Bericht aus Kabul: Elend in Schindowal

Im Mai-Rundbrief konnten Sie unsere Kolleginnen Tooba und Nassiba dabei bewundern, wie sie zu einer Klasse im Kabuler Gebirgsstadtteil Schindowal aufsteigen. Das gleiche Vergnügen hatten wir kurz nach unserer Ankunft in Kabul zusammen mit den Journalisten vom Zeitenspiegel und einigen Kollegen von OFARIN. An den staatlichen Schulen hatte man den Unterricht wegen Corona eingestellt. OFARINs Schulen sind nicht staatlich. Dennoch hatten wir unsere Klassen gebeten, ebenfalls zu schließen. Aber nicht alle folgten dieser Aufforderung unseres Büros. Insbesondere an den Steilhängen von Schindowal bestanden einige Klassen für erwachsene Frauen darauf, dass ihr Unterricht stattfand.

Das war Glück für unsere Besucher. So konnten sie volle Klassen besuchen und Schülerinnen und Lehrerinnen befragen. Doch dieser Preis war nicht ohne Fleiß zu haben. Zuerst mussten wir da hoch. Immer wieder blieben wir stehen, und rangen um Luft. Immer wieder rief uns Ghulam Rassul, der für Schindowal zuständige Trainer, von 20 Meter weiter oben zu, es sei nicht mehr weit, wir seien gleich da. Schon längst trauten wir diesen Verheißungen nicht mehr. Irgendwann erreichten wir dennoch einen kleinen dunklen Vorraum, in dem die Schuhe von Lehrerinnen und Schülerinnen standen. Auch wir legten die Schuhe ab und drängten uns ins Klassenzimmer – vielleicht 2,50 m breit und 3 m lang. 25 bis 30 Frauen und Kinder saßen da. Wir Besucher – vier Mitarbeiter aus der OFARIN-Zentrale und vier Ausländer – fanden auch noch irgendwie Platz. Ich hatte mich ganz vorne neben die Schultafel gestellt und übersetzte die Fragen der Journalisten und die Antworten der Schülerinnen.

Auf der anderen Seite der Schultafel fiel mir ein Kind von höchstens fünf Jahren auf, das da ruhig hockte. Das Kind konnte einen nicht ansehen. Die Augäpfel waren vollkommen verdreht. Dem Kind gegenüber, in der ersten Reihe der Schülerinnen, saß eine jüngere Frau und neben ihr etwas größere Kinder. Ich fragte. Ja, sie sei die Mutter. Neben ihr säßen ihre Kinder. Das Mädchen da vorne sei blind. Sie müsse es mitbringen, damit sie am Unterricht teilnehmen könne. Dann musste ich wieder übersetzen.

Mehr Informationen brauchte ich aber auch nicht, um OFARINs Sozialroutinen anzuwerfen. OFARINs Ingenieur Nagib kennt einen sehr zuverlässigen Augenarzt. Der hat in der Innenstadt eine Praxis. Operationen führt er in der Noor-Klinik durch, einem renommierten christlichen Augenkrankenhaus. Von ihm werden wir die ganze Familie untersuchen lassen. Ghulam Rassul, OFARINs Platzhirsch in Schindowal, wusste überraschend wenig über die Familie, obwohl er sich unter den Bewohnern von Schindowal gut auskennt.

Klarer wurde die Situation, als unsere Kolleginnen Nassiba und Tooba „die Familie“ besuchten.

Die beiden Schwestern Zachera (links) und Khurschid mit ihren Kindern: links von ihnen sitzen jeweils die blinden Kinder der Junge Mohmen (12) und Amena (5). Hinter dem Vorhang sind weitere Kinder.

Die Mutter des blinden Mädchens, das neben der Tafel gesessen hatte, heißt Khurschid. Sie hat sechs weitere Kinder. Ihr Mann war vor einigen Jahren bei einem Bombenanschlag umgekommen. Khurschid wohnt mit Zachera, ihrer Schwester, und deren Kindern zusammen. Auch Zachera ist Witwe. Zachera lebte mit Mann und Kindern in der Provinz Baghlan. Weil die Lage dort immer unsicherer wurde, beschloss die Familie nach Kabul zu ziehen. Unterwegs geriet sie in ein Gefecht zwischen Taliban und Regierungstruppen. Ihr Fahrzeug verunglückte. Der Mann und zwei Töchter kamen um. Zachera wurde am Kopf verletzt.

Die beiden Schwestern leben jetzt mit zehn Kindern zusammen in einem Räumchen von 3 m x 2,5 m und einem kleinen fensterlosen Vorraum. Fünf weitere, ähnlich große Räumchen mit Vorraum bilden einen Wohnblock. Der ist mit Kinderreichtum vollgestopft. Für jede der sechs Unterkünfte zahlt jeder Mieter 4000 Afghani, etwa 45 €. OFARIN zahlt für jede Lehrkraft, die werktäglich 90 Minuten unterrichtet, im Monat 2000 Afghani. Der staatliche Lehrer, der ganztags arbeitet, bekommt 6000 Afghani. Allen sechs Mietparteien steht ein Gemeinschaftsklo zur Verfügung. Für dessen häufige Leerung, aber auch für die Trinkwasserversorgung und für den Strom zahlen die Bewohner Extra-Gebühren. Für Khurschid und Zachera fallen monatlich 7000 Afghani Miet- und Zusatzkosten an.

Die Schwestern haben überhaupt keine Einkünfte. Hätten die Nachbarn ihnen nicht immer wieder Lebensmittel geschenkt, wären schon Kinder gestorben. Schon zwei Bruttomieten sind sie schuldig. Die Kündigung droht. Aber wem droht die hier nicht? Wer soll hier Zwangsräumungen durchsetzen? Aus den umkämpften Provinzen sind noch und noch Menschen nach Kabul geströmt. Die Mieten für einfache Unterkünfte wuchern in unbezahlbare Höhen hoch.

Tooba und Nassiba mussten sich schon deswegen der Sache annehmen, weil es in dem Haushalt keine Männer gibt. Deswegen wusste auch Ghulam Rassul fast nichts über den Fall. In einen Witwenhaushalt darf er seine Nase nicht reinstecken. Tooba und Nassiba dürfen das. Deren Empathie und Sinn für soziale Probleme wünsche ich so mancher Fürsorgerin, die in einem deutschen Sozialamt hinter ihrem Laptop weilt.

Nassiba und Tooba kauften zuerst Lebensmittel für die Witwen und ihre Kinder. Allein das Einkaufen war für die Witwen ein Problem. Wenn eine von ihnen die Unterkunft verließ, schrien und jammerten ihre Kinder. OFARINs Damen beglichen eine Monatsmiete. Dann ging es zum Augenarzt.

Khurschid und Amena beim Augenarzt

Der stellte fest, dass bei Amena, der kleinsten Tochter von Khurschid, und bei Mohmen, dem ältesten Sohn von Zachera, Eingriffe nötig seien und Aussicht auf Erfolg hätten.

Zwei Tage später wurde das erste Auge von Mohmen operiert. Wir hatten den zwölfjährigen Jungen ausgewählt, der erste zu sein, um die Frauen zu entlasten. Wenn der etwas sehen kann, kann er einkaufen gehen. Außerdem sind dann Mutter und Tante von dem Makel befreit, ohne „männlichen Schutz“ zu leben. Eine Augenoperation macht den zwölfjährige Mohmen zum Erwachsenen.

Die Vorbehandlung für die Operation war gründlich. Es musste bei Mohmen mehr gemessen werden als bei einem erwachsenen Patienten. Die Operation gelang glänzend. Das Krankenhaus kam uns bei den Kosten noch entgegen. Mohmen erhielt eine Sonnenbrille zum Schutz gegen das grelle Licht. Es ist noch eine Nachuntersuchung fällig. Nach allem wird uns die Behandlung höchstens 25 € kosten. Sicher, das andere Auge von Mohmen muss auch noch operiert werden und die beiden Augen von Amena ebenfalls. Außerdem muss sich ein anderer Facharzt um die Kopfverletzung von Zachera kümmern. Was das kostet, wissen wir noch nicht. Aber unser Ingenieur Nagib kennt auch dafür einen Spezialisten.

Jetzt stagniert alles. Es ist Id. Aber gleich nach den Feiertagen wird die erste Operation von Amena stattfinden. Das zweite Auge von Mohmen wird frühestens vier Wochen nach dem ersten operiert.

Manche von Ihnen werden das Geschehen inzwischen auf die Kosten runtergebrochen haben und zu dem Schluss gekommen sein, dass ich über einer Lappalie berichte. Die medizinischen Behandlungen sind noch nicht abgeschlossen. Wir hoffen, dass sie so glücklich verlaufen wie bei Mohmens erstem Auge. Dank der menschenfreundlichen Preisgestaltung der Noor-Klinik werden OFARIN die Augenbehandlungen keine 200 € kosten.

Etwas unübersichtlicher wird der künftige Aufwand für Mieten und Lebensmittel. Vielleicht kann OFARIN Khurschid oder Zachera als Lagerhalterin oder Putzfrau beschäftigen. Damit könnten die beiden noch längst nicht die Brutto-Miete zahlen. Aber auch wenn sich keine dauerhafte Lösung findet, bewegen sich die monatlichen Kosten für die Unterbringung und Verpflegung der zwölf Menschen in der Größenordnung eines guten Essens für zwei Personen in einem ordentlichen deutschen Restaurant. Es stimmt: Wenn man davon abstrahiert, was die Hilfe für die betroffenen Frauen und ihre Kinder bedeutet, sind die Kosten eine Bagatelle, die OFARIN aus seinem Krankheitsnothilfefonds bestreiten wird.

Das war ein Einzelfall. Sicher gibt es allein in Schindowal viel mehr Familien, denen mit einem Eingreifen wie bei Khurschid und Zachera wirksam geholfen werden kann. Denen allen zu helfen, würde OFARINs Budget schnell erschöpfen. Auch wenn wir unseren Unterricht aufgäben und stattdessen ein Sozialhilfeprogramm betrieben, würden wir nie genug helfen können.

Wir sind überzeugt davon, dass Schulbildung Afghanistan voranbringen kann und wird. Das hat auch Khurschid so gesehen, die in ihrem Elend mit allen Kindern am Unterricht teilnahm.

Aber natürlich können wir am Unheil, das unsere Schüler oder Lehrer betrifft, nicht einfach vorbeigehen. Das sind Menschen, die bei uns lernen und arbeiten. Das können die nur, wenn sie unter Bedingungen leben, unter denen sie lernen und arbeiten können. Khurschid und Zachera konnten wir nicht in ihrem Unglück allein lassen. Wir helfen auch Familien von Schülern und Lehrern, die durch Corona und andere Krankheiten in wirtschaftliche Not geraten sind. Aber wir müssen soziale Hilfen auf die Menschen begrenzen, die bei OFARIN arbeiten und lernen. Sonst versinkt unser Tun im Meer der sozialen Nothilfe, die überall in Afghanistan nötig wäre.

Der Besuch in Schindowal fand am Anfang unseres Aufenthaltes in Afghanistan statt. Unsere journalistischen Gäste beanspruchten unsere volle Aufmerksamkeit. Sie mussten viele andere Informationen sammeln. Als sie nach anderthalb Woche abreisten, verschafften wir uns einen Überblick über das, was wir selber vorhatten. Richtig! Wir wollten Aufenthaltsvisa beantragen. Erst jetzt stellten wir fest, dass Id unmittelbar vor der Tür stand. Das hätte alten Fahrensleuten nicht passieren dürfen. Das nahe Id war das Opferfest, das sich an die Hadsch, die Pilgerfahrt nach Mekka, anschließt. Es ist das größte Fest des Islam. Zusammen mit dem unmittelbar vorausgehenden Feiertag Arafa bildet Id einen Komplex von vier Feiertagen. Die haben allerdings ihre privaten Vorläufe. Zu Hause muss man vieles vorbereiten und putzen. Auch nach den offiziellen Feiertagen kehrt nicht jedermann sofort wieder an seinem Arbeitsplatz zurück.

Und so fanden unsere Mitarbeiter die hohen Herrschaften, die unser Gesuch um ein Aufenthaltsvisum hätten abstempeln müssen, nicht mehr in ihren Ministerien. Ein Aufenthaltsvisum war nicht mehr zu bekommen. Unser Einreisevisum blieb die rechtliche Grundlage unseres Aufenthalts. Und das lief noch während der Id-Tage aus. Wir müssen unsere Rückreise schon am Donnerstag, den 22. Juli, antreten und sind danach wieder in Deutschland erreichbar.

Markus Wanzeck hat uns gerade den Artikel für die Frankfurter Rundschau zwecks Korrektur zugeschickt. Leider musste er den wegen der bis dahin nicht mehr erwarteten Olympiade kürzen.

 

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