerstand zu stärken, um Pakistan seinen Machtzuwachs streitig zu machen und um eigene Interessen durchzusetzen. Bürgerkrieg ist sehr wahrscheinlich geworden.

Alles, was ich hier geschrieben habe, ist in Kabul gängige Münze. Warum wagt niemand im Westen zu sagen, welche mörderische Rolle die tatsächlichen Herrscher Pakistans in Afghanistan seit Jahrzehnten spielen? Der ISI-Chef Faiz Hameed und sein Arm Siradschuddin Haqqani gehören vor das Kriegsverbrechertribunal in den Haag.