Liebe Freunde,
die Ereignisse in Afghanistan haben den letzten Text/ Rundbrief über OFARIN überholt. Was man jetzt aus Afghanistan hört, fühlt sich ganz anders an als das, was in den August-Rundbriefen steht. Diese gaben die Atmosphäre wieder, in der wir vor vier Wochen in Kabul über die mögliche Zukunft sprachen. „Ja, mit Sicherheit werden die Taliban die Macht übernehmen. Aber es sind nicht mehr die Taliban, die 2001 aus Afghanistan vertrieben wurden.“ – „Es ist nicht im Interesse einer Taliban-Regierung sich extremistisch zu geben. Denn das führt zu Widerstand und die verschiedenen Länder der näheren oder weiteren Umgebung würden solchen Widerstand nutzen, um sich einzumischen. Im Nu gäbe es einen vom Ausland angeheizten Bürgerkrieg. Die Taliban werden sehen, dass ihre Machtübernahme nicht zu Widerstandshandlungen führt.“
Hadschi Ehsanullah, OFARINs Leiter des Programmes in der Provinz Logar, musste sich schon lange mit den lokalen Taliban arrangieren. Die teilten ihm mit, dass wir ihnen bitte eine weitere Mädchenklasse finanzieren sollen. Wir teilten mit, dass derzeit absolut kein Geld da sei. Ehsanullah war nicht nur ein Link zu den Taliban. Er war ein Sympathisant – von OFARIN und den Taliban. Er beruhigte mich, dass er auch nach einem Machtwechsel gute Möglichkeiten sehe, weiter zu arbeiten.
Heute früh rief mich Ehsanullah an: „Kannst Du mir helfen, dass ich hier rauskomme?“ Da war mir klar, dass der Übergang zur Talibanherrschaft nicht sanft wird, wenn es überhaupt einen solchen Übergang geben wird. Was ist anders gelaufen als ich es in den Rundbriefen vorausspekuliert habe?
Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Kontingenten der Taliban – zwischen ihren Vorstellungen von den Zielen des Krieges – waren viel krasser als ich es mir vorgestellt hatte. Der Bezirk Malistan wird von schiitischen Hazaras bewohnt. Sie hatten gezeigt, dass sie gegen die Taliban nicht kämpfen werden. So wurde Malistan früh und kampflos von den Taliban besetzt. Die gaben sich eine Woche lang tolerant und mild und begannen danach, nach Polizisten und anderen Regierungsmitarbeitern zu suchen und sie zu erschießen. Inzwischen erklärten sie Schiiten zu Ungläubigen. Die müssen sich zu Sunniten bekehren lassen oder werden als Ungläubige behandelt. Zum Vergleich: Juden und Christen sind keine Ungläubigen. Sie sind Schutzbefohlene, die gegen Gebühren und unter diskriminierenden Bedingungen weiterleben dürfen. Vermutlich wollen die Taliban die Hazara aus Malistan vertreiben, um es mit Paschtunen zu besiedeln. Solche Vorkommnisse sprechen sich in ganz Afghanistan herum. Man hält die versöhnlichen Signale der führenden Taliban für leere Versprechungen, die nur dazu dienen, widerstandslos an die Macht zu kommen. Sobald sie die innehaben, vergessen sie ihre Versprechen. Aber vermutlich hat die Führung der Taliban momentan nur keine Mittel, ihre Anführer in Malistan zu kontrollieren.
Die Taliban haben alle Gefängnisinsassen freigelassen. Schwerverbrecher lassen sich nicht von Taliban unterscheiden. Wenn Männer ein Auto anhalten, um es zu durchsuchen, weiß man nicht, ob es Polizisten der Taliban sind oder Verbrecher.
Vermutlich haben meine Kollegen schon vor vier Wochen hinter ihrer ruhigen Gelassenheit Zweifel an den friedlichen Absichten der Taliban versteckt. Jetzt ist die Angst offen ausgebrochen und ist zur Panik geworden. Vor vier Wochen wollte kein Kollege seine Heimat verlassen. Jetzt wollen die meisten raus. Wenn ich keine Möglichkeit sehe, ihnen in ihrer Not zu helfen, sagen sie mir, dass Frau Merkel doch gemeint habe, Mitarbeiter von deutschen Hilfsorganisationen sollten auch ausgeflogen werden. Es ist ihnen kaum zu erklären, dass von der Meinungsäußerung einer deutschen Politikerin bis zu konkreten Entscheidungen Monate vergehen. Sie wollen noch heute gerettet werden. Auch gibt es Gerüchte, dass die Australier für jede Person, die ausgeflogen werden will, 20.000 $ nehmen – reine Angstgespinste.
Das alles konnte ich bis heute Morgen als Übergangsphänomene verharmlosen. Wenn die Taliban Ordnung in ihre Reihen gebracht haben, werden sie im eigenen Interesse für Frieden und Ausgleich sorgen. Die Gründe, die den Taliban-Sympathisanten Hadschi Ehsanullah treiben, sein Land verlassen zu wollen, lassen aber Schlimmeres befürchten.
Ehsanullah berichtet, dass diejenigen, die die Provinz Logar übernommen haben, vollkommen fremde Leute seien. Viele Pakistaner seien darunter, aber auch Tschetschenen und usbekische Islamisten. Die bisherigen Führungskräfte der Taliban in Logar seien durch die neuen Kontingente kaltgestellt worden.
Offenbar versucht der pakistanische Geheimdienst ISI die Kontrolle über Afghanistan zu behalten. Pakistan hatte die Taliban-Bewegung geschaffen. Seitdem lebten die Taliban von Waffen und Geld, das sie vom ISI erhielten. Für die Taliban war diese Abhängigkeit nie eine Herzensangelegenheit. Jetzt verfügen die Taliban über das Waffenarsenal der afghanischen Regierung. Bis auf weiteres brauchen sie von Pakistan nichts mehr. Und wenn sie moderat auftreten, werden sie auch von westlichen Ländern unterstützt. Pakistan droht seine Kontrolle über Afghanistan zu verlieren. Das versucht der ISI jetzt zu verhindern, indem er loyaleres Personal nach Afghanistan schickt.
Dagegen hat sich unter den Paschtunen des Ostens in Jalalabad und Khost schon Widerstand gebildet. Es kam zu Demonstrationen gegen die Taliban. In Jalalabad eröffneten die Taliban das Feuer auf die Demonstranten. Die Tadschiken im Pandschirtal rufen zu den Waffen. Es riecht nach Bürgerkrieg.
Das macht eine Antwort auf die Frage nicht leichter, was OFARIN in Zukunft tun kann. Die Umstände sind unübersichtlich. Auf jeden Fall werden wir uns bemühen, den bisherigen Schulbetrieb aufrecht zu halten. Allerdings war der Schulbetrieb bisher durch Corona beeinträchtigt. Auch OFARINs Klassen arbeiteten nur zum Teil. Wir hatten kurz vor dem Einzug der Taliban Geld nach Kabul geschickt. Inzwischen sollte es eingetroffen sein. Aber die Bank ist geschlossen. Es ist denkbar, dass sich wichtige Mitarbeiter (mit Zeichnungsberechtigung) in Sicherheit bringen und die Geldversorgung unseres Projektes zumindest vorübergehend nicht gewährleistet werden kann. Im Falle eines Bürgerkriegs sind vorübergehende Schließungen des Unterrichts wahrscheinlich.
Wir sind dann entschlossen, in jedem Fall den Betrieb wieder aufzunehmen, sobald sich die Lage beruhigt. Die Personalstrukturen von OFARIN von Mitarbeitern in der Zentrale über Trainer bis zu den Lehrkräften erlauben flexible Umstellungen und Neuaufstellungen.OFARINs Rundbriefe und die Homepage werden über alle weiteren Entscheidungen berichten. Bitte, haben Sie das Vertrauen zu uns, dass wir uns etwas einfallen lassen, um unser Programm durch die schwierige Zeit zu bringen!
Herzliche Grüße,
Peter Schwittek.
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