Nachdem ich versucht habe, die Zukunft Afghanistans etwas vorherzusehen, soll es jetzt darum gehen, was OFARIN in diesem Szenario ausrichten könnte.
Welche Aufgaben kann OFARIN in Zukunft erfüllen und wie?
Wir können jetzt nicht sagen, wie die Zukunft Afghanistans aussehen wird. Daher wissen wir nicht, was wir für einen Unterricht halten können. Wir sind uns sicher, dass unser Unterrichtsprogramm, so wie es ist, vielen Menschen hilft. Schreiben, mit Verständnis lesen und gut rechnen können, das gibt allen Menschen etwas. Diejenigen, die das können, gewinnen an Selbstbewusstsein und Urteilskraft. Manchen hat unser Unterricht ganz wesentliche Anstöße für ihr Leben gegeben. Das zeigen die Recherchen der Journalisten, die mit uns im Juni nach Kabul kamen. Darüber hinaus hat der Unterricht dazu beigetragen, bei den Menschen ein Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln. Dieser Unterricht ist wichtig und wertvoll. Er muss fortgesetzt werden, wann immer das möglich ist.
Wir hatten davon geträumt, das Programm inhaltlich auszubauen. Gerne würden wir den Unterricht auch in anderen Gegenden und in mehr Klassen durchführen. Mit solchen Plänen sollten wir in der gegenwärtigen Lage zurückhaltend sein. Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt. Aber die wird sich auch auf unsere Einkünfte niederschlagen. Wenn wir unser Programm jetzt ausdehnen aber sich bei Spendern der Eindruck festsetzt, in Afghanistan könne man nicht arbeiten, werden wir Klassen aus Geldmangel schließen müssen. Das ist bitter. Wir sollten unser Programm weder qualitativ noch quantitativ deutlich ändern, bevor es in Afghanistan deutlich ruhiger wird.
Schulunterricht kann nicht gegen Anschläge abgesichert werden. Aber unsere Klassen liegen nicht weit von den Wohnungen unserer Schüler und Lehrer entfernt. Das verringert die Gefahr.
Unsere Klientel gehört zum armen Teil der Bevölkerung. Die Familien unserer Kinder träumen nicht von reichen Ländern, in denen sie ihr Glück machen könnten. Die haben kein Geld, um sich die nötigen Schlepperdienste zu erkaufen. Sie müssen einen Weg zum Glück dort finden, wo sie sind – auch wenn das Glück noch so klein ist.
Werden die Taliban OFARIN erlauben, weiter zu arbeiten? OFARINs Programm ist unter der alten Herrschaft der Taliban entstanden und auf deren Wunsch hin. In Logar haben wir zu einem gedeihlichen Miteinander mit den Taliban gefunden. Solche Tatsachen könnten recht hilfreich sein. Wir gehen davon aus, dass die Taliban ihre einstige bildungsfeindliche Haltung vor allem auf Druck des ISI einnahmen. Viele ihrer Führungskräfte verstanden schon damals, dass Bildung dringend erforderlich ist. Sonst wäre unser Unterricht nicht möglich gewesen. Man darf hoffen, dass es keine pakistanischen Einflussnahmen auf das Bildungswesen geben wird.
Wenn in Afghanistan Ruhe einkehrt, werden wir sehen, was möglich ist, und unser Programm entsprechend weiterentwickeln. Darüber werden wir Sie informieren.
Unsere Freunde und Unterstützer werden ein Problem damit haben, unsere Haltung richtig zu verstehen. Eine Zusammenarbeit mit den Taliban wird eine Gratwanderung sein. Und es kann zu Missverständnissen über den Grat kommen, auf dem wir da wandern.
Selbst wenn es zu einem friedlichen Ende des Krieges kommt, hat sich die Talibanbewegung durchgesetzt. Der Kampf um die Modernisierung zieht seit gut hundert Jahren eine blutige Spur durch die afghanische Gesellschaft. Seitdem gibt es Kräfte, die Afghanistan – koste es, was es wolle – zu einem modernen Land machen wollen; wie Belgien oder Deutschland, mit Ministerien und ihren Bürokratien, mit staatlichen Schulen und mit Wehrpflicht. Das ging zu Lasten des traditionellen Lebens und der bis dahin dominierenden Kräfte, vor allem der Mullahs. Die wehrten sich und verteidigten das Althergebrachte durchaus mit Erfolg. Die Kommunisten, die auf ihre Art Neues und Modernes bringen wollten, mussten aufgeben. Und dann kamen wieder andere, die ebenfalls Modernes bringen wollten, nämlich die Demokratie und Menschenrechte und die Gleichberechtigung der Frauen. Auch das lehnten die Verteidiger des Althergebrachten ab. Sie kämpften dagegen und haben sich offensichtlich durchgesetzt.
Wir möchten also unseren Unterricht so partnerschaftlich wie möglich mit Menschen durchführen, die einen Krieg gegen Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Demokratie und Frauenrechte gewonnen haben. Diese Partner werden wenig damit anfangen können, wenn wir ihnen Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit vorwerfen. Ihr Recht beziehen sie aus der Scharia und den Gewohnheiten. Die Emanzipation der Frau ist für sie ein Irrweg.
Wir erwarten dennoch nicht, dass unsere Mitarbeiterinnen nicht mehr ins Büro kommen dürfen. Aber sollte das geschehen, werden wir nach Mittel und Wegen suchen, sie durch Heimarbeit zu beschäftigen. Da wird manches nötig werden, worüber wir nur im kleinen Kreis mündlich berichten können. Bitte, haben Sie Vertrauen! Wir werden alles tun, um unsere Mitarbeiter und Schüler zu schützen.
Unser Unterricht tut seine guten Wirkungen. Er sollte gerade unter schwierigen Bedingungen stattfinden. Dann wird er besonders gebraucht. Wenn wir unter Protest die Brocken hinwerfen, wird man uns auf die Schultern klopfen. Aber die Afghanen haben nichts davon.
OFARIN hat die Zusammenarbeit mit Mullahs und Moscheen gewagt und dabei überraschend gute Erfahrungen gemacht. Vertrauen und sogar Freundschaft sind dabei entstanden. Man muss die Mullahs mitnehmen, wenn man Fortschritte erzielen will. Ich würde mich sehr täuschen, wenn das nicht auch für die Taliban gilt.
Herzliche Grüße,
Peter Schwittek